Abstract [de]: In einer freien und offenen Gesellschaft ist es unverzichtbar, sich seinen eigenen sowie den gesellschaftlichen Werten bewusst zu sein. Denn Werte dienen immer auch zur Orientierung – sie sind also Grundlage, sich in einer pluralistischen Welt wie der unseren ohne autokratische Vorgaben zurechtzufinden. Was sind jedoch die grundlegenden Werte in unserer heutigen Gesellschaft? Ulrich Hemel zeigt die wesentlichen ethischen Vorstellungen in Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft auf.


Juni 2008

Die Bedeutung ethischer Werte in der Zukunft

Festvortrag Landsberg, 21. Juni 2008

Meine sehr verehrten Damen und Herren, hohe Festversammlung, 

wir leben in einer aufregenden Zeit. Die von Karl Popper geforderte „offene Gesellschaft“ muss sich freilich auch heute noch gegen ihre Feinde zur Wehr setzen, denn die Alternative zu einer friedlichen und freien Gesellschaft ist eine irgendwie geartete autokratische Bevormundung. 

Der Wert des friedlichen Zusammenlebens in Freiheit mündet automatisch in der Frage nach dem verbindenden Rahmen. Menschen, Familien, Vereine, Wirtschaftsfirmen, Parteien und auch Gesellschaften müssen angesichts der Vielfalt von Individuen und Interessen grundsätzlich danach fragen, welches Verhalten wünschenswert oder wenigstens akzeptabel ist und wo die Grenze zum Unerwünschten, Unerlaubten und negativ zu Sanktionierenden verläuft. 

Meine Damen und Herren, das sind enorm schwierige Fragen, die sofort die Frage nach ethischen Werten nach sich ziehen! Verhaltenssteuerung im engeren Sinn kann nämlich entweder durch Kontrolle und äußeren Druck wie etwa in einer Diktatur oder aber durch das innere Magnetfeld gemeinsam aufgebauter Werte erfolgen! 

Wenn wir beispielsweise alle der Meinung sind, zur Bildungsgerechtigkeit gehören gleiche Chancen für Jungen und Mädchen, dann werden wir Mittel und Wege suchen, um dieses Ziel zu realisieren; und in unserem Bildungssystem haben wir das weitgehend erreicht. Was aber muss passieren, damit wir das gleiche Ziel unabhängig vom Bildungsstand der Eltern erreichen? Bedeutet Bildungsgerechtigkeit dann, den Kindern von Hartz-IV-Empfängern etwas Spezifisches zu geben oder eher, den Kindern von Akademikereltern den Zugang zur knappen Ressource höherer Bildung zu verwehren? 

Wir kommen hier also sofort zur gesellschaftlichen und politischen Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Antworten auf diese Frage sind abhängig von unseren ethischen Werten. Dies gilt auch für politische Antworten, denn Gesetze spiegeln – mit einem gewissen Zeitverzug – die in einer Gesellschaft aktuell herrschenden Wertvorstellungen. Aus diesem Grund möchte ich zunächst auf unsere Ausgangslage zu sprechen kommen. 

1. Die gesellschaftliche Ausgangslage in Deutschland 2008 

Die besondere Herausforderung heute liegt darin, dass wir in einer freien Gesellschaft mit ungeheuer vielen, konkurrierenden religiösen und politischen Werten leben. Dies erzeugt ein in dieser Intensität neues Phänomen, das ich gesellschaftlichen Orientierungsstress nennen möchte. Es bedeutet, dass weder für einzelne noch für gesellschaftliche Gruppen klar ist, wohin die Reise geht und welchen Raum gemeinsamer oder individueller Orientierung wir für uns als Gehäuse der Zukunft wählen wollen. 

Besonders deutlich wird dieser gesellschaftliche Orientierungsstress bei jungen Menschen zwischen 15 und 20 Jahren. Wer Umgang mit ihnen hat, erfährt fast flächendeckend, dass für sie völlig unklar ist, welchen Beruf sie wählen und wofür sie ihre Lebensenergie einsetzen sollen. Glücklicherweise klärt sich die Frage im Lauf der Zeit, aber sie ist symptomatisch für die gegenwärtige Situation in unserem Land! 

Verschärft wird die Situation durch die enorme gesellschaftliche Vertrauenskrise, die wir erleben: Wir stehen kollektiv vor einer Erosion des Vertrauens zwischen Gesellschaft und Politik, zwischen Wirtschaft und Gesellschaft. 

Parteien, Kirchen und Gewerkschaften sind in der Krise. Der große Zusammenhang der Globalisierung wirkt auf viele Menschen in unserem Land eher bedrohlich. Halt gibt, so scheint es, nur noch der überschaubare Bereich der Familie und der regionalen Verwurzelung, zu der sicher auch das Engagement im örtlichen Lions-Club gehört und gehören darf! Die Renaissance der Familien- und Sozialpolitik in unserem Land hat sicherlich mit solchen gesellschaftlichen Suchbewegungen zu tun! 

Die Bedeutung ethischer Werte wird in einem solchen Kontext eher zu- als abnehmen. Wer gerne vom „Werteverfall“ spricht, wird sich über diese Aussage vielleicht wundern. Persönlich spreche ich auch lieber von einer Wertetransformation, also einer Veränderung in der Bedeutung einzelner Werte. Es lohnt sich aber, im Zusammenhang mit unserem Thema etwas genauer darauf zu schauen, was Werte eigentlich sind und sein können (1). Anschließend werde ich auf das Thema „Werte in der Wirtschaft“ eingehen (2). Schließlich möchte ich einige gesellschaftliche Kernwerte auf ihre Zukunftsfähigkeit hin beleuchten (3). 

2. Wege aus dem Chaos: Die Funktion und der Wert von Werten 

In der Flut der Möglichkeiten geben Werte eine gewisse Orientierung im Denken und Handeln. Man kann sie mit einem mathematischen Vektor vergleichen, der eine Vorzugsrichtung in einem gegebenen Feld symbolisiert. Werte haben unmittelbar mit unseren Handlungen und Haltungen zu tun. 

