Abstract [de]: Welthandel durch gerechten Tausch befördert Wohlstand – das ist eine der ältesten Erkenntnisse der Menschheit. Nur: Wer definiert, was gerecht ist? Der Umgang mit Subventionen für Agrarexporte oder der Zugang zu Rohstoffen sind Beispiele dafür, dass manchmal das Gesetz des Stärkeren zu gelten scheint. Umgekehrt wirkt das Überangebot an Arbeitskräften in der Weltbevölkerung in Mitteleuropa so, dass der Lohn- und Preisdruck der Globalisierung als “Konkurrenzdruck und Produktivitätspeitsche” wahrgenommen wird. Aus der Sicht des Einzelunternehmens wiederum geht es ums Überleben und dabei kommt es in einer Reihe von Märkten auch darauf an, wer als nächster aus dem Markt verschwindet. Im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach referiert Ulrich Hemel darüber, welche Chancen dann eine menschenwürdige Gestaltung von Arbeitsabläufen hat. Oder ist diese ihrerseits eine Chance für exzellente Produktivität? Welche Seite des Bildes ist eher die richtige: die mit dem Bedrohungsszenario oder die mit der Verheißung von Wohlstand und Erfolg?

 

August 2008

Konkurrenzdruck und Produktivitätspeitsche: Wo bleibt der Mensch?

 

get pdf: Konkurrenzdruck und Produktivitätspeitsche

 

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

wir alle wissen, dass unser heutiges Wohlstandsniveau ohne internationalen Austausch nicht zu halten wäre. Dies hängt damit zusammen, dass Welthandel durch gerechten Tausch Wohlstand befördert.

Ob die Tauschbedingungen allerdings wirklich gerecht sind, das ist eine andere Frage, und es lohnt sich, später noch näher darauf einzugehen.

 

1. Der Primat der Kooperation vor allem Wettbewerb

Zunächst einmal möchte ich im Rahmen der analytischen Arbeit des von mir geleiteten Instituts für Sozialstrategie allerdings darauf hinweisen, dass die Vorteile des Welthandels ja gerade im Wert der Kooperation zum wechselseitigen Nutzen liegen. Nicht jeder kann alles gleich gut, das wissen wir ja schon aus der eigenen Familie. Und kleine Einheiten zeigen uns ebenfalls auf: Es kommt mehr dabei heraus und macht auch mehr Spaß, wenn jeder das tut, was er besonders gut kann.

Auf der höheren Ebene eines Wirtschafts-und Gesellschaftssystems können wir hier von „Arbeitsteiligkeit und Spezialisierung zum wechselseitigen Nutzen“ sprechen. Es handelt sich zunächst einmal um einen kooperativen Ansatz des Wirtschaftens, und ich finde es wichtig, auf den ursprünglichen Zusammenhang der Kooperation hinzuweisen. Wir sind so daran gewöhnt, das Wettbewerbsdenken in den Vordergrund zu rücken und setzen uns so schon gewohnheitsmäßig eine sozialdarwinistische Brille auf, dass wir den anthropologischen Primat der Kooperation vergessen, der die Menschheit insgesamt erst erfolgreich gemacht hat.

 

2. Der Primat der Bedarfsdeckung vor dem Shareholder Value

In gleicher Weise möchte ich wirtschaftliches Handeln grundlegender betrachten, als es im Rahmen der gewiss notwendigen Analyse von Bilanzen und Jahresabschlüssen möglich ist. Wir wissen natürlich, dass die demographische Entwicklung der Menschheit immer auch mit technologischem und sozialem Wandel einhergeht. Jäger und Sammler wurden sesshaft; und schon bald gab es Konflikte zwischen Ackerbauern und Nomaden, wie wir sie -bildlich verdichtet- aus der biblischen Geschichte von Kain und Abel kennen.

Wenn jemand für den eigenen Bedarf jagt, ist das Maß an wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Spezialisierung noch gering. Ackerbau, so etwa vor über 5000 Jahren im Nildelta, ermöglicht Spezialisierung und Arbeitsteilung, erfordert aber auch erste juristische Spielregeln des Zusammenlebens. Nötig wird auch die gesellschaftliche Regelung von Konflikten, etwa um die Bewässerung von Feldern; schließlich bedroht es die eigene Existenz, wenn der eine dem anderen im wörtlichen Sinn das Wasser abgräbt.

