Abstract [de]

Der Mensch, egal in welchem Kontext oder in welcher Gesellschaft, deutet seine Welt. Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel fasst diese Weltdeutungskompetenz in seiner Rede vom 06. Oktober 2009 im Rahmen der Haniel Summer School in Berlin als anthropologische Konstante auf. Somit ist auch wirtschaftliches Verhalten nicht in einem deutungsfreien Raum zu haben. Die Frage nach der Deutung des wirtschaftenden Menschen oder einem Menschenbild der Wirtschaft wird von Wirtschaftswissenschaftlern weitgehend ausgespart, weshalb es sich lohnt, dem Ganzen kritisch nachzuspüren. Denn es reicht eben nicht aus, den Menschen in der Wirtschaft auf die Modellannahme des Homo oeconomicus zu reduzieren.

Oktober 2009

 

Vertrauen-Wettbewerb-Kooperation: Welches ökonomische Menschenbild ist angemessen?

 

Vortrag: Berlin (Haniel Summer School) 6. Oktober 2009

get pdf: Vertrauen – Wettbewerb – Kooperation

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

von einem ökonomischen Menschenbild zu sprechen, ist eine gewagte Sache. Wirtschaftler nämlich würden behaupten, sie hätten gar kein besonderes Menschenbild, und für so etwas seien ja wohl eher Philosophen und Theologen zuständig.

Befragt man Philosophen und Theologen, erscheinen tiefe und sorgenvolle Falten auf der Stirn, denn das Wort „Menschenbild“ weckt Assoziationen, die leicht in die Richtung einer normativen und vor-empirischen Lehre vom Menschen weisen, die so heute nicht mehr haltbar ist, ja bei der es sogar peinlich ist, sich überhaupt noch von ihr zu distanzieren.

Dennoch ist es weder blinde Naivität noch Zufall, wenn es hier um die Frage nach einem angemessenen Menschenbild geht. Der Hintergrund ist hier freilich ein anderer, und den öchte ich zunächst einmal aufzeigen.

 

1. Weltdeutung und Weltdeutungskompetenz des Menschen.

Ich beziehe mich dabei auf eine unhintergehbare Beobachtung, die bei jedem einzelnen Menschen auf dieser Erde stattfindet, nämlich die Tatsache, dass Menschen ihre Welt deuten. Deuten ist dabei zunächst einmal in einem ganz elementaren Sinn gemeint, nämlich im Sinn von „Unterscheiden“ und von „Kategorie bilden“. Zur Weltdeutung gehört es also, die Mutterbrust als nahrhaft, die Vaterbrust als nicht nahrhaft zu deuten. Natürlich gibt es weitere Kategorien: etwa dass ein Auto auf der Straße für einen Dreijährigen „gefährlich“ sein kann, der Teddybär zum Einschlafen dagegen nicht.

Weltdeutung wird hier als anthropologische Konstante aufgefasst, die es Menschen durch kategoriale Unterscheidungen wie „angenehm-unangenehm“, „gefährlich-ungefährlich“, „nahrhaft-nicht nahrhaft“ erlaubt, sich in dieser Welt zu orientieren.

Wer von einer anthropologischen Konstante spricht, postuliert gleichzeitig eine grundlegende Weltdeutungskompetenz jedes Menschen-so wie ich es in meiner Habilitationsschrift „Ziele religiöser Erziehung“ 1988 entfaltet habe. Dabei gilt: Je differenzierter sich eine Person entwickelt, desto differenzierter auch seine Weltdeutung. Schließlich geht es nicht nur um elementare Lebensbedürfnisse, sondern auch um Fragen, wie Menschen sie eben stellen: Wo kommen wir her, wo gehen wir hin, und was sollen wir tun?

