Abstract [de]

Wie kann es sein, dass ein Baumwollpflücker aus Burkina Faso mit einem Jahreseinkommen von 440 Dollar im Jahr im Wettbewerb zu teuer ist im Vergleich zur Produktion in den USA? Die globalisierte Wirtschaft ist in eine Schieflage geraten, was Anlass zu vielfacher Globalisierungskritik gibt. Doch Globalisierung ist mehr als weltweite Kapitalströme. Sie umfasst nicht nur den Austausch von Gütern und Dienstleistungen, sondern auch von Menschen und Ideen: die globale Zivilgesellschaft. Mit einem Ansatz, der dies im Blick hat, kann durch dynamische Spielregeln ein Gleichgewicht von Kooperation und Wettbewerb geschaffen werden – eine anthropologisch fundierte Rückführung der Wirtschaft auf die realen Bedürfnisse und Bedarfe des Menschen, hin zu einer Gesellschaft jenseits des Homo oeconomicus.

 

Oktober 2009

 

Globale Weltwirtschaft und globalisierte Zivilgesellschaft

Spielregeln für die Ordnung und Unordnung der Märkte

 

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1. Einleitung: Das Unbehagen an der globalen Weltwirtschaft

Anfang 2007 hatte ich die Möglichkeit, nach Burkina Faso zu reisen, das frühere Obervolta. Dieses Land am Rande der Sahelzone mit rund 14 Millionen Einwohnern und 60 verschiedenen Völkern und Sprachen hat – so die Aussage eines Landeskenners-den großen Vorteil, keine begehrenswerten Rohstoffe wie Erdöl oder Erdgas zu besitzen, die häufig zu großer Ungleichheit in der Entwicklung und zu politischen Konflikten wie etwa in Nigeria führen. Der gesamte Export des gesamten Landes-hauptsächlich Baumwolle, Tiere und Gold-belief sich nach den letzten verfügbaren Zahlen (2005) auf knapp 500 Mio. Dollar pro Jahr­deutlich weniger als der Umsatz zahlreicher großer Mittelständler oder gar Konzerne in Deutschland, Europa und in den USA. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt (2006) bei 440 Dollar pro Jahr (nicht pro Monat!). (vgl. Der Fischer Weltalmanach 2009, Frankfurt/M. 2008).

Erlebt habe ich gleichwohl ein Land mit einer würdevollen, fleißigen Bevölkerung, die zwar um das tägliche Überleben kämpft, aber weder resigniert, noch deprimiert oder verbittert wirkt. Eindrucksvoll war für mich folgendes Erlebnis: In einer kleinen Gruppe fuhren wir in das Hinterland von Ougadougou, der Hauptstadt. Unterwegs wollten wir Baumwollpflücker fotografieren und gaben diesen, wie es üblich ist, ein kleines Trinkgeld dafür. So kamen wir ins Gespräch (die Lingua franca ist französisch), und ich fragte, wie es denn mit der Ernte so gehe. Die Antwort war verblüffend: Die Ernte sei gar nicht schlecht, aber leider sei ihre Arbeit zu teuer. Denn die Baumwolle aus den USA werde günstiger angeboten.

Wir verabschiedeten uns und waren verstört. Bei einem Durchschnittseinkommen von 440 Dollar war das Selbstbild der Baumwollpflücker aufgrund der Exportsubventionen der USA durch den mentalen Rahmen „wir sind zu teuer“ geprägt worden. Emotional deutlicher lässt sich das Unbehagen an der globalen Weltwirtschaft kaum zum Ausdruck bringen (vgl. auch Le Monde, Atlas der Globalisierung, Die neuen Daten und Fakten zur Lage der Welt, Berlin 2006).

Wie aber kommen wir weiter? Und was können wir tun? Sollen wir gegen Agrarsubventionen aller Art protestieren? Was aber machen wir dann mit den Milchbauern, die keinen auskömmlichen Preis für ihre Milch erhalten? Und sind Exportsubventionen für Agrargüter nur ein Problem der USA oder auch ein europäisches Thema? Verliert sich dann nicht jeder berechtigte Protest in einem Gestrüpp von Rede und Gegenrede, von legitimen Interessen, die zueinander im Widerspruch stehen bis hin zu lobbyistischen Wortmeldungen, hinter denen zahlungskräftige Sonderinteressen stehen?

Wer nicht resignieren will, braucht gute Gründe, aber auch ein mentales Handwerkszeug, um weltwirtschaftliche und politische Zusammenhänge zu begreifen. Wer nicht resignieren will, darf sich nicht alleine auf politische Akteure bis hin zu den G20-Staaten verlassen, sondern tut gut daran, eine eigene Position zu entwickeln, die Einfluss gewinnen kann. Dabei hat es sich aus meiner Sicht bewährt, das Konzept der Globalisierung umfassender als bisher zu begreifen und über eine wirtschaftliche Perspektive hinaus zu führen.

 

2. Die globalisierte Zivilgesellschaft als Trägerin der Globalisierung

Der Begriff der Globalisierung selbst wird heute überwiegend, und oft mit kritischem Unterton, als wirtschaftliche Globalisierung verstanden und auf den weltweiten Austausch von Gütern und Dienstleistungen bezogen. Die heute gegebene technische Entwicklung wird dabei vorausgesetzt.