Machen wir ein Beispiel. Einige von ihnen treiben regelmäßig Sport. Das bedeutet, dass Sie irgendwann einmal angefangen und beispielsweise den Vorsatz, an diesem Tag eine Runde zu laufen, in die Tat umgesetzt haben. Wenn Sie das regelmäßig machen, wird aus der einzelnen Handlung so etwas wie eine Haltung. Und irgendwann würde ihnen etwas fehlen, wenn sie nicht ihre tägliche Runde laufen könnten. 

Das bedeutet im Klartext: Wiederholte Handlungen bilden die Brücke zu gelebten Haltungen. Und Haltungen sind die Quelle konkreter Handlungen. Aus dem gleichen Grund ist keine einzige unserer Handlungen vollkommen spontan. Sie steht nämlich immer und grundsätzlich im Zusammenhang mit dem Gefüge unserer bisher schon erworbenen Haltungen! 

Werte sind, biologisch gesehen, ein Teil der evolutionär nötigen Orientierungskompetenz in der Welt. Sie erlauben uns eine Ordnung des Denkens, eine Ordnung der Dinge, eine Ordnung der Welt und eine Ordnung des eigenen Tuns. Bei der biologischen Orientierung geht es zunächst um Vitalfunktionen, um die Orientierung zwischen „gefährlich“ und „ungefährlich“, „Nahrung spendend“ und „ungenießbar“, „angenehm“ und „unangenehm“ und dergleichen mehr. 

Auf einer höheren Ebene der Orientierung geht es um die Frage: Wer bin ich? Zu wem gehöre ich? Was für eine Art von Ort ist diese Welt, in der ich lebe? Es geht mit anderen Worten- um die elementare Funktion der Selbst-und Weltdeutung. Und genau hier finden wir in allen Kulturen der Welt unterschiedlichste Formen der Selbst- und Weltdeutung, angefangen von der Vielfalt der Sprachen bis hin zu den Schöpfungs- und Weltentstehungsmythen der Völker und schließlich bis zu den bekannten Hochreligionen. Bis heute lässt sich sagen, dass Menschen sich und ihre Welt entweder im Licht religiöser Anschauungen wie etwa im Christentum oder im Licht säkularer und nicht-religiöser Interpretationen wie etwa in bestimmten Formen des Humanismus deuten. Welche Werte im Vordergrund einer Weltdeutung stehen, das hängt stark vom kulturellen und geschichtlichen Kontext ab. So ist es kein Wunder, dass etwa die biblischen Gleichnisse Jesu sehr häufig mit landwirtschaftlichen Bildern arbeiten. Schließlich gab es im Palästina der Zeit Jesu noch keine entwickelte Industriegesellschaft. 

Wesentlich ist hier, dass bestimmte Werte zwar praktisch universell auftauchen, aber doch höchst unterschiedlich interpretiert werden. Werte sind schließlich niemals von ihrer funktionalen Bedeutung unabhängig. Im Zeitalter der Just-in-time-Belieferung hat Pünktlichkeit einen völlig anderen Stellenwert als in der steinzeitlichen Stammesgesellschaft. 

Politischer und gesellschaftlicher Streit entzündet sich regelmäßig am Wert von Werten. Was dem einen unverzichtbar erscheint, ist für den anderen überflüssig. Doch wer von beiden hat recht oder erhält recht? 

Hier hat sich im Lauf der Zeit ein Werkzeugkasten für individuelle und gesellschaftliche Entscheidungen herausgebildet, den ich Ihnen kurz vorstellen möchte, bevor wir auf die Anwendungsfelder von Werten übergehen. Es handelt sich um das Prinzip der Güterabwägung und den Aspekt der Achtung der Würde des anderen durch Verfahrensrationalität. 

Was ist damit gemeint? Fakt ist ja, dass Werte gewissermaßen in Konkurrenz zueinander stehen. Auch hier ein praktisches Beispiel: Ich habe eine große Familie, und heute und morgen findet unser jährliches Familienfest statt. Andererseits wurde der Termin dafür erst dann vereinbart, als dieser hier längst stand. Den Konflikt habe ich also auf individueller Ebene dadurch gelöst, dass ich sage: Ich stelle die Zuverlässigkeit meines Wortes dann höher als den Familiensinn, wenn sich dies aus dem Ablauf der Terminierung so ergibt. Anders wäre es natürlich in einem akuten Notfall in der Familie! 

Werte führen uns also tagtäglich in ein ethisches Entscheidungsdilemma. Zuerst kommt die Frage: Wie deute ich die Situation überhaupt? Anschließend geht es darum, wie sinnvoll zu entscheiden ist. Dabei bedeutet Güterabwägung ein Verfahren, bei dem ich das Für und Wider aufzähle und auf die beiden Seiten der Waagschale verteile. Anschließend bewerte ich die einzelnen Argumente nach ihrem Gewicht. Grundsätzlich gilt dabei die Regel, dass am Ende das größere Gut oder das geringere Übel zu wählen ist. 

Was dies aber für den einzelnen bedeutet, ist höchst unterschiedlich. Und wir kommen nicht umhin- weder in der Familie noch in größeren Gruppen oder gar in der Politik- schlichtweg festzustellen, dass die eigene Meinung nicht immer auf das Wohlgefallen anderer trifft und dass selbst hervorragende Argumente von anderen nicht immer so aufgegriffen werden, wie wir es uns wünschen. 

Eine offene und demokratische Gesellschaft entwickelt sich an diesem Punkt auf der Grundlage der Verfahrensrationalität. Dies bedeutet, dass wir aus Respekt vor der Würde des anderen diesem unsere Meinung nicht mit Gewalt aufdrängen, sondern formale Spielregeln finden und erfinden, die eine Entscheidung ermöglichen. Will der eine Teil einer Familie Urlaub im Gebirge, der andere am Meer, dann findet man entweder einen Kompromiss- oder es entscheidet eine Mehrheit. Damit wird nicht gesagt, dass der einzelne seine Präferenz aufgeben muss. Er muss sich lediglich auf die Spielregel einlassen, die am Ende zu einer Handlungspräferenz führt. 

Damit sind die Probleme keineswegs gelöst. Die Frage nach dem Umgang mit Minderheiten, die Suche nach der besten Lösung, der Streit in Richtung vertretbarer Kompromisse- all dies sind Ausprägungen der nötigen gesellschaftlichen Aufmerksamkeit über die Auslegung zentraler Werte. 