Der Weg von einer evolutionsbiologischen Betrachtung von der Orientierung in Raum und Zeit bis hin zu ausgefeilte Weltdeutungsmodellen in Philosophie, Religion und Theologie ist also ein durchaus nachvollziehbares Kontinuum. Es ist auch klar, dass komplexe Gesellschaften komplexe Erzählungen, Mythen und Theorien hervorbringen, die in sich höchst unterschiedlich sind, aber den gemeinsamen Zweck der Orientierung in der Welt verfolgen und sozusagen „Kommunikationskontexte gesellschaftlicher Rationalität“ bilden.

Auch wenn wir eine innere Pluralität von Gesellschaften, d.h. unterschiedliche und kontrastierende Weltbilder im gleichen sozialen Kontext, nicht ausschließen, bilden sich dennoch in praktisch allen Fällen Rangordnungen der gesellschaftlichen Betrachtung heraus, die Rückschlüsse auf die wahrgenommene Bedeutung bestimmter Berufe und Aktivitäten für das Ganze eines Volkes, eines Landes, einer Region oder einer Familie erlauben. Natürlich wissen wir, dass in manchen Gesellschaften die Krieger oder Soldaten einen sehr hohen Rang einnehmen, während dies in Deutschland im Jahr 2009 so nicht unbedingt der Fall ist.

Interessant ist aber auch, dass die Kaufleute oder Händler in vormodernen Gesellschaften nur höchst selten auf der obersten Stufe der gesellschaftlichen Rangordnung wahrgenommen wurden. Heute hingegen sind wirtschaftliche Eliten ausweislich ihres Vermögens und Einkommens auch auf der Reputationsskala weit oben angesiedelt, trotz einiger Erschütterungen gerade in Folge der Finanz-und Wirtschaftskrise.

Trotz großer Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen und Individuen gibt es auch in der heutigen Gesellschaft ein deutendes Vorverständnis über die relative Bedeutung von Lebensbereichen, Berufen und Aktivitäten. Im Sinn eines solchen kollektiven Vorverständnisses kann es auch so etwas geben wie ein Menschenbild aus dem Blickwinkel des Wirtschaftens, etwa ein Bild des Konsumenten, des Investors, des Sparers, des Empfängers von Transfereinkommen und dergleichen mehr. Wirtschaftliches Verhalten ist eben, wie anderes Verhalten auch, nicht im deutungsfreien Raum zu haben.

Wenn dies so ist-und weil dies so ist, lohnt es sich, dem impliziten Menschenbild in der Wirtschaft nachzuspüren und Energie darauf zu verwenden, es kritisch zu beleuchten, aber auch weiter zu entwickeln.

Wie sich aus diesen Vorüberlegungen zeigt, ist dies methodisch möglich, ohne sich auf spezifische metaphysische, philosophische oder theologische Vorannahmen zu „Menschenbildern“ (vgl. I.Kaplow 2009) zu stützen.

 

2. Das Menschenbild des „homo oeconomicus“ und seine Grenzen

Der Begriff des homo oeconomicus bezeichnet die methodische Abstraktion der Wirtschaftswissenschaften in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts, die speziell die wirtschaftliche Rationalität von Akteuren in den Vordergrund der Betrachtung rückt. Durch neuere verhaltenswissenschaftliche und neurowissenschaftliche Untersuchungen (vgl. etwa Becker 1993) sind andere, vor allem psychologische und motivationale Aspekte in den Vordergrund gerückt. Dennoch bleibt die Idee des „homo oeconomicus“ von bleibendem methodischem Wert.

Auf der anderen Seite haben die modernen Wirtschaftswissenschaften ihren kulturwissenschaftlichen Kontext weitgehend zurückgedrängt. Die Frage nach einer Wirtschaftsanthropologie wirkt also zunächst einmal fremd und fällt in die Kategorie nicht klar genug gestellter Fragen, die empirisch nicht zu beantworten sind.