Diese einseitig wirtschaftliche Sicht ist vor allem dem Leitmotiv des Ökonomischen geschuldet, das sich in den europäischen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt hat. Tatsächlich kann es aber einen wirtschaftlichen Austausch nicht ohne Mindestansprüche an einen gemeinsamen geistigen Rahmen geben, der etwa von Gedanken wie der Vertragstreue, der Rechtssicherheit, dem Vertrauen in die Seriosität des Geschäftspartners und anderen bestimmt ist.

Ein solcher geistiger Rahmen mag im Einzelfall weit her geholt scheinen. Tatsächlich aber ist er unmittelbar wirksam. Er ist andererseits das Ergebnis einer zivilisatorischen Entwicklung speziell in den letzten 200 Jahren. Dass die Idee der Menschenrechte in der UNO allgemein anerkannt wurde, beweist keineswegs deren durchgängige Achtung auf der Welt. Gleichwohl bildet die UN-Menschenrechtscharta einen Bezugsrahmen, der als Idealnorm Maß gibt und von dem her Menschenrechtsverletzungen gewürdigt werden können.

Wir stehen hier vor dem Phänomen einer Globalisierung von Ideen, an der speziell Religionen-auch das Christentum-einen großen Anteil haben. Obwohl es auch heute noch Sklaverei gibt, gibt es kein Land der Erde mehr, das die Sklaverei offiziell auch nur tolerieren würde. Obwohl auch heute noch Unternehmen gegen die Grundregeln des Global Compact verstoßen, ist es eine Frage der Globalisierung von Ideen, wenn in vielen Ländern Global Compact Initiativen entstanden sind, die auf ethische Mindeststandards für Unternehmen drängen (vgl. auch: U.Hemel, Wert und Werte, Ethik für Manager, 2.erw.Auflage München 2007).

Schließlich führt die weltweite Mobilität nicht nur zu einem Austausch von Ideen, Gütern und Dienstleistungen, sondern auch zur direkten Begegnung von Mensch zu Mensch. Diese „Globalisierung der Menschen“ hat viele Gesichter, von der Dienstreise in der Business Class bis hin zur Armutsmigration mit prekären Jobs, von Familien mit Angehörigen in verschiedenen Ländern bis hin zu Flüchtlingsströmen wie im Kongo, im Sudan oder in Kolumbien. In jedem einzelnen Fall aber nehmen Menschen ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Essgewohnheiten, aber auch ihre Religion, ihre Hautfarbe, ihr Geschlecht und ihr Lebensalter mit und lernen, mit ihren Gegebenheiten in einer zunächst fremden Umgebung zurecht zu kommen.

Wenn wir Globalisierung in solcher Weise umfassend als Austausch von Gütern und Dienstleistungen, von Menschen und Ideen begreifen, dann nähern wir uns einem Phänomen, das bislang nur wenig in den Blickpunkt von Politik, Gesellschaft, Philosophie und Theologie geraten ist: der globalen Zivilgesellschaft. Sie zu gestalten, ist Teil unser aller Lebensaufgabe. Impulse für die Gestaltung der globalen Zivilgesellschaft zu geben, ist nicht zuletzt das erklärte Ziel des 2009 gegründeten „Instituts für Sozialstrategie“ in Laichingen, Jena und Berlin (www.institut-fuer-sozialstrategie.org).

Der Begriff der globalen Zivilgesellschaft ist nicht neu (vgl. M.Walzer (Hrsg.), Toward a global civil society, Providence/Oxford 1995; P.Jehle, Zivil; Zivilgesellschaft, in Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von J.Ritter, K.Gründer und G.Gabriel, Bd.12, Darmstadt 2004, Sp. 1357-1362). Er wird hier in einem doppelten Sinn aufgefasst: einmal als die empirisch wahrnehmbare Gesamtheit der heute auf der Erde lebenden Menschen, die durch eine gemeinsame Zeitgenossenschaft bestimmt sind. Zum anderen wird der Bereich der Zivilgesellschaft als Sammelbegriff für alle Bemühungen verstanden, die sich am Gemeinwohl orientieren oder zumindest geltende Spielregeln respektieren, die aber nicht unmittelbar staatlich oder parteipolitisch verfasst sind.

Der Begriff des Gemeinwohls ist zwar deutungsoffen, aber unverzichtbar. Er spielt nicht zuletzt in der Katholischen Soziallehre eine wesentliche Rolle. Die im Begriff der Zivilgesellschaft mitgesagte Gemeinwohlorientierung geht in vielen Fällen auch mit staatsskeptischen, emanzipatorischen und basisdemokratischen Ansprüchen einher, auf die hier nicht tiefer eingegangen werden soll.

Spricht man in sinnvoller Weise von der globalen Zivilgesellschaft als Trägerin der Globalisierung, dann gilt es vor allem, deren Merkmale noch präziser als bisher zu bestimmen. Es geht nämlich nicht nur um die physische Gleichzeitigkeit der Existenz von 7 Milliarden Personen, sondern um historisch entstandene Besonderheiten der menschlichen Entwicklung, die u.a. durch eine Reihe von technischen Entwicklungen zu beschreiben sind.