Dabei wird über die sachliche Richtigkeit einer verfahrensrational getroffenen Entscheidung noch gar nichts gesagt. Die Zumutung der Verfahrensrationalität liegt darin, dass wir uns m gesellschaftlichen Raum an entsprechende Entscheidungen auch dann halten müssen, wenn wir sie aus guten Gründen für falsch halten. Gerade Religionsgemeinschaften haben manchmal Schwierigkeiten mit diesem Grundsatz. 

Das Ringen um den richtigen Weg ist daher auch niemals zu Ende. Nur wäre es eben keine Alternative, den eigenen Argumenten mit Gewalt und Macht zum Durchbruch zu verhelfen. Andererseits dürfen wir nie vergessen, dass wir zwischen der Orientierungsfunktion und dem funktionalen Wert von Werten und dem „inneren Gehalt“ von Werten gut unterscheiden müssen! Werte gehen in ihren funktionalen Zwecken und selbst in ihren Instrumentalisierungen nicht auf, sondern gehen darüber hinaus, um in der Frage zu münden: Wer sind wir? Und wie sollen wir leben? 

Meine Damen und Herren, je komplexer die Welt wird, umso wichtiger werden ethische Werte. Umso schwieriger ist es aber auch, sie auf die konkrete Wirklichkeit anzuwenden. Im nächsten Abschnitt möchte ich genau dies etwas ausführlicher tun und lade Sie ein, mit mir die Frage nach der Bedeutung von Werten und ethischen Mindeststandards in einem hoch umstrittenen Bereich, dem Wirtschaftsleben, nachzudenken. 

3. Ethische Mindeststandards und die Bedeutung ethischer Werte in der Wirtschaft 

Wirtschaft entsteht aus dem zielbewussten Handeln von Personen, Unternehmen und Institutionen. Vorausgesetzt wurde dabei das Bestehen einer tragenden Infrastruktur, die im Wesentlichen durch die Gesellschaft, den Staat, aber auch überstaatliche Institutionen wie etwa die Vereinten Nationen, die Europäische Union, die Weltgesundheitsorganisation WHO, die NATO und viele mehr bestimmt werden. 

Weitet man den Blick auf die Gesamtheit aller Akteure, zeigt sich die unvermeidbare, aber auch unübersichtliche Verflochtenheit von Wirtschaft und Politik, von Gesellschaft und Religion, von regionaler und nationaler Verwurzelung und globalisierten Einflüssen, von Einzelinteressen und gegenläufigen oder unterstützenden Kräften in Wirtschaft und Gesellschaft. Ist es angesichts der internationalen Verflechtung überhaupt legitim und sinnvoll, von Werten und Normen des wirtschaftlichen Handelns zu sprechen? Zeigt die Globalisierung unserer Welt eher Chancen oder eher Risiken für eine universalistische Betrachtung auf`? 

So sehr sich Umgangsformen, kulturelle Prägungen, Gesetzgebungswerke und historische Entwicklungsstände im Wirtschaftsleben auf der Welt unterscheiden, so deutlich zeigt sich auf der anderen Seite ein erstaunlicher Konsens darüber, dass ethische Mindeststandards wünschenswert sind, dass es im Wirtschaftsleben allgemein verbindliche Werte und daraus abgeleitete Normen und Spielregeln geben sollte. Je konkreter Normen und Spielregeln benannt werden sollen, umso weiter gehen Meinungen und Interessen verständlicherweise auseinander. Die Divergenz konkreter Interessen und Auslegungsformen von Werten lässt sich jedoch nicht als Argument gegen universell sinnvolle und gültige Werte aufbauen. Einige Werte möchte ich dabei speziell beleuchten. 

3.1 Vertrauen als Kernwert des Wirtschaftens 

Nehmen wir den Grundwert des Vertrauens. Wer mit Anderen Geschäfte macht, muss ein Mindestmaß an Vertrauen aufbringen. Im einfachsten Fall muss er glauben und unterstellen, dass der Busfahrer eines Linienbusses nicht heimlich eine Entführung plant (was ja immerhin schon einmal vorgekommen ist), dass die Bäckereiverkäuferin das verkaufte Brot nicht heimlich vergiftet hat, dass die vom Energieversorger gelieferte Stromrechnung sich tatsächlich auf den gelieferten Strom bezieht, ohne dass dieser unterwegs angezapft wurde (wie es in bestimmten Ländern häufig vorkommt) und dass es ein Verhandlungspartner mit der Qualität der gelieferten Ware bei Vertragsschluss ernst meint. 

Hinter dem für jede Geschäftsbeziehung unverzichtbaren Wert des Vertrauens stehen Grundwerte wie Sicherheit, Verlässlichkeit und Wahrhaftigkeit. Vertrauen hat schließlich auch den Aspekt des Risikos, denn es kann enttäuscht und missbraucht werden. Wenn Menschen in einem Unternehmen zu einer Besprechung zusammen kommen, wird es keine Sicherheitskontrolle wie auf einem Flughafen geben, da jeder dem anderen unterstellt, ohne Waffe zu einer Besprechung zu kommen. Je anonymer und massenhafter eine soziale Situation ist, desto ungeschützter ist der einzelne Mensch, wenn es um seine Sicherheitsbedürfnisse geht. 

Wirtschaftlich gesehen, erhöhen Kontrollen die Transaktionskosten. Sie schaffen höchstens ein Gefühl der Sicherheit, sind aber nicht hinreichend für das Schaffen von Vertrauen. Umgekehrt gilt sehr wohl, dass Vertrauen grundsätzlich ein Mindestmaß an gefühlter Sicherheit enthält. Es hat darüber hinaus aber auch personale Aspekte, etwa die Unterstellung der Wahrhaftigkeit und Folgerichtigkeit von Aussagen des anderen, die Verlässlichkeit der Erfüllung eines Leistungsversprechens und vieles mehr. 

Leistungsstörungen sind daher immer auch eine Erschütterung des Vertrauensverhältnisses zwischen Geschäftspartnern. So ist es zwar aus einer enggeführten finanziellen Perspektive möglicherweise zweckmäßig, Lieferantenrechnungen – so wie es der eine oder andere Großkonzern tatsächlich handhabt- grundsätzlich erst nach der ersten Mahnung zu bezahlen. Gleichwohl untergraben solche Praktiken das nötige Mindestvertrauen in das Gleichgewicht zwischen Leistung und Gegenleistung. Darüber hinaus werden mittelfristig Korrekturfaktoren wirksam, weil Lieferanten anfangen werden, die stillschweigende Kreditgewährung über einen gar nicht vereinbarten Zeitraum in ihre Kalkulation einzubeziehen. Damit beginnt aber ein Spiel, das man die Abwärtsspirale des Vertrauens nennen könnte. 