Problematisch daran ist zweierlei: Denn zum einen sind manche Fragen tatsächlich so komplex, dass sie zwar sinnvoll erörtert, nicht aber zweifelsfrei empirisch entschieden werden können. Dies gilt beispielsweise auch für wirtschaftliche Prognosen, die trotz aller methodischen Verfeinerung grundsätzlich sowohl notwendig wie auch ungenau sind.

Die Frage nach dem zugrunde liegenden Menschenbild der Wirtschaft ist von zentraler Bedeutung, weil dieses in der arbeitsteilig organisierten modernen Gesellschaft erhebliche Folgewirkungen auf politische Entscheidungen und auf eine Vielzahl von Lebensprozessen hat. Die Frage auszuklammern, ist daher ein methodischer Irrweg, der zu einem eklatanten Folgeproblem führt: Plötzlich wird nämlich die methodische Abstraktion des homo oeconomicus zum Ersatz für die Frage nach einer sinnvollen Wirtschaftsanthropologie. Paradoxerweise würden Wirtschaftswissenschaftler sich faktisch immer wieder auf das Menschenbild des „homo oeconomicus“ berufen, gleichzeitig aber behaupten, sie hätten gar kein Menschenbild, schon gar keines in der Wissenschaft.

Es ist zwar unbestreitbar, dass wirtschaftliche Rationalität zum Menschen gehört, so wie Rationalität oder „Vernunftbegabung“ Teil der menschlichen Natur ist. Zum wirtschaftlichen Handeln gehören aber auch andere Randbedingungen, die in ihrer Bedeutung zu reflektieren sind, so etwa die „Knappheit“ von Ressourcen, der „Wettbewerb“ um diese, die „Leistungsorientierung“ als wesentliche Voraussetzung wirtschaftlichen Erfolgs, aber auch die Kooperation in wechselnden strategischen Allianzen, in der innerbetrieblichen Zusammenarbeit und dergleichen mehr.

 

3.   Rationalität, Knappheit, Wettbewerb, Kooperation, Entscheidungszwang: Natürliche und kulturelle Randbedingungen wirtschaftlichen Handelns

Der Gedanke an eine entfaltete Wirtschaftsanthropologie bezieht sich auf zeitlich überdauernde, wesentliche Konstanten menschlichen Verhaltens. Es ist möglich, aber nicht notwendig, solche „zeitlich überdauernden, wesentlichen Konstanten“ mit bestimmten philosophischen oder religiösen Denktraditionen in Verbindung zu bringen. Für eine wissenschaftliche Betrachtung ist es auf jeden Fall angezeigt, wirtschaftsanthropologische Aussagen empirisch und statistisch plausibel zu machen.

Gehen wir kurz auf die einzelnen Elemente ein. Dass die Vernunftbegabung zum Menschen gehört, ist allgemein unstrittig, auch wenn jeder von uns zahlreiche unvernünftige Handlungen kennt und kommentieren kann. Im wirtschaftlichen Bereich wird die Vernunft insbesondere zur Abschätzung eines Leistungsangebots beim Kaufakt, für Investitionsentscheidungen und für jede Art bewusster Allokation, d.h. Zuweisung von Ressourcen, gebraucht.

3.1 Mit der Vernunftbegabunggeht allerdings die Irrtums-Geneigtheit menschlicher Entscheidungen einher. „Wenn ich 10 Euro dabei habe, kaufe ich dann einen Regenschirm oder Lebensmittel?“ Das mag eine einfache Entscheidung aus dem Blickwinkel eines Endverbrauchers sein. Betrachten wir zwei unterschiedliche Randbedingungen: Im einen Fall handelt es sich um einen finanziell unbeschwerten Verbraucher mit gutem Gehalt, der im Blick auf eine Gewitterfront spontan einen Regenschirm kauft. Im anderen Fall geht es um eine junge, arbeitslose und alleinerziehende Dame mit zwei kleinen Kindern. Aus ihrer Sicht mag es „rationaler“ sein, Lebensmittel zu kaufen und die Gefahr einzugehen, nass zu werden…