Zur Realität der globalen Zivilgesellschaft tragen ja nicht nur der Welthandel und die unvorstellbar großen Finanzströme bei, die täglich um die Erde gehen (D.Solte, Weltfinanzsystem in Balance, Die Krise als Chance für eine nachhaltige Zukunft, Berlin 2009), sondern auch Entwicklungen wie das Internet und die Mobiltelefonie, die auch für Menschen in Afrika, Indien und China zum Alltag geworden sind. Nicht zuletzt die aktuellen Fragen des Klimawandels zeigen auf, dass zur globalen Zivilgesellschaft heutiger Prägung wesentlich deren Interdependenz gehört. Wind und Wetter kennen keine nationalen Grenzen, und auch das Weltwirtschaftssystem ist inzwischen so vernetzt, dass eine Immobilienkrise in den USA höchste Folge-und Schadwirkungen auf weite Teile der Welt auslöst (F.J.Radermacher, Balance oder Zerstörung, Ökosoziale Marktwirtschaft als Schlüssel zu einer weltweiten nachhaltigen Entwicklung, Wien 2002; N.N.Taleb, Der Schwarze Schwan, Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse, München 2007).

 

3. Der mentale Rahmen von Wirtschaft und Gesellschaft: Die globale Zivilgesellschaft jenseits des „homo oeconomicus“

Das Entstehen der weltweiten Zivilgesellschaft ist eine Sache, deren begriffliche Verarbeitung eine andere. Während wir uns seit G.F.W.Hegel daran gewöhnt haben, zwischen Staat und Gesellschaft zu unterscheiden, fällt es uns noch schwer, den Blick zu weiten und von der globalen Zivilgesellschaft in ihren unterschiedlichen regionalen Gegebenheiten zu sprechen. Längst aber ist klar, dass weder die G8-noch die G20-Staaten die einzigen oder gar die wesentlichen Akteure der globalen Zivilgesellschaft sind. Handlungs-und Regelungsbedarfe gehen weit über das hinaus, was Staaten heutzutage zu bewegen vermögen. Die Schwierigkeit einer effektiven Regulierung der Finanzmärkte nach der Krise ist hier nur ein Beispiel von vielen. Dass die Unterlegung risikoreicher Finanzgeschäfte mit Eigenkapital ein höheres Risiko mit höheren Kosten unterlegen würde, sei hier nur am Rande erwähnt und soll nur als Beispiel dafür dienen, dass der Werkzeugkasten für sinnvolle Regelungen weltweit durchaus vorhanden ist (vgl. D.Solte, Weltfinanzsystem in Balance, Die Krise als Chance für eine nachhaltige Zukunft, Berlin 2009) . Der Staat oder – wie in der EU-ein Staatenbündnis wird im Blick auf die globale Zivilgesellschaft nicht überflüssig, aber relativiert. Tatsächlich hängt das Handeln und die Gesetzgebung von Staaten davon ab, wie Gesellschaften sich in ihren Werten und Einstellungen entwickeln und welche Technologien sie zur Verfügung haben. Unternehmen sind aus dieser Perspektive ebenso Akteure der globalen Zivilgesellschaft wie Universitäten, aber auch Einzelpersonen, Familien, Institutionen oder zivilgesellschaftliche Bewegungen.

Interessant an diesem Blickwinkel ist die Überwindung verbreiteter Ohnmachtsgefühle bei einzelnen, die sich wirtschaftlicher oder politischer Übermacht im Rahmen der Globalisierung ausgesetzt sehen und dann glauben, dieser Globalisierung selbst den Kampf ansagen zu müssen-etwa wie im Fall der Globalisierungsgegner von Attac.

Ist es mir als einzelnem möglich, innerhalb meines lokalen und regionalen Kontexts auf die Zivilgesellschaft einzuwirken, die ja ihrerseits Teil der globalen Zivilgesellschaft ist, dann sollte ich zwar keine Allmachtsphantasien entwickeln, darf mich aber zu Recht selbst als Akteur und Mitgestalter unserer Welt fühlen. Dies setzt andererseits voraus, dass ich nicht unkritisch jede Form der öffentlichen Meinung und jede Form des heute gültigen mentalen Rahmens übernehme, der gerade den Zeitgeist bestimmt.

Dies gilt insbesondere für den Primat des ökonomischen Denkens unter dem Prinzip des „homo oeconomicus“, das teils zu Recht teils zu Unrecht in die Kritik geraten ist (S.G.Häberle (Hrsg.), Das neue Lexikon der Betriebswirtschaftslehre, Bd.1-3, München 2008). Zu unterscheiden ist nämlich zumindest zweierlei: Die methodische Abstraktion und die soziale Wirkmacht der genannten Begrifflichkeit.