Wenn in agrarisch geprägten Gesell- schaften produziert wird-und die gibt es etwa in Afrika noch heute-dann geht es überwiegend um den Eigenbedarf. Nur ein Teil der erzeugten Nahrungsmittel geht über den Tauschhandel in die Geld- wirtschaft über. In unserer Zeit, die fast durchgängig von monetären Maßstäben geprägt wird, ist es außerordentlich sinnvoll, mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass Geld nicht mehr und nicht weniger als ein Hilfs- und ein „Lebensmittel“ ist, das die Tauschfunktion erleichtert, sie aber nicht ersetzt. Anders gesagt, im Vordergrund des Wirtschaftens steht – anthropologisch gesehen- die Erfüllung von Bedürfnissen, nicht die Bereicherung durch Geld. Geld ist anthropologisch betrachtet eine Sekundärfunktion der Bedürfniserfüllung.

 

Was folgt aus diesen Betrachtungen? Ich möchte dies in drei Punkten zusammen- fassen und dann zum zweiten Teil übergehen:

1. Erste Grundlage und Ziel des Wirtschaftens ist der Mensch mit seinen elementaren und verfeinerten Bedürfnissen, nicht ein abstraktes Ziel wie Rendite oder Shareholder Value.

2. Erfolgreiches Wirtschaften beruht primär auf der Kooperation, der Arbeitsteilung und Spezialisierung im Sinn der optimalen Nutzung von Fähigkeiten und Fertigkeiten jedes einzelnen Menschen.

3. Die Monetarisierung des Wirtschaftens ist eine sehr späte und technisch ungemein hilfreiche soziale Einrichtung, die aber stets Mittel zum Zweck ist und nicht zum Selbstzweck hochstilisiert werden sollte.

4. Wettbewerb und Konkurrenzdruck sind im Vergleich zur wirtschaftlichen Kooperation Sekundärerscheinungen, die aber zielgerichtet zu verbesserten Leistungen und -im besten Fall- zu höherer Tauschgerechtigkeit führen.

 

Meine Damen und Herren, nun möchte ich mich dem Thema des Konkurrenzdrucks und der Produktivitätspeitsche zuwenden.

 

3. Konkurrenzdruck und der Wert des Wettbewerbs

Zum menschlichen Leben gehört es auch, dass wir uns mit anderen messen und vergleichen. Beobachten Sie einen beliebigen Schulhof: Da geht es darum, wer am schnellsten rennt, wer stärker oder wer schlagfertiger als andere ist. Der Sport erhebt den fairen Wettbewerb zum Leitprinzip, und es hat sich meines Wissens noch keiner darüber beklagt, dass es im Sport -beispielsweise bei einer Fußball-Europameisterschaft wie 2008- Sieger und Verlierer gibt.

Voraussetzung dafür sind allerdings klare Spielregeln und ein Schiedsrichter, der nicht durch Zufall auch „Unparteiischer“ genannt wird. Er gehört nämlich keiner der spielenden Parteien an, sondern soll über die Einhaltung der Spielregeln wachen. Genau dazu erhält er das Recht, mit seiner Pfeife in den Spielverlauf einzugreifen.

Wettbewerb unter fairen Bedingungen führt dazu, dass Stärken einzelner besser zur Geltung kommen und dass -bildlich gesprochen- der Beste gewinnt. Unter sozialgeschichtlicher Perspektive gilt solche wettbewerbsbetonte Arbeitsteiligkeit bis heute: So ist Deutschland nach wie vor führend in den Bereichen Automobil, Chemie, Logistik und Maschinenbau, aber deutlich zurückgefallen in Industrien wie der Pharmazie, der Software-Entwicklung oder dem Bankenwesen.

Auch zum Wettbewerb unter fairen Bedingungen gehören allerdings Verlierer. Wer im Fußball verliert, trainiert weiter und stellt sich dem nächsten Spiel. Wer als Volkswirtschaft und als Unternehmen verliert, steht möglicherweise vor der Existenzfrage.

Betrachten wir die Ebene einzelner Unternehmen, etwa in der Uhrenindustrie. Wenn es einen technologischen Wandel wie etwa den Trend zur Digitalisierung gibt, dann wird derjenige gewinnen, der sich ihm zum richtigen Zeitpunkt -also weder zu früh noch zu spät- stellt. Andere Unternehmen werden verlieren. Keine Gesellschaft kann sich leisten, schwache Unternehmen auf Dauer zu subventionie- ren. Sie scheiden aus dem Markt aus, im schlimmsten Fall mit der Folge erheblicher Arbeitslosigkeit.