Vernunftbegabung ist das eine, die Gewichtung von Entscheidungen eine andere. Die Herausforderung der Wirtschaftswissenschaft ist damit aber auch der Umgang mit den Grenzen, der Relativität und der Vielfalt von wirklich oder scheinbar rationalen Ableitungen. Festzuhalten ist allerdings die Kritikoffenheit wirtschaftlicher Entscheidungen. Da diese in einem zweckrationalen Kontext fallen, kann die implizite Erwartung an den Erfolg einer Entscheidung durch die Wirklichkeit widerlegt oder bestätigt werden-wie im Fall des Regenschirmkäufers, wenn es am besagten Tag gar nicht regnet.

3.2 Wirtschaftliche Handlungen gehorchen grundsätzlich dem Prinzip der Knappheit.Beim Medium „Geld“ leuchtet dies unmittelbar ein, denn jeder Euro kann eben nur einmal ausgegeben werden, und keinem einzigen Menschen auf der Welt-und sei er noch so begütert-stehen unbegrenzte Geldmittel zur Verfügung. Die Knappheit wirtschaftlichen Handelns hängt allerdings nicht einfach am Tauschmittel des Geldes. Tatsächlich bilden geldhafte Tauschgeschäfte nur einen Teil des wirtschaftlichen Handelns ab. Wer einen Apfel aus seinem Garten erntet und isst, entgeht nicht der Knappheit natürlicher Ressourcen (denn auch die Ernte am Apfelbaum ist endlich), aber er ist nicht Teil der Geldwirtschaft. Die Apfelernte fällt vielmehr unter die klassische landwirtschaftliche Subsistenzwirtschaft, die bäuerliche Kulturen über Jahrhunderte und Jahrtausende geprägt hat. Knappheit (aber auch Rationalität des Mitteleinsatzes) gilt sogar für die noch frühere Zeit des Jagens und Sammelns, in der ein wichtiger Hauptzweck des Wirtschaftens das Herbeischaffen der nötigen Kalorien für eine Familie oder einen Clan war.

3.3 Damit gelangen wir unmittelbar zur Randbedingung des Wettbewerbs. In einem bestimmten Jagdrevier kann nur einer den Platzhirsch erlegen-oder es kommt zu Konflikten. Soll vermieden werden, dass solche Konflikte tödlich enden, sind Spielregeln nötig. Erforderlich sind aber auch Prozesse für die Festlegung und Durchsetzung von Spielregeln. Knappheit und Wettbewerb als anthropologische Randbedingungen des Wirtschaftens spiegeln sich folglich immer auch im konkreten Sozialverhalten, gleich ob es sich um Eskimos, Amazonas-Indianer oder moderne Mitteleuropäer handelt. Zivilisatorische Prozesse bewirken eine Differenzierungin wettbewerblichen Formen. Nicht nur der Stärkste und der Geschickteste hat Vorteile, sondern derjenige, der etwas kann und gelernt hat, was anderen von Nutzen ist und was er letztlich besser beherrscht als andere-ob es sich um Herzoperationen, Schulunterricht oder die Bedienung einer Produktionsmaschine handelt.

3.4 Unbestritten ist nicht nur das Phänomen des Wettbewerbs und der Differenzierung, sondern auch die soziale Tatsache, dass Menschen sich in sozialenVerbünden zusammen finden, die eher auf Kooperation und Zugehörigkeit als auf Wettbewerb und Differenzierung beruhen. Ob man nun gemeinsam auf die Jagd geht, gemeinsam Landwirtschaft betreibt oder einen Industriebetrieb führt: Immer geht es um das zweckrational gemeinte Zusammenwirken von Menschen, die für ihren Lebensunterhalt oder zu ihrer eigenen Lebensfreude arbeiten und sich die Vorteile unterschiedlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten gerade nicht im Sinn von Wettbewerb, sondern im Sinn eines gemeinschaftlichen Mehrwerts, einer Kooperationssynergie, zunutze machen. -Die Verbindung von Wettbewerb und Kooperation erfordert allerdings noch eine tiefer gehende Betrachtung, die weiter unten folgen soll.