Dass die Wirtschaftswissenschaften den Menschen unter dem Blickwinkel seiner ökonomischen Aktivität sieht, ist vordergründig trivial, selbst wenn wir zu differenzieren gelernt haben, dass wirtschaftliches Handeln nach den Erkenntnissen der Behavioural Economics und der Neurowissenschaften keineswegs immer dem strengen Anspruch der ökonomischen Rationalität folgt (vgl. G.S.Becker, Ökonomische Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 2.Aufl. 1993; M.Spitzer, Selbstbestimmen, Gehirnforschung und die Frage: Was sollen wir tun? München 2004, 266-282).

Problematisch wurde die Rede vom „homo oeconomicus“ dort, wo statt wissenschaftsmethodischer Abstraktion eine unerkannte Metaphysik des menschlichen Zusammenlebens ins Spiel kam, die jede Form menschlicher Interaktion und Kommunikation mit der Brille des Ökonomischen zu betrachten begann. Es fällt uns heute schon gar nicht mehr auf, wenn wir vom Heiratsmarkt sprechen oder vom Marktwert unserer Arbeitskraft. Genauer gesagt: Der ökonomische Blick auf Lebensvollzüge wie Arbeit und eheliches Zusammenleben hat seinen guten Sinn. Er sollte aber nicht zu einer übersteigerten Wucherung der Begrifflichkeit führen, so dass andere Betrachtungsweisen gar keinen Platz mehr erhalten. Schließlich gibt es selbstverständlich auch psychologische, soziologische, philosophische, politische, religiöse und literarische Formen der Annäherung an Phänomene des Alltags.

Zu fragen ist dann aber, wie wir die Metaphysik des Alltags vom Imperialismus der ökonomischen Semantik lösen können, ohne den Eigenwert des Wirtschaftlichen zu leugnen oder gering zu schätzen. Genau diese Frage scheint mir einer philosophischen und theologischen Vertiefung besonders bedürftig. Aus anderer Perspektive ist hierbei freilich zu beobachten, dass philosophische und theologische Überlegungen zur Anthropologie auch bei namhaften Vertretern der Zunft den so wesentlichen Bereich des Wirtschaftlichen immer wieder ausklammern oder zumindest zu unterschätzen scheinen (vgl. G.Häffner, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 1982; W.Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983; R.Weiland (Hrsg.), Philosophische Anthropologie der Moderne, Weinheim 1995). Stellt man sich dieser Aufgabe ernsthaft, wäre wohl mit einer präziseren Verhältnisbestimmung von Weltwirtschaft und globaler Zivilgesellschaft zu beginnen.

 

4. Globale Weltwirtschaft und globale Zivilgesellschaft: eine Verhältnisbestimmung.

Wenn wir das Lebensgefühl vieler Menschen heute betrachten und in Ruhe auf uns wirken lassen, wird noch einmal deutlich, wie stark Persönlichkeit und Selbstwertgefühl von Zeitgenossen von ihrem ökonomischen Status abhängt. In politischer und religiöser Rhetorik mag zwar die Gleichheit der Menschenrechte und Menschenwürde bemüht werden, erlebt wird die Welt anders: nämlich im Brenn-und Zerrspiegel der ökonomischen Gratifikation von Qualifikationen, Anpassungsleistungen und mehr oder weniger zufälliger Passung von Angebot und Nachfrage nach beruflichen Profilen.

Unterschätzt werden dabei andere, wesentliche Lebensformen und Lebensäußerungen der globalen Zivilgesellschaft. Diese umfasst ja nicht nur die ökonomische Realität, sondern auch Spiel und Sport, Freizeit und Familie, Religion und bürgerschaftliches Engagement. Dabei gibt es durchaus Wechselwirkungen zwischen zivilgesellschaftlichen Präferenzen und ökonomischer Spiegelung: So ist der Rotweinhandel in vielen islamischen Ländern reichlich eingeschränkt. Umgekehrt hat die Falkenzucht in manchen arabischen Ländern einen deutlich höheren Stellenwert und eine größere ökonomische Bedeutung als in Mitteleuropa.

Was genau auf den Märkten an Nahrungsmitteln, an Kleidung und Gütern des täglichen Bedarfs angeboten wird, ist immer auch eine Frage der kulturellen Präferenz. Es gibt also sehr wohl eine Interdependenz von Gesellschaft, Kultur und Wirtschaftsleben. Die korrekte Verhältnisbestimmung zwischen Weltwirtschaft und globaler Zivilgesellschaft ist also nicht eines der wirtschaftlichen Dominanz, sondern muss eher in Richtung einer wechselseitigen Dependenz gedeutet werden.

Was im Sinn kultureller Interdependenz von Wirtschaft und Gesellschaft für Märkte des physischen Bedarfs gilt, lässt sich auf Märkte generell übertragen. Märkte sind Treffpunkt von Angebot und Nachfrage. Dass Preise sich nach Angebot und Nachfrage richten, lässt sich durchaus als soziales Naturgesetz betrachten. Nur sind eben bei einem sozial geprägten Naturgesetz im sozialen Raum auch andere Wirkgrößen von Bedeutung: Kultur, Religion, Politik, ganz allgemein die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Handeln.

Damit kommen wir zur Frage nach Spielregeln für die globalisierte Weltwirtschaft, ihrer Möglichkeit und ihrer Grenze.