Eine solche Abwärtsspirale des Vertrauens gibt es im Verhältnis zwischen einzelnen Personen, zwischen Unternehmen, aber auch bei Interaktionen mit staatlichen Instanzen. Die Erosion des Vertrauens führt aber über kurz oder lang zu krisenhaften Erscheinungen, zu spektakulären Missbrauchsfällen, zum Ruf nach schärferer Kontrolle und zur allgemeinen Verwilderung der Sitten und Gebräuche.

Vertrauen zeigt sich hier auch als besondere Spielart von zukunftsgerichteter Wahrhaftigkeit. Im Verhältnis zwischen Markenartikelherstellern und Endkunden zeigt sich dies am Beispiel des erfüllten oder nicht erfüllten Leistungsversprechens einer Marke. Eine Marke steht für eine bestimmte Qualität, und genau diese erwartet der Verbraucher auch. Wenn Qualitätsprobleme auftauchen oder etwa Etikettenschwindel betrieben wird, weil Versprechen nicht eingehalten werden, kommt es zum Vertrauensverlust-etwa im Fall des berühmten Elchtests mit der A-Klasse. Umgekehrt erringt derjenige Marktteilnehmer Wettbewerbsvorteile, der durch Liefertreue und durch konstante Qualität im vereinbarten Rahmen Vertrauen beim Endverbraucher oder bei sonstigen Kunden erwirbt und erhält. Dabei geht es nicht immer um 100% Fehlerfreiheit. 

Vertrauen und Risikobereitschaft haben letztlich auch mit der Bedeutung eines Vorgangs oder eines Geschäfts für die handelnden Personen zu tun. Wenn ein Patient dem Arzt berichtet, er habe furchtbare Angst vor seiner Blinddarmoperation, wird er wenig beruhigt sein, wenn der Arzt ihm antwortet: „Machen Sie sich keine Sorgen, für mich ist es auch die erste Blinddarmoperation“. 

Vertrauen zeigt damit aber auch den Wert von Erfahrung und von langjährigen Geschäftsbeziehungen, die durch viele, und gelegentlich vielleicht auch schwierige Erfahrungspunkte gesättigt sind. 

3.2  Der Wert transparenter Kommunikation 

Vertrauen auf der Grundlage von Wahrhaftigkeit führt in den Bereich eines zweiten, wesentlichen Grundwerts hinein, den ich mit transparenter Kommunikation bezeichnen möchte. Geschäfte ohne Kommunikation über die gegenseitigen Erwartungen und Anforderungen funktionieren nicht – es sei denn, sie beruhen auf dem Grundschatz langjähriger Erfahrung. Wenn jemand seit langer Zeit Stammgast eines Restaurants ist und grundsätzlich Bordeaux trinkt und Rinderbraten bestellt, weiß der Kellner bereits beim Eintreten des Gasts, was er servieren soll. Vorausgegangen sind aber zahlreiche Datenpunkte, die eine hinreichende Sicherheit für eine solche Handlungsweise vermitteln. 

Die Anforderungen an transparente Kommunikation hängen naturgemäß auch von der Art und der Bedeutung eines Geschäfts oder einer Geschäftsbeziehung ab. Je größer die handelnden Organisationen – etwa beim Bau eines Kraftwerks – sind, umso aufwändiger ist der Klärungsprozess der wechselseitigen Erwartungen. Da gibt es dann kiloweise ausgearbeitete Verträge und Spezifikationen. Trotz aller Formalität handeln aber am Ende Menschen miteinander, die vom Gesamtbild her davon überzeugt sein müssen, dass die andere Seite ein unter dem Strich glaubwürdiger und verlässlicher Partner ist-jedenfalls so weit, wie es das Geschäft im Einzelnen erfordert. 

Transparente Kommunikation erzielt dort ihre beste Wirkung, wo andere Beteiligte weder unter Informationsüberfluss noch unter Informationsstau leiden, sondern wo ihnen ein kleines Stück mehr an Information und Kommunikation zukommt, als es die formale Ausübung einer bestimmten Rolle erfordert. Wer nur so viel kommuniziert, wie er wirklich muss, wird beim anderen eher Misstrauen wecken. Wer andererseits zu viel erklärt, an zu vielen Details hängen bleibt, überfordert die andere Seite und macht es den Gesprächspartnern schwer, das große Bild im Auge zu behalten. Anders gesagt-man sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. 

Transparente Kommunikation ist daher eine Frage des richtigen Maßes, aber auch der persönlichen Stimmigkeit zwischen „Vorher“ und „Nachher“, zwischen „Angekündigt“ und „Realisiert“, zwischen „Erwartet“ und „Eingetroffen“. Die Welt wird zwar durch transparente Kommunikation nicht planbarer, aber solche Kommunikation hilft, mit der Unplanbarkeit der Welt umzugehen. Es ist ja immerhin möglich, Erwartungen mit einer Risikoeinschätzung, einer Bedingung oder einem Vorbehalt zu äußern, wenn die Unsicherheit über das Eintreten eines Ereignisses groß ist. Auch in Krisensituationen und bei hoher Ungewissheit gilt: Was jemand sagt, muss wahr sein. Niemand kann es einem Menschen verübeln, nicht alles zu wissen oder über zukünftige Ereignisse nicht genau informiert zu sein. Problematisch wird es nur dann, wenn Sachverhalte als sicher dargestellt werden, die es gar nicht sind oder wenn über Menschen verfügt wird, ohne sie vorab einzubeziehen oder mindestens anzuhören. 