3.5 Eine Wirtschaftsanthropologie im Sinn der Beschreibung wesentlicher Stellgrößen für das wirtschaftliche Handeln von Menschen wäre ohne die Betrachtung eines kurz-, mittel-und langfristig wirksamen Entscheidungszwangs unvollständig. Zum Menschen gehört es, jeden Tag auszuwählen und Entscheidungen zu treffen, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Dabei sind beide Seiten der Medaille wirksam: Der Mensch kann auswählen, aber meistens sind die verfügbaren Alternativen weniger reichhaltig als die wünschbaren und erträumbaren. Der Mensch muss aber auch auswählen, denn richtig ist eben auch, dass es praktisch in jeder Situation mehr als einen zu ergreifenden Handlungsstrang gibt. Welchen Beruf ich ergreife, das hängt nicht nur von mir und meinen Fähigkeiten, sondern auch von den gebotenen Alternativen ab. Welchen Arbeitgeber ich mir suche, ist nicht nur eine Frage des Wunschkonzerts, sondern wiederum abhängig von Konjunktur und regionalem Arbeitsplatzangebot. Ob ein Unternehmen in Fernsehwerbung investiert oder eher den Außendienst ausbaut, ist eine Entscheidung, die zu treffen ist-denn jede Entscheidung hat finanzielle Folgen, und nirgendwo sind verfügbare Ressourcen unendlich. Zum sinnvollen Wirtschaften gehört folglich immer auch eine gute Kultur der Entscheidungsfindung inklusive hinreichender Vorbereitung.

 

4. Vertrauen als Kernwert wirtschaftlichen Handelns

Wirtschaftliches Handeln geschieht nicht im luftleeren Raum. Es entfaltet sich unter konkreten historischen und faktischen Randbedingungen, deren Gesamtheit sich dann aus wirtschaftsanthropologischer Sicht beleuchten lässt, wenn es sich nicht um rein zufällige, sondern um regelmäßig zu beobachtende Faktoren handelt.

Ein wesentliches Thema wirtschaftsanthropologischer Betrachtung ist die wirtschaftliche Funktionsweise von Vertrauen. Es ist zwar richtig, dass wir ein Mindestmaß an Grundvertrauen in andere Menschen, in Anbieter von Produkten und Dienstleistungen und generell in Vertragspartner brauchen. Die Frage ist aber, wie weit das Vertrauen reicht und wie tief es geht, denn zum Leben gehören typischerweise auch Täuschungen und Enttäuschungen. Wenn jemand sich „über den Tisch ziehen lässt“, ist er später enttäuscht. Wenn ein Produkt nicht hält, was die Werbung verspricht, ist ein Wiederkauf unwahrscheinlich und es entsteht eine Abwärtsspirale des Vertrauens.

Solche Beispiele zeigen allerdings auch, dass Vertrauen und Vertrauensbildung auf dynamische Prozesse verweisen, die sich gegenseitig verstärken oder abschwächen. Aus einer Kette von Erlebnissen und Ereignissen entsteht am Ende ein Bild eines Produktes, einer Marke, eines Unternehmens oder eines Menschen, das mir in meiner eigenen Wahrnehmung ein bestimmtes Maß an Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit signalisiert.

Dass das Vertrauen eine eminent wirtschaftliche Funktion hat, zeigt die Aufwärtsspirale des Vertrauens. Habe ich bei einem noch so banalen Produkt-sagen wir einer Flasche Orangensaft-eine gute Erfahrung gemacht, steigt die Wahrscheinlichkeit des Wiederkaufs. Wirtschaftlicher Mehrwert hängt daher sehr eng mit einer Kultur des Vertrauens zusammen: Es geht darum, Vertrauen zu schaffen, Vertrauen zu erhalten und Vertrauen zu mehren. Trotz aller Möglichkeit des Missbrauchs und der Enttäuschung erweist sich Vertrauen folglich als Kernwert wirtschaftlichen Handelns.