Eine ungebremste Marktideologie hatte in gewissen Ausprägungen des Neoliberalismus in den vergangenen Jahren versucht, jede Form staatlicher Regelsetzung als problematisch zu betrachten. Im Pendelschlag zwischen der Idee freier Märkte und der Idee politischer Regulierung kam es zu einer Einseitigkeit, die eng mit der Frage nach dem Verhältnis von Weltwirtschaft und globaler Zivilgesellschaft zu tun hat.

Psychologisch war die Auswirkung dieses Pendelschlags fatal, denn er unterstellte nicht nur eine krasse Dominanz der wirtschaftlichen Sphäre, sondern führte zu verbreiteten Gefühlen von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Ungerechtigkeit. Wahr ist nämlich immer auch, dass Märkte ein Brennspiegel gesellschaftlicher Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sind, die sich im Marktgeschehen abbilden. Daher lohnt es sich, die grundsätzliche Frage zu stellen: Was tut dem Menschen gut? In welcher Gesellschaft möchten wir leben? Welches Bild vom Menschen als Wirtschaftssubjekt ist angemessen? (Vgl. auch I.Kaplow (Hrsg.), Menschenbilder in Ost und West, 2009)

Vor dem Filter dieser Frage ist leicht festzustellen, dass marktradikale Positionen sich gegenüber Alten, Kranken und Schwachen eher unfreundlich bis problematisch verhalten, weil bei diesen die in einseitig marktradikaler Betrachtung vorausgesetzte Wettbewerbsfähigkeit eingeschränkt ist. Da das Risiko von Krankheit, Alter und Schwäche jeden einzelnen Menschen treffen kann, möge er sich auch noch so stark, gesund und jung fühlen, wirkt eine solche einseitige Zuspitzung hin auf Wettbewerb und Wettbewerbsfähigkeit bedrohlich.

Sie ist aber auch anthropologisch irreführend, weil Menschen nicht nur auf Wettbewerb, sondern auch auf Solidarität angewiesen sind. Zu fragen ist dann allerdings, welche „Wirtschaftsanthropologie“ angemessen ist, wenn Weltwirtschaft und Zivilgesellschaft einander nicht im Modus der Dominanz, sondern der Interdependenz begegnen.

 

5. Kooperation und Wettbewerb als anthropologischer Ausgangspunkt von wirtschaftlichem Handeln

Die überzogene Hervorhebung und ideologische Zuspitzung des Wettbewerbs als Triebfeder des wirtschaftlichen Handelns sollte nicht verdecken, dass der Wettbewerb eine wesentliche Funktion hat. Er sorgt für eine stetige Anstrengung zur Verbesserung von Produkten und Dienstleistungen, er ist eine der Triebfedern des technologischen Fortschritts und er ist ein mächtiger Motivator für alle, die nach der Anerkennung des Siegens und Gewinnens suchen. Und das sind, bei Licht besehen, alle Menschen, wenngleich bisweilen verdeckt und versteckt.

Wer sich dem Wettbewerb stellt, muss freilich auch damit rechnen, dass er verlieren oder gar untergehen könnte. Und er wird in die Versuchung geraten, den geraden Weg des Fair Play zu verlassen und die Umstände so zu manipulieren, dass er einen Vorteil gegenüber Dritten erringt. Das Doping im Radsport ist hier ein anschauliches Beispiel.

Dennoch stellt niemand, den ich kenne, den sportlichen Wettbewerb in Frage. Schließlich wäre es – zumindest als Gedankenexperiment – möglich, dass sich die Spieler der Fussball-Bundesliga in einem wesentlichen Spiel auf dem Platz zusammenstellen und gemeinsam mit dem Schiedsrichter kommunikativ aushandeln, wie das Spiel ausgeht. Die Zuschauer freilich würden sich betrogen fühlen und heftig protestieren.

Wettbewerb ist unverzichtbarer Teil des sozialen und individuellen Lebens. Anthropologisch lässt sich Wettbewerb auf den unhintergehbaren Wunsch zurückführen, dass wir uns von anderen unterscheiden wollen. Das fängt unter Geschwistern an, entfaltet sich in Mode und Verhalten, Sprache und Interessen, Sport und Spiel, letztlich in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.

Auf der anderen Seite ist kein Fußballspiel möglich, bei der nicht zumindest die eigene Mannschaft gut miteinander kooperiert. Die entscheidende Flanke, die zum Tor führt, ist besser als ein Fehlschuss in aussichtsloser Lage. In der Politik sind Parteifreunde Gegner im internen Wettbewerb, aber sie kooperieren im Wahlkampf im Blick auf größere Ziele.. Im Wirtschaftsleben wird ausdrücklich die Teamfähigkeit und interne Kooperation gefördert. Wirtschaft ist ja gerade kein kooperationsfreier Raum, sondern im Gegenteil immer stärker auf die Spezialisierung und Differenzierung der Leistungserbringung und der Wertschöpfungsketten angelegt.