Nun habe ich noch kein einziges Unternehmen gesehen, das in eine Re-Strukturierung oder in eine Insolvenz gerutscht wäre, weil die Raumpflegerinnen zu schlecht geputzt haben. Der Fisch stinkt vom Kopf her, und obwohl es schwierige Marktsituationen geben mag, so hängen Unternehmenskrisen doch in den meisten Fällen mit Managementfehlern zusammen.

Unternehmer haften dafür mit ihrem Kapital. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verlieren ihren Arbeitsplatz. Werden die Spielregeln eines fairen Wettbewerbs eingehalten, dann gehört die „schöpferische Zerstörung“ nach Schumpeter tatsächlich zu unserer Wirtschaftsordnung. Es ist allerdings Aufgabe der Gesellschaft, Spielregeln für solche Situationen zu finden und über deren Einhaltung zu wachen. Hier kommt die Forderung nach Solidarität und Gerechtigkeit ins Spiel, denn schließlich kann der einzelne Mensch nicht unbedingt für die Krise einer Branche oder eines Unternehmens verantwortlich gemacht werden.

Schützen kann sich der einzelne nur dadurch, dass er konsequent an seiner persönlichen Qualifikation arbeitet. Hier hat sich das Stichwort der „Employability“ durchgesetzt. Arbeitsteiligkeit und Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Kontext setzen also erneut etwas zutiefst Menschliches voraus: nämlich den Willen und die Fähigkeit, etwas zu lernen. Es ist daher nicht zufällig, dass „Bildung“ zum globalen Megathema des 21. Jahrhunderts geworden ist.

 

4. Fairer und unfairer Wettbewerb und die „Produktivitätspeitsche“

Nicht Wettbewerb, sondern Kooperation ist das erste Thema des Wirtschaftens. Gleichzeitig gehört der Wettbewerb im Sinn der Suche nach der besten, leistungsstärksten und kostengünstigsten Lösung zu jedem erfolgreichen Wirtschaftssystem. Wesentlich ist hier aber die Unterscheidung von fairem und unfairem Wettbewerb. Wir sind hier an die Brille nationaler oder allenfalls europäischer Spielregeln gewöhnt.

Es gibt aber auch die Frage nach globalen Spielregeln der Gerechtigkeit. Dazu gehört die schwierige Frage nach objektiven und subjektiven Kriterien der Menschenwürde. Ich möchte Ihnen dieses Thema aus zwei Perspektiven nahe bringen:

Anfang des Jahres war ich aus bestimmten Gründen in Burkina Faso, einem afrikanischen Land mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 400 Dollar. Das sind rund 20 Euro pro Monat. Ich kam an einem Baumwollfeld vorbei und hielt an, um zu fotografieren. Die Baumwollarbeiter wollten dafür ein wenig Geld, und wir kamen ins Gespräch. Sie erzählten mir, dass ihre Lohnkosten zu hoch wären (!), und dass die Baumwolle aus den USA billiger ins Land käme, als sie produzieren könnten.

Meine Damen und Herren, für mich war dies ein typisches Beispiel für unfairen Wettbewerb durch protektionistische Agrarsubventionen. (Und diese gibt es natürlich auch auf der Ebene der EU).

Ein zweites Beispiel: Textilien und Spielzeug werden nur noch im Ausnahmefall in Mitteleuropa gefertigt. China und Indien sind günstiger.

Dies führt zu zwei Überlegungen. Einerseits wird man es den Menschen in ärmeren Ländern nicht verwehren können und wollen, dass sie ihren Lebensunter- halt verdienen, selbst wenn dies zu Kosten von Arbeitsmöglichkeiten in Europa geschieht.

Auf der anderen Seite wird derjenige Hersteller einem unglaublichen Produktivitätsdruck ausgesetzt, der sich in einem schwierigen Wettbewerbsdruck behaupten muss und mit seinem Unternehmen überleben will. Die „Produktivitätspeitsche“ ist, so gesehen, ein Bild für Formen des internationalen Wettbewerbs, das vor allem die Sichtweise derer spiegelt, die sie als Angst und Druck im Nacken spüren. Dabei wird freilich oft vergessen, dass zur Produktivität nicht einfach das „schneller, höher, weiter“ gehört, sondern auch die Investition in Maschinen, die soziale Innovation in den Arbeitsabläufen bis hin zur Kultur eines Unternehmens. Es spricht sogar sehr viel dafür, dass sich eine attraktive Unternehmenskultur tatsächlich auch stark positiv auf die Produktivität auswirkt!