Was aus wirtschaftsethischer Perspektive gilt, lässt sich auch auf die Wirtschaftsanthropologie anwenden. Denn Menschen sind als soziale Wesen grundsätzlich auf die Vorschussleistung angewiesen, die im Vertrauen steckt: Sie brauchen mütterliche Zuwendung, jahrelange Pflege und Erziehung und immer wieder neue Anregungen aus ihrem persönlichen und kulturellen Umfeld, um wachsen und gedeihen zu können. Eine der schlimmsten Erfahrungen, die Menschen machen können, ist es, generelles Misstrauen zu erleben. Menschen wissen um die Gefährdung, die in jedem Akt des Vertrauens liegt, aber sie sehnen sich zutiefst danach, wirklich vertrauen zu können-bis in theologische Bezüge und die religiöse Praxis des Gottvertrauens hinein.

 

5. Wettbewerb und Kooperation als Grundlagen der Wirtschaftsanthropologie

Schon weiter oben wurde auf Wettbewerb und Kooperation als wesentlichen Eckpfeiler einer rational begründeten Wirtschaftsanthropologie hingewiesen.

In Deutschland und in vielen Industrieländern schlug das Pendel in den Jahren zwischen 1990 und heute sehr stark in die Richtung eines Gesellschaftsbilds aus, das einseitig vom Wettbewerb bestimmt war. Die Folge davon war eine starke Ökonomisierung und Monetarisierung vieler Lebensbezüge, von der Kindererziehung angefangen und beim eigenen Marktwert auf dem Heiratsmarkt nicht aufgehört.

Wettbewerb hat dabei zunächst eine befreiende und auch fortschrittliche Funktion. Im anthropologischen Sinn hat Wettbewerb damit zu tun, dass wir uns von anderen­beispielsweise unseren Geschwistern oder Schulfreunden-unterscheiden wollen. Davon lebt die Mode, die Cliquenbildung, aber auch die Höchstleistung in den verschiedensten sportlichen Disziplinen. Der Wunsch nach „Unterscheidung“ spornt an, macht einzigartig und ist Motor der persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklung.

Komplementär dazu wirkt im Menschen allerdings eine Kraft der sozialen Kohäsion, die ich den Wunsch zur Zugehörigkeit nenne. Menschen wollen in der Regel nicht alleine sein. Wenn sie etwas feiern, dann gerne mit anderen. Sie wollen wissen, zu welcher Familie sie gehören, zu welchem Verein, welcher Gemeinschaft, welcher kulturellen oder religiösen Gruppe. Solche Formen der Zugehörigkeit haben regelmäßig mit Kooperation zu tun, denn selbst eine Sprache kann nur überleben, wenn sie von mehr als einer Person benutzt wird.

Kooperation und Wettbewerb, Zugehörigkeit und Unterscheidung, sind daher zwei Seiten ein und derselben Medaille. Und dies gilt auch im Wirtschaftsleben, denn schließlich funktioniert kein arbeitsteiliges Unternehmen ohne Kooperation. Es gibt sogar unerwünschte Formen der wirtschaftlichen Kooperation, über die beispielsweise das Kartellamt wacht.

Das Gleichgewicht zwischen Kooperation und Wettbewerb ist daher nicht nur zwischen Geschwistern in Familien, zwischen Sportvereinen und in Schulen ein Thema, sondern auch im Wirtschaftsleben. Gesellschaften unterscheiden sich in den spezifischen Spielregeln für Wettbewerb und Kooperation. Es ist geradezu die Aufgabe jeder Gesellschaftsordnung-und dies gilt auch für moderne Demokratien-immer wieder auszuhandeln, wie die Balance zwischen Vertrauen und Kontrolle, Kooperation und Wettbewerb ausfallen soll-jüngst etwa im Blick auf die Kontrolle der Finanzwirtschaft nach der weltweiten Wirtschaftskrise.