Das Bedürfnis zu kooperieren, lässt sich als Teil der naturgegebenen Ausstattung des Menschen, als anthropologischen Fundamentalwert bezeichnen. Es hängt mit der sozialen Natur des Menschen, aber auch mit der Einsicht zusammen, dass man gemeinsam mehr erreichen kann. Ihm zugrunde liegt nach meiner Überzeugung der tiefe Wunsch jedes einzelnen, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu entwickeln. Wir wollen Teil einer sozialen Gruppe sein, angefangen von Familie, Kindergarten, Schule und Gemeinde bis hin zur Sprachgemeinschaft, zur Berufsgruppe, zum Unternehmen und dergleichen mehr.

Kooperation ist daher ebenso elementar wie Wettbewerb, aber auch ebenso ambivalent. Obwohl Kooperation in der emotionalen Tönung, die es bei vielen Menschen erhält, eher positiv belegt ist, gilt auch hier eine Ambivalenz, die zur Distanzierung von unethischen Formen der Kooperation einlädt. Kartellbehörden achten darauf, dass Firmen nicht durch unethische Preisabsprachen kooperieren. Gerichte wenden sich gegen die vielfältigen Formen von Kooperation zum wechselseitigen Vorteil, die mit dem Stichwort „Korruption“ benannt werden. In extremer Ausprägung sind Mafiabanden und kriminelle Vereinigungen auf effiziente Kooperation zu Lasten Dritter ausgelegt, aber eben durchaus durch Kooperation geprägt!

 

6. Spielregeln für die Ordnung und Unordnung der Märkte als Korrektiv gegenüber Übertreibungen von Wettbewerb und Kooperation

Die Interdependenz von globaler Weltwirtschaft und globaler Zivilgesellschaft hat uns, gebrochen und gefiltert durch höchst unterschiedliche kulturelle und politische Rahmenbedingungen, zur grundlegenden Einsicht geführt, dass der Mensch als wirtschaftlich handelnder immer wieder dazu aufgefordert ist, die Balance zwischen Kooperation und Wettbewerb zu suchen, neu einzuüben und neu zu bestimmen.

Grund dafür ist die Ambivalenz beider Handlungsmöglichkeiten: Kooperation kann mafiös werden, Wettbewerb mörderisch. Die regelgeleitete Balance zwischen Wettbewerb und Kooperation stellt sich somit als immer neu zu bestimmende Lebensaufgabe einzelner Personen, einzelner Gruppen und Institutionen, aber auch ganzer Gesellschaften bis hin zur globalen Zivilgesellschaft dar.

Dass Spielregeln für den Umgang mit Kooperation und Wettbewerb nötig sind, mag zwar einleuchten, kann aber auch trivial erscheinen. Tatsächlich aber wird die Ableitung der Notwendigkeit dynamisch sich entfaltender Spielregeln und deren Durchsetzung hier im Blick auf das Wirtschaftliche völlig neu begründet. Geht man von der anthropologischen Notwendigkeit, aber auch Ambivalenz von Kooperation und Wettbewerb aus, dann ist die Suche nach deren Verhältnis, nach einem stimmigen Gleichgewicht, eine grundlegende Aufgabe von Staat und Gesellschaft. Die Spielregelsetzungskompetenz des Staates wird von vornherein auf eine dynamische Balance ausgerichtet. Die Einseitigkeit einer sozialistischen Totaloption für Kooperation mit einer Lähmung des Wettbewerbs und mit dem Aufbau menschenfeindlicher Kontrollinstanzen wird ebenso vermieden wie der neoliberale Pendelschlag, der einseitig auf Wettbewerb und die Selbstregulierung der Märkte setzt, dafür aber offensichtliche soziale Ungerechtigkeit bis hin zu absoluter Armut in Kauf nimmt.

Die Fähigkeit, Spielregeln zu setzen und sie durchzusetzen, entfaltet sich ihrerseits in einem sozialen Kontinuum. Im Kinderzimmer kommt diese Fähigkeit inklusive der Durchsetzungsmacht den Eltern zu. Auf dem Fußballfeld ist der Schiedsrichter für die Regeldurchsetzung (aber nicht für die Regelsetzung) verantwortlich. Innerhalb jeder Gesellschaft bilden sich übergreifende Instanzen der Regelsetzung und Regeldurchsetzung.

Der Staat ist unter diesem Blickwinkel diejenige Größe, die als letzte Instanz der Gesellschaft wirkt, um Spielregeln zu setzen und zu kontrollieren. Nur muss dabei immer wieder auf den Sinn von Spielregeln geachtet werden, denn Regeln werden überflüssig, werden zu lasch oder zu strikt interpretiert und sind Gegenstand eines offenen gesellschaftlichen Diskurses-so wie derzeit im Rahmen der Wirtschafts-und Finanzkrise.

 

7. Spielregeln für Weltwirtschaft und globale Zivilgesellschaft

Was hier tendenziell für Nationalstaaten gesagt wurde, gilt auch für das Verhältnis von Weltwirtschaft und globaler Zivilgesellschaft. Durch den Ansatz bei einer grundlegenden anthropologischen Betrachtung, die den Menschen als Wirtschaftssubjekt immer wieder auf der Suche nach der Balance zwischen Kooperation und Wettbewerb erlebt, kommen wir hier zu neuen Erkenntnissen und Handlungsmöglichkeiten.