Es bleibt aber dabei: Bestimmte Tätigkeiten sind zu bestimmten Preisen nicht mehr zu erbringen. Die Gesellschaft steht also vor der Frage, wie sie mit den potenziellen Verlierern umgeht.

Ich möchte an dieser Stelle den Begriff der „gefühlten Menschenwürde“ einbrin- gen. Es ist nämlich belastend und ent- würdigend, wenn jemand einfach nur in die Arbeitslosigkeit abgeschoben wird, weil zu der für ihn möglichen Produktivi- tät keine Erwerbsarbeit zu finden ist. Dem Menschen entspricht es mehr, wenn er einen aktiven Beitrag leisten kann. Ohne dies hier vertiefen zu können, spreche ich mich aus diesem Grund für die negative Einkommensteuer aus, bei der Menschen etwas leisten können und zu ihrem Lohn einen „negative Einkommensteuer“ genannten Lohnzuschuss erhalten, der von den Unternehmen ausgezahlt wird. Ein solches Modell entlastet die Sozialkassen und schafft Arbeitsplätze.

Ich würde mich freuen, dieses Thema intensiver mit Ihnen erörtern zu dürfen und komme zum Schluss.

 

5. Globalisierungsdruck und Globalisierung der Gerechtigkeit

Meine Damen und Herren, Wettbewerb und Kooperation sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Globalisierung ermöglicht und bedroht Wohlstand. Letzten Endes ist sie Ausdruck eines stärkeren kooperativen Zusammenwachsens der Weltwirtschaft und in diesem Punkt zu begrüßen.

Gleichzeitig stellen sich mit ihr neue Fragen der Gerechtigkeit. Globalisierung hat das doppelte Gesicht von Verheißung und Bedrohung. Sie verlangt aber auch nach einer Globalisierung der Gerechtigkeit. Es nützt uns nichts, die Augen vor der neuen sozialen Frage weltweit zu schließen: Welche Spielregeln sind fair- über die eigenen nationalen Grenzen hinweg? Wie finden wir Entscheidungsregeln, um Globalisierungskonflikte zu lösen? Wie geht die Achtung vor der Menschenwürde einher mit dem Respekt vor der Besonderheit anderer Kulturen? Und wo ist die Grenze, die dann auch zur Grenze der Toleranz führt wie etwa bei der Beschneidung junger Frauen in manchen Ländern oder wie beim Scheitern der Staatsmacht wie in Zimbabwe unter Robert Mugabe?

Meine Damen und Herren, dies sind nur einige Fragen, die hier nur aufgeworfen, aber nicht beantwortet werden können. Wir wissen alle: Die Wirtschaft bestimmt unser Schicksal.

Ich möchte aber schließen mit der gleichen sozialanthropologischen Zielrichtung wie am Anfang dieses Impulsreferats: Das wirkliche Schicksal des Menschen ist der Mensch selbst.

 

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

 

 

LITERATUR:

André Habisch, René Schmidpeter, Mar- tin Neureiter (Hrsg.), Handbuch Corpora- te Citizenship für Manager, Berlin- Heidelberg 2008.

Ulrich Hemel, Wirtschaftlichen und ethischen Mehrwert schaffen, in: Uto Meier/B. Sill (Hrsg.), Zwischen Gewinn und Gewissen, Werteorientierte Personalführung und Organisationsentwicklung, Regensburg 2005, 144-156.

Ulrich Hemel, Wert und Werte, Ethik für Manager, 2 .erweiterte Auflage München 2007.

Peter Speck (Hrsg.), Employability- Herausforderungen für die strategische Personalentwicklung, 3. Aufl. Wiesbaden 2008.

Robert D. Putnam, Gesellschaft und Gemeinsinn, Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh 2001.

Franz Josef Radermacher, Globalisierung gestalten, Die neue zentrale Aufgabe der Politik, Berlin 2 .Aufl. 2006.

Alfred Schütz, Theorie der Lebensformen, Frankfurt/M. 1981.

Paul Strathern, Schumpeters Reithosen, Die genialsten Wirtschaftstheorien und ihre verrückten Erfinder, Frankfurt/M. 2003.

 

 

 

 

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Posted by Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel

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