Trotz möglicher Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung der Zielwerte „Vertrauen“ und „Transparente Kommunikation“ bilden sie einen ethischen Mindestkanon, der universell von Bedeutung ist und den jeder im Wirtschaftsleben Beteiligte in Konfliktfällen aus seinem Verständnis heraus ansprechen und ein Stück weit „einklagen“ kann. Obwohl in der Wirklichkeit jeden Tag Enttäuschungen vorkommen, Vertrauen erschüttert oder zerstört wird und Kommunikationsprozesse deutlich ungeschickter laufen, als es sinnvoll wäre, zeigt sich der konsensbildende Wert eines Mindeststandards an „Vertrauen“ und „transparenter Kommunikation“ darin, dass es umgekehrt praktisch gar nicht vorstellbar ist, dass ein Unternehmer für sich in Anspruch nehmen wolle, Vertrauen zu zerstören oder bewusst schlecht und irreführend zu kommunizieren. 

3.3 Die ethischen Imperative der Strategie und der optimalen Wertschöpfung 

Während Vertrauen und transparente Kommunikation auch in vielen anderen Lebensbereichen eine bedeutende Rolle spielen, verweisen zwei weitere Grundwerte unternehmerischen Handelns auf die spezifische Eigendynamik und Zielausrichtung des wirtschaftlichen Feldes. Es handelt sich um den ethischen Imperativ der Strategie und das Erfordernis der optimalen Wertschöpfung. Ich werde diese daher nur sehr kurz erläutern. 

Nun werden die meisten Unternehmen einer expliziten oder impliziten Unternehmensstrategie folgen. Sie werden auch von sich behaupten, Wertschöpfung zu leisten- schon weil sie anders langfristig gar nicht überleben könnten. Neuartig ist aber die Betrachtung dieser beiden Forderungen als ethische Werte. 

So wie der Wert des Vertrauens eng mit Wahrhaftigkeit und der Wert transparenter Kommunikation unmittelbar mit dem richtigen Maß zusammenhängt, so zeigt sich das Feld wirtschaftlichen Handelns letzten Endes als Feld zweckrationaler Gestaltung mit überwiegend zielgerichteten Handlungen. Ziel ist die Befriedigung von Kundenbedürfnissen im Rahmen eines vorgegebenen Raums aus Gesetzen, Normen und Spielregeln, gleichzeitig aber auch das Erwirtschaften eines angemessenen Gewinns für ein Unternehmen. Wer nur Gewinn betrachtet, ohne auf Wertschöpfung und Kundennutzen zu achten, wird sich als Unternehmer und Unternehmen nicht lange halten. 

Weil Wirtschaft ebenso wie Gesundheit, Erziehung, Politik, Sport oder Familie einen eigenen, großen Lebensbereich darstellt, ist es auch nachvollziehbar, dass es für diesen Bereich spezifische Werte gibt, die zur Sachgerechtigkeit des Wirklichkeitsbereichs Wirtschaft gehören. Diese Werte sind durch die Forderung nach einer Strategie und nach Wertschöpfung zum Ausdruck gebracht. 

Anders gesagt: Wer ein Unternehmen ohne Strategie führt, führt sein Unternehmen nicht gut. Das Wort „gut“ ist hier sowohl im professionell wertenden Sinn als auch im ethischen Sinn gemeint. Unternehmenskrisen sind daher häufig Orientierungs- und Strategiekrisen- aus welchen Gründen auch immer. Wenn man sich einen Tankwart vorstellt, der noch persönlich hinter der Kasse steht und auch kleine Dienstleistungen wie die Prüfung des Luftdrucks im Reifen u.a.m. verrichtet, dann braucht dieser vermutlich keine Unternehmensberatung, um eine ausgefeilte Strategie für sich und seine wenigen Mitarbeiter niederzulegen. Er lebt die Strategie „Kundenbindung durch persönliche Dienstleistungen“ vor – selbst wenn er mit dem Wort Kundenbindung womöglich gar nichts anfangen kann. Verkauft der gleiche Tankwart mit 61 Jahren aufgrund bestimmter persönlicher Pläne seine Tankstelle an einen Konzern, verändert sich sein Feld entscheidend. Auch wenn er seine Tankstelle weiter betreut, wird er sich doch mit der Strategie des Konzerns auseinandersetzen müssen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese mit dem Stichwort „Kundenbindung durch persönliche Dienstleistungen“ umschrieben wird – schon deshalb, weil die Erfüllung eines solchen Leistungsversprechens in einem filialisierten Betrieb eine konsistente Qualität in der Kundenansprache voraussetzt, die schwer umzusetzen ist und die womöglich aus Konzernsicht gar nicht sonderlich ertragsstark wäre. 

Aus ethischer Perspektive bedeutet dies, dass Vertrauen und transparente Kommunikation nicht ausreichen, um dem professionellen Anspruch an gute Unternehmensführung zu genügen. Wenn ein Unternehmer sich als Christ versteht, bedeutet dies daher noch lange nicht, dass er dem ethischen Anspruch, der mit einer klaren Unternehmensstrategie und einer optimalen Wertschöpfung definiert ist, genügt. Schließlich geht es in einem Unternehmen nicht um Bekenntnisse politischer oder religiöser Art, sondern um die Eigengesetzlichkeit des Handlungsfeldes Wirtschaft. Im ethischen Bereich gilt daher genauso wie in der Rechtsprechung, aber auch in der Physik: Ein Gesetz gilt so weit, wie es gilt. Wer die Gesetze der Sachgerechtigkeit in der Wirtschaft außer Acht lässt, handelt mindestens fahrlässig, in der Regel aber auch ethisch unqualifiziert. 

Der Hintergrund liegt darin, dass wir als Menschen das gut tun sollten, was wir tun. Wer Kinder erzieht, sollte dies so gut tun, wie es ihm möglich ist. Wer Patienten operiert, steht unter dem gleichen Anspruch, dies möglichst gut zu tun. Für den wirtschaftlich tätigen Menschen gilt die gleiche Forderung. 

In einen praktischen Wert übersetzt, ist hier über Strategie hinaus die Forderung nach optimaler Wertschöpfung aufzustellen. Optimale Wertschöpfung richtet sich nicht immer an der höchst möglichen Qualität, sondern am gegebenen Leistungsversprechen aus. Es gibt nun einmal unterschiedliche Marktsegmente, und nicht jeder Autokäufer braucht einen Wagen der Oberklasse. Produkte müssen den geweckten Erwartungen und der vermuteten Zahlungsbereitschaft von Käufern entsprechen – nicht mehr und nicht weniger. Daher ist die Auslegung eines Produktes oder einer Dienstleistung keine einfache Frage. Überspitzt gesagt, wird es immer wieder der Fall sein, dass Produkte teuer hergestellte Eigenschaften enthalten, die der Kunde gar nicht recht braucht, während Features fehlen, die er sich wünscht. 