Zum einen lassen sich einzelne Personen, große und kleine Unternehmen als Akteure der globalen Zivilgesellschaft begreifen. Dabei kann nach der Konsistenz ethischer Standards ebenso wie nach dem Verhältnis von Regelsetzung und Regeldurchsetzung gefragt werden. Wenn es wahr ist, dass wir – zumindest im Blick auf die globale Herausforderung des Klimawandels, aber auch bezogen auf Welthandel und Weltfinanzsystem-in einem Boot sitzen, dann gibt es eben auch tatsächlich ein gemeinsames Interesse der globalen Zivilgesellschaft an Instanzen der Regelsetzung und Regeldurchsetzung.

Ein Beispiel dafür ist der Kampf gegen Steueroasen und Korruption. Dass die Schweiz und Liechtenstein plötzlich auf „grauen Listen“ standen, führte zu heftigen Reaktionen der internationalen Gemeinschaft, aber auch zu Diskussionen in der lokalen Zivilgesellschaft. Klassisch ist an diesem Beispiel, dass jede Regelsetzung zumindest anfänglich als Eingriff in die eigene Autonomie empfunden wird. Dies ist auch kein Zufall, denn die schlichte phänomenologische Betrachtung zeigt: Regelsetzung ist tatsächlich ein Freiheitseingriff, wenn auch ein im besten Fall gut begründeter. Im Rahmen einer offenen Gesellschaft ist dann eben darüber zu diskutieren, ob der Regelungseingriff vertretbar ist oder nicht. Interessanterweise hängt die Wahrnehmung der Vertretbarkeit von Freiheitsbeschränkungen auch mit der Glaubwürdigkeit und Schärfe von Sanktionen zusammen. Nicht allein Einsicht, sondern auch die Befürchtung spürbarer Nachteile bewirkt Verhaltensänderungen.

Dies gilt im Kleinen wie im Großen. Es ist nicht allein die Einsicht, die Autofahrer zur Einhaltung von Tempolimits bewegt, sondern auch das Risiko, erwischt und empfindlich zur Kasse gebeten zu werden oder den Führerschein zu verlieren. Regelsetzung ohne Regeldurchsetzung wäre also höchst unvollkommen. Dabei ist nicht zu übersehen, dass schon die Einigung auf „ideale“ Spielregeln den mentalen Rahmen aller Beteiligten prägt, denn die „idealen“ Spielregeln werden plötzlich zur Referenz für die Beurteilung von Handlungen. China mag es sich zwar erlauben, Menschenrechte zu ignorieren. Gleichwohl bleibt der Bezugsrahmen auch staatsautoritärer Handlungen die UN-Menschenrechtscharta von 1948, gegen die eben verstoßen wird.

Eine realistische Anthropologie des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handelns wird nicht vernachlässigen dürfen, dass es einen erheblichen Grenznutzen der Regelverletzung gibt. Wenn alle sich an die mit jeder Regel gegebene Freiheitseinschränkung halten, einer aber ausschert, dann hat der Regelverletzer kurzfristig einen Nutzen. Wie das Spiel mit Igel und Hase wird es daher immer wieder darauf ankommen, ein sinnvolles, aber nicht einseitig repressives Gleichgewicht zwischen Regelsetzung und Regeldurchsetzung zu finden. Im Zug der Bekämpfung des Terrorismus wurden die Kontrollen an Flughäfen verschärft. Fakt ist dabei, dass Millionen von Menschen völlig überflüssig kontrolliert werden, weil sie keine gefährlichen Gegenstände mit sich führen. Dennoch sind die Regeln zur Personenkontrolle so lange rational, wie es eine Bedrohung durch systemische Trittbrettfahrer gibt, der es zu wehren gilt.

Für die globale Zivilgesellschaft gilt Ähnliches. Für nicht-demokratische Staaten und für globale Unternehmen ohne hinreichende Kontrolle bestehen nach wie vor erhebliche Anreize zur systematischen Regelverletzung. Dabei muss der Prozess der Regelfindung, Regelsetzung und Regeldurchsetzung zum einen als elementarer, langwieriger, aber notwendiger politischer Prozess gesehen werden. Zum anderen spiegelt sich genau in diesem Weg des Findens und Durchsetzens von Spielregeln ein notwendiger zivilisatorischer Prozess, der sich heutzutage eben nicht mehr auf die Ebene von Familienclans, regionalen Fürstentümern und Nationalstaaten beschränkt, sondern der bei der globalen Zivilgesellschaft mit ihren vielfältigen und auch widerstrebenden Interessen angekommen ist.