Wenn dies richtig ist, dann greift allerdings eine Ausrichtung der Wirtschaftsethik und der Wirtschaftsanthropologie zu kurz, die einseitig auf Wettbewerb zielt. Beides zählt, Kooperation und Wettbewerb, und das Finden einer sinnvollen Balance im eigenen Leben wie in komplexen Gesellschaften stellt sich als Aufgabe immer wieder neu.

Gerade das Wechselspiel zwischen Vertrauen und Wettbewerb begründet klar und sachlogisch, warum Spielregeln nötig sind und warum der Kontext wirtschaftlichen Handelns immer auch politische Züge hat. Eine geeignete Wirtschaftsanthropologie vermeidet also ein neoliberales Staatsverständnis, bei dem der Staat nur stört, eben so klar wie ein zentralistisches Staatsverständnis, bei dem Staat den Vorrang vor der Wirtschaft habe. Wesentlich ist es viel mehr, das „Ringen im Dialog“ in den vielfältigen Weisen konstitutioneller Verfahren zuzulassen und geradezu zu kultivieren.

Dabei wird es immer wieder vorkommen, dass Entscheidungskriterien unterschiedlich stark gewichtet werden, so dass es zu Entscheidungskonflikten kommt. Wirtschaft ist hier freilich keine Ausnahme, wobei sich-wie in anderen Lebensbereichen zeigt-dass das Transparenz-Bedürfnis der Öffentlichkeit stetig zunimmt, etwa wenn die Frage nach Ausweis von Entscheidungskriterien gestellt wird.

In diesem Sinne würde Wirtschaft dann nicht einfach zum Sonderbereich, in dem die üblichen Spielregeln des Umgangs angeblich nicht gelten, sondern sie wird Teil einer arbeitsteiligen und spezialisierten Gesellschaft, die weiß, dass es in der Demokratie keinen anderen Königsweg als den freien und auch kontroversen Austausch von Meinungen gibt. Vorteil dieser Konzeption von Wirtschaftsanthropologie ist es, dass sie nicht auf ein wie immer geartetes normatives Menschenbild zurückgreifen muss, sondern sich rational und empirisch auf evolutionärer Grundlage weiter entwickeln kann. Normativ ist das Konzept nur insoweit, als es einen Gestaltungsimperativ mit sich bringt, der sowohl individual-als auch sozialpsychologisch gilt. Vorteilhaft an der Konzeption ist es weiterhin, dass Sie keinen einseitigen Primat der Wirtschaft über den Staat oder des Staates über die Wirtschaft fordert, sondern gerade das Verhältnis der Einflussgrößen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft als ständige und auch stets neue Gestaltungsaufgabe einer modernen Demokratie begreift!

Nicht zuletzt bietet eine wirtschaftsanthropologische Betrachtung zahlreiche Anknüpfungspunkte, die auch für religiös interessierte Menschen und für Theologen von Bedeutung sind und die weit über eine einseitige Wettbewerbsorientierung hinaus gehen: Transparenz und Glaubwürdigkeit sind hier nur zwei, allerdings wesentliche Beispiele!

 

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 

LITERATUR

G.S.Becker, Ökonomische Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 2.Aufl. 1993

G.Häffner, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 1982

U.Hemel, Ziele religiöser Erziehung, Frankfurt/M.. 1988

U.Hemel, Wert und Werte, München 2.Aufl. 2007

H.Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt/M. 1999

I.Kaplow (Hrsg.), Menschenbilder in Ost und West, 2009

W.Pannenberg, Theologische Anthropologie, Göttingen 1983

R.Weiland (Hrsg.), Philosophische Anthropologie der Moderne, Weinheim 1995

Posted by Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel

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