Gleichzeitig ist die sachliche und ethische Forderung nach optimaler Wertschöpfung stets auch ein dynamischer und schwer auszubalancierender Kompromiss zwischen Kostenbeherrschung und Leistungsangebot. Wenn ein Gasthaus die Portionen halbiert, spart der Wirt an den Materialkosten- aber auf Sicht bleiben womöglich die Kunden weg. Optimale Wertschöpfung ist die stete Suche nach dem bestmöglichen Kundennutzen beim höchst möglichen Gewinn und möglichst kostengünstiger Leistungserstellung. Diese schwierige Balance zeigt aber auch, dass nicht für jeden Menschen unternehmerische Begabung im Vordergrund der eigenen Leistungsmöglichkeiten steht. Aus dem gleichen Grund ist es unwahrscheinlich, ein ganzes Land mit einer Fülle von Ich-AG s zur Blüte zu bringen. 

3.4  Das Gesetz des „ethischen Minimums“ im Wirtschaftsleben 

Ethische Mindeststandards im Wirtschaftsleben sind nicht isoliert zu betrachten. Vertrauen, transparente Kommunikation, Strategie und optimale Wertschöpfung bilden ein Gesamtwerk, bei dem kein Element isoliert betrachtet werden sollte. Interessant ist hier der Gedanke des „ethischen Minimums“. Nicht jedes Unternehmen wird alle Dimensionen dieser ethischen Anforderungen in gleicher Weise ausfüllen. Wird jedoch ein gewisses Minimum bei einem der vier genannten Werte unterschritten, führt dies zu einer Störung des Gesamtunternehmens. Geht Vertrauen verloren – wie in der Vergangenheit bei Shell in Zusammenhang mit der Bohrplattform Brent Spar -, dauert es Jahre und kostet es Millionen, hier erfolgreich gegen zu steuern. Mangelnde Professionalität ist damit immer auch ein Stück ethisches Versagten vor dem Anspruch eines gewissen Bereichs der Lebenswirklichkeit-so wie auch ein unprofessioneller Arzt unethisch handelt, wenn er ohne hinreichende Qualifikation eine komplizierte Operation durchführt.

Das Führen eines Unternehmens ist aus diesem Verständnis heraus sowohl eine professionelle als auch eine ethische Aufgabe. Mir sind viele Unternehmer persönlich bekannt, die dies ebenso sehen und auch vorleben 

Das Gesetz des ethischen Minimums in den Bereichen Vertrauen, transparente Kommunikation, Strategie und optimale Wertschöpfung lässt sich mit dem Gesetz vom Minimum vergleichen, das der Chemiker Justus Liebig für die Versorgung von Böden mit Stickstoff, Kalium, Phosphor und Sauerstoff entdeckt hat. Fehlt es an einem bestimmten Minimum dieser Stoffe, kommt es zu Fehlentwicklungen im Pflanzenwuchs. 

Ähnlich kommt es zu Fehlentwicklungen und Leistungsstörungen, wenn in einem Unternehmen das Gesetz vom ethischen Minimum nicht mehr beachtet wird: Fehlt es am Vertrauen, leidet die Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, am Ende aber auch die Reputation des gesamten Unternehmens. Fehlt es an transparenter Kommunikation, kommt es zu Gerüchten, zu Fehldeutungen, vielleicht sogar zu Grabenkämpfen, aber auch zu fehlgeleiteten Kundenerwartungen, Missverständnissen mit Aktionären und vielen derartigen Begleiterscheinungen. Fehlt es an der Unternehmensstrategie, werden Profil und Kontur einer Firma unklar und diffus. Die Richtung fehlt oder wird zu häufig gewechselt, so dass eine klare Linie nicht mehr erkennbar ist. Fehlt es an der optimalen Wertschöpfung, werden Produkte zu teuer oder hergestellt oder über ein vertretbares Maß abgespeckt, so dass entweder die Rendite des Unternehmens leidet oder Leistungsversprechen im Markt nicht mehr erfüllt werden. 

Das ethische Minimum ist im Wirtschaftsleben ebenso unverzichtbar wie in der Gesellschaft überhaupt. Wird es missachtet und durch Skandale Stück für Stück verspielt, verlieren wir den sozialen Zusammenhalt und landen in einer gesellschaftlichen Abwärtsspirale. Umgekehrt muss jede Generation also dafür kämpfen, eine Aufwärtsspirale des Vertrauens zu erringen. Denn ein Gemeinwesen blüht umso mehr, je leichter es den Menschen fällt, gute Erfahrungen mit anderen zu machen und ihnen vertrauen zu können- ob in der Familie, im Wirtschaftsleben oder in der Politik. Ich möchte deshalb an dieser Stelle den Blick über die Wirtschaft hinaus weiten und auf die Bedeutung ethischer Werte in Politik und Gesellschaft eingehen. 

4. Die Bedeutung ethischer Werte in Politik und Gesellschaft 

Meine Damen und Herren, die vorhergehenden Ausführungen sollten zeigen, dass die Wirtschaft trotz aller Skandale auf ethische Werte gar nicht verzichten kann. Unternehmen sind trotz aller Krisen immer auch Weg- und Wertgemeinschaften. Sie sind dann erfolgreich, wenn sie wirtschaftlichen und ethischen Mehrwert schaffen. Der Begriff „ethischer Mehrwert“ bedeutet hier „Vertrauen schaffen, Vertrauen erhalten und Vertrauen mehren“. Denn aus einem Mehrwert an Vertrauen entstehen am Ende auch Kaufakte, die zum wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens führen. 

Dieser wirtschaftliche Erfolg ist aber nicht alles. Unternehmen sind und bleiben auf den Kontext ihrer Gesellschaft und die Kraft zum Setzen und Durchsetzen von Spielregeln angewiesen, die Aufgabe des Staates ist. Wirtschaft braucht- mit anderen Worten- Werte, die sie selbst nicht setzen kann (vgl. G. Gorschenek, Hrsg., Grundwerte in Staat und Gesellschaft, München 1977). 

Dies ist zugleich ein Plädoyer gegen eine vollständige ökonomische Liberalisierung der Lebenswelt. Jede Gesellschaft braucht politische Prozesse, um sich darüber zu verständigen, was erlaubt oder verboten sein soll. So sind die Regelungen zum Waffenbesitz in den Vereinigten Staaten wenig streng als in Deutschland oder der Schweiz, die Gesetze zum Umgang mit Marihuana in den Niederlanden anders gestaltet als in Frankreich oder Spanien. Der gesetzliche Rahmen ist eine wesentliche Kontextbedingung für wirtschaftliches Handeln – selbst dann, wenn sich einzelne Personen und Firmen darüber hinwegsetzen wollen. 

Gesetze entstehen ihrerseits in einem gesellschaftlichen und historischen Umfeld, das uns auch neue Herausforderungen stellt. Wir – und gerade wir als Lions – können als aktive Trägerinnen und Träger der Zivilgesellschaft die Politik nicht alleine damit lassen, irgendwelche Gesetze zu erlassen, die wir hinterher mit dem Brustton der Empörung kritisieren! 

Die Verständigung über die Bedeutung ethischer Werte in der Zivilgesellschaft ist eine entscheidende Zukunftsvoraussetzung für unser Land und für unsere Welt. Angesichts von Herausforderungen wie dem demographischen Wandel, verschiedenen ökologischen Katastrophen und der generellen Frage der Nachhaltigkeit unseres Lebens und Wirtschaftens ist es entscheidend, darüber nachzudenken, welche Werte für die Zukunft im Vordergrund stehen sollen! 

Dabei möchte ich auf drei Wertepaare besonders hinweisen: Familie und Nachhaltigkeit, Vertrauen und Verantwortung, Freiheit und Gerechtigkeit. 

4.1  Familie und Nachhaltigkeit 

Nicht umsonst möchte ich dabei mit den Werten Familie und Nachhaltigkeit beginnen. Die Familie ist und bleibt die Keimzelle der Gesellschaft, meine Damen und Herren! Sie ist und bleibt im Normalfall der primäre und der wesentliche Ort der Wertvermittlung. Sie verhilft jungen Menschen dazu, Wurzeln und Flügel zu gewinnen: Wurzeln, damit sie wissen, wo sie herkommen und wo sie stehen; Flügel, damit sie Zutrauen zu ihren Träumen gewinnen können! 

Auf dem Hintergrund von Orientierungsstress in der Gesellschaft, aber auch von Leistungsgrenzen staatlicher Sicherungs- und Sozialsysteme kommt der Familie ein zunehmender Stellenwert zu. Die Menschen in unserer Gesellschaft verstehen sehr wohl, was vor sich geht, und sie beginnen, sich darauf einzurichten, dass auch die Alterssicherung nur teilweise vom Staat geleistet werden kann. So spricht einiges dafür, dass Familienpolitik mehr denn je Zukunftspolitik sein wird! 

Die Familie ist im Übrigen der beste Garant für den heute so wesentlichen Wert der Nachhaltigkeit. Wenn wir beispielsweise an den Unterschied zwischen anonymen Konzernen und Familienunternehmen denken, dann entspricht es direkter Anschauung, wie intensiv das Wirtschaften im Kontext Familie auf Nachhaltigkeit angelegt ist, einfach weil der langfristige Erhalt des Unternehmens vor jeder Kurzfristbetrachtung im Vordergrund steht! Nachhaltigkeit gilt selbstverständlich auch für die Art des Wirtschaftens selbst, ob es sich dabei um die kräftige Förderung der Landwirtschaft auch und gerade in ärmeren Ländern, um das Thema CO² und Forstwirtschaft oder um die Frage einer künftigen Energiepolitik mit einem haltbaren Mix aus Energiequellen und Energieträgern geht! 

4.2 Vertrauen und Verantwortung 

Ein zweites Wertepaar in der Zukunftspyramide ethischer Spitzenwerte bilden die zentralen ethischen Werte Vertrauen und Verantwortung. Misstrauen kostet viel Geld, meine Damen und Herren. Wenn wir als Staat und Gesellschaft an grassierender Kontrollsucht leiden, können wir uns nicht mehr zukunftsgestaltend entfalten. Schon heute haben wir in großen Banken in ihren Compliance-Abteilungen über 1000 Mitarbeiter, die nichts anderes tun, als über die Einhaltung von Regeln zu wachen. Dies ist keine gesunde Entwicklung, aber sie zeigt uns die unschöne Rückseite der Erosion des Vertrauens zwischen Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Wo Misstrauen herrscht, geht Lebensqualität verloren und wird Unsicherheit zum beherrschenden Lebensgefühl. 

Im Kleinen können Sie das an manchen Schulen erleben, wo einzelne Lehrerinnen und Lehrer bei jeder schlechten Note, die sie vergeben, befürchten müssen, verklagt zu werden. Im Endeffekt führt dies zu einer ineffizienten Bürokratisierung der Schule. 

Und wenn Sie – etwas weiter weg – in Bogotá in Kolumbien, dem Herkunftsland meiner Frau, in ein Viertel mit angenehmen Wohnhäusern gehen, dann finden Sie diese typischerweise in abgegrenzten, ummauerten Vierteln mit einer eigenen Sicherheitskontrolle. Mangelnde gesellschaftliche Verantwortung der Eliten kann eben auch ihrerseits zu einer Erhöhung des Misstrauens, dann aber auch zu höheren Sicherheitskosten und zu schwindender Lebensqualität führen! 

Wir tun also gut daran, überall dort, wo es möglich ist, Vertrauen zu fördern. Dies setzt aber – und das ist typisch für einen reflektierten Umgang mit Werten – eine ausreichende Ausprägung des komplementären Wertes, nämlich Verantwortung, voraus. Da können wir wieder in der Familie anfangen: Ob Eltern ihrem 16-jährigen Sohn das Haus übers Wochenende überlassen, ohne großartige Partys mit Vandalismuseffekt zu erwarten, das hängt in erster Linie davon ab, ob zwischen Eltern und Sohn oder Tochter das entsprechende, verantwortungsabhängige Vertrauensverhältnis ausgebildet wurde! 

Vertrauen und Verantwortung zu fördern, das geht freilich über ein privates Programm weit hinaus. Es hat politische Brisanz! Wer Vertrauen fordert, muss zeigen, dass er verantwortlich handelt. Wer Verantwortung zeigt, hat es leichter, dass ihm Vertrauenswürdigkeit unterstellt wird! Meine Damen und Herren, es spricht vieles dafür, dass die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft genau davon abhängt, wie sehr und wie gut wir in der Lage sind, Vertrauen in unsere gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen zu haben und – korrespondierend- wie weit diese überhaupt in der Lage sind, verantwortlich mit diesem Vertrauen umzugehen! 

Jeder kehre vor der eigenen Tür, würde hier der Schwabe sagen. 

4.3 Freiheit und Gerechtigkeit 

Ich möchte aber nicht schließen, ohne das letztlich entscheidende Wertepaar zu erwähnen: Freiheit und Gerechtigkeit! Eine Zivilgesellschaft im Kontext der Globalisierung hat dann Zukunft, wenn sie jedem Einzelnen Handlungsspielräume der Freiheit einräumt, gleichzeitig aber auch zum Garanten vertrauenswürdiger Gerechtigkeit wird. 

Beide Werte stehen in Spannung zueinander, und die konkrete Auslegung, etwa in der Steuergesetzgebung, wäre eine abendfüllende Veranstaltung. Bei all dem dürfen wir aber nicht aus den Augen verlieren, dass Menschen ohne großen Traum letzten Endes degenerieren, Hoffnung und Schwung verlieren. Gerade angesichts von gesellschaftlichem Orientierungsstress müssen wir uns aufmachen und nach einem politischen, vom Gemeinwohl gedeckten Traum in dieser Gesellschaft, in diesem Deutschland, in diesem Europa suchen! 

Und, meine Damen und Herren, der Titel dieses Traumes kann nur Freiheit sein! 

Dabei geht es nicht um die sorglose Freiheit einer Haltung, die auf der Titanic Champagner trinkt und „nach mir die Sintflut!“ ruft. Vielmehr geht es, wie immer bei der tatsächlichen Umsetzung von ethischen Werten, um die richtige Balance zwischen Freiheit, Verantwortung und Gerechtigkeit. Wir in Deutschland hatten nach 1989 das große Projekt der Wiedervereinigung und haben es – analog zum Wiederaufbau nach dem Krieg – vor allem als Angleichung der Wirtschaftsleistung verstanden. In dieser Form hat das aber nicht funktioniert, vielleicht auch weil wir es versäumt haben, in einen wirklichen Dialog des Fragens und wechselseitigen Verstehens hineinzugehen. Der Dialog selbst – zwischen Ost und West, zwischen Jung und Alt, zwischen Arm und Reich – ist eine Grundvoraussetzung der Gerechtigkeit; und wem es an Dialogbereitschaft fehlt, der wird gesellschaftlich an Bedeutung verlieren. 

Gerechtigkeit darf – selbst vor dem Bundestagswahlkampf 2009 – nicht auf Fragen der sozialen Verteilung reduziert werden. Sie fängt dort an, wo ich den anderen als Person mit seiner einzigartigen Menschenwürde ernst nehme und mit ihm spreche von Mensch zu Mensch. Hier aber, meine Damen und Herren, sehe ich sehr wohl Nachholbedarfe in unserer Gesellschaft. Die Freiheit zum Dialog, die Freiheit zum Zuhören, die Freiheit, wirklich andere Stimmen ernst zu nehmen- diese Freiheit ist Teil der Gerechtigkeit, die zu einer menschenwürdigen Gesellschaft gehört. Und gerne füge ich in dieser Feierstunde dazu, dass die weltweite Lions-Bewegung einen ganz besonderen Beitrag zu einer freien, gerechten, aber auch dialogbereiten Welt leistet! 

Gerechtigkeit und Freiheit gehören zusammen; und als ethische Werte entwickeln sie genau dort große Zugkraft, wo es um das gemeinsame Projekt einer Gesellschaft geht. Nicht nur das innere Zusammenwachsen Europas, sondern auch die Frage nach einer Überwindung der weltweiten Armut, der wirklich effektiven, weltweiten Förderung von Demokratie und der Bewältigung der gigantischen ökologischen Herausforderung auf dem Planet Erde stehen hier im Vordergrund! 

Meine Damen und Herren, ich breche hier ab. Die Veranstalter haben nach der Bedeutung ethischer Werte in der Zukunft gefragt. Wie Sie vielleicht festgestellt haben, ist dieses Thema konkreter, als es auf den ersten Blick klingt, weil und obwohl die komplexer werdende Zeit uns Herausforderungen auferlegt, die über unser individuelles Leben herausragen und die nur im Rückgriff auf ethische Werte, die motivieren und zum Handeln bewegen, zu lösen sind. 

Insofern kann ich Ihnen allen nur wünschen, dass Sie darüber nachdenken, für welche Werte Sie sich selbst gerne mit Ihrer Lebenszeit und Lebensenergie einsetzen wollen- auch und gerade um die Gegenwart und die Zukunft zu gewinnen! 

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit – und die herzlichsten Glückwünsche zu Ihrem Jubiläum auch vom Lionsclub Blaubeuren-Laichingen! 

LITERATURHINWEISE

H.-F. Angel u.a., Religiosität. Anthropologische, theologische und sozialwissenschaftliche Klärungen, Stuttgart 2006. 

Bericht über die menschliche Entwicklung 2000, hrsg. von der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Bonn 2000 Der Fischer Weltalmanach 2008, Frankfurt/M. 2007 

Gustav Gorschenek, Hrsg., Grundwerte in Staat und Gesellschaft, München 1977.

Ulrich Hemel, Wert und Werte, Ethik für Manager- Ein Leitfaden für die Praxis, München 2007. 

Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt/M. 1999 

Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bern 1975 ( = The Open Society and its Enemies, 1945). 

Franz Josef Radermacher, Balance oder Zerstörung, Wien 2002. 

United Nations, World Economic and Social Survey 2001, New York 2001. 

World Health Organization, World report on violence and health, Genf 2002. 

Hans-Josef Wagner, Was sind die Energien des 21.Jahrhunderts?, Frankfurt am Main 2007. 

Ernst Ulrich von Weizsäcker, Erdpolitik, 4. aktualisierte Auflage Darmstadt 1994.


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Posted by Ulrich Hemel

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