Die globale Zivilgesellschaft ist dabei keineswegs machtlos. Da sie im besten Fall nicht auf Partikularinteressen beschränkt ist, sondern reale und vernünftige Interessen artikuliert, wird sie dazu neigen, Nationalstaaten als Vehikel und Agent der Interessen der globalen Zivilgesellschaft zu betrachten. Instanzen wie der Europarat, die Europäische Union, die Vereinten Nationen, aber auch umstrittene Bündnisse wie die NATO, die WTO und andere zeigen auf, dass es selbst für Nationalstaaten keineswegs einfach ist, sich dem Regelungssog übergreifender zivilgesellschaftlicher Interessen zu entziehen. Die Schweiz, ein reiches und demokratisches Land in der Mitte Europas, ist hierfür ein hervorragendes Beispiel. Nicht umsonst dreht sich die gesellschaftliche Diskussion in der Schweiz immer wieder um das richtige Maß an Unabhängigkeit im Gegensatz zur Konformität mit internationalen Regelungen, etwa zum Thema Geldwäsche.

 

8. Der Beitrag der Philosophie und der Theologie zu einer Ethik der globalen Zivilgesellschaft

Theologie und Philosophie hatten in den letzten 30 Jahren die Kränkung zu erfahren, dass ihre Sprachspiele gesellschaftlich kaum mehr aufgegriffen wurden. Die Deutungshoheit für das Alltagsleben in Staat und Gesellschaft ging immer stärker in die Richtung ökonomischer Interpretationen. Das Christentum ist im Konzert der öffentlichen Meinung mehr und mehr zu einem von vielen „Special Interest“-Themen geworden. Theologie und Philosophie hatten damit aber auch Anteil an der zu beobachtenden Sprachlosigkeit gesellschaftlicher Eliten gegenüber einer immer stärkeren Ökonomisierung und Monetarisierung der Lebenswelt.

Die Wiedergewinnung der anthropologischen Dimension des Wirtschaftens zeigt hier Wege und Möglichkeiten auf, den gesellschaftlichen Gesprächsfaden wieder anzuknüpfen. Menschen mussten seit Jahrtausenden überleben und dafür auch „wirtschaftliche“ Bedarfe wie Nahrung, Kleidung und Schutz decken. Bei allem Wirtschaften steht letztlich eine Bedarfsorientierung im Vordergrund, die über Shareholder Value und Gewinnerzielung hinaus geht.

Allein diese Rückführung des Wirtschaftens auf reale Bedarfe und Bedürfnisse verhilft zu neuer Handlungs-und Sprachfähigkeit. Welche Spielregeln für sie gelten sollen, ist schließlich eine Frage von Kultur und Zivilisation, von Staat und Gesellschaft. Anders gesagt, menschliche Bedarfe und Bedürfnisse sind einer rationalen, auch kontroversen Kritik durchaus zugänglich, und Gesellschaften reagieren auf sie mit je eigenen Gesetzen. So sind die Gesetze zum Waffenbesitz in Deutschland, in der Schweiz und in den USA höchst unterschiedlich. Der Umgang mit Alkohol, aber auch mit sexuellen Themen wie Homosexualität ist in arabischen und in westlichen Gesellschaften unterschiedlich. Zu diskutieren ist an dieser Stelle nicht, welche Lösung richtig oder falsch ist. Von Bedeutung ist vielmehr, dass gesellschaftliche Regelungen in Form von staatlichen Gesetzen zwar wirtschaftliche Auswirkungen haben, vom Grunde her aber von anthropologischen Weichenstellungen und so von elementaren Fragen her kommen: Wer ist der Mensch? Wie soll er sich verhalten? Wo setzen wir Grenzen, und wie gehen wir mit bestimmten Bedürfnissen um, auch im Blick auf das ökologische Gleichgewicht dieser Welt (vgl. E.Günther, Ökologieorientiertes Management, Stuttgart 2008)?

Die Auslegung der Bedürfnisstruktur des modernen Menschen im Kontext der jeweiligen lokalen Zivilgesellschaft ist deutungsoffen für globale Zusammenhänge. Wenn wir nach Spielregeln für die Ordnung und Unordnung der Märkte suchen, dann empfiehlt es sich, gerade auch aus philosophischen und theologischen Traditionen heraus den einzelnen Menschen zuerst in den Blick nehmen. Wir haben dann zu fragen, wie im konkreten Einzelfall das Verhältnis von Wettbewerb und Kooperation, von identitätsstiftender Unterscheidung und gemeinschaftsstiftendem Zusammenwirken funktionieren soll. Die Interdependenz zwischen Wirtschaft und Gesellschaft wird dadurch keineswegs aufgehoben, aber sehr wohl von einem überzogenen Primat des Ökonomischen befreit. Der einzelne Mitmensch in seinen konkreten lokalen Bezügen wird wieder sprachfähig, weil er selbst an der Suche nach der aktuell sinnvollen Balance zwischen Wettbewerb und Kooperation Anteil hat, und zwar für sich und seine Umgebung.

Genau damit aber bestünde auch die Chance, die Entfremdung zu überwinden, die sich aus einem anthropologischen Reduktionismus ergibt, wenn Menschen auf ihre ökonomische Leistungsfähigkeit reduziert werden. Sie kommen dann nicht als Person in den Blick, sondern als Funktion ihres Einkommens und Vermögens. Eine solche funktionalistische Reduktion des Menschen ist aber nicht primär die Folge wirtschaftlichen Handelns, sondern eher die Konsequenz aus einem einseitig verengten mentalen Rahmen. Für diesen Rahmen aber dürfen Philosophie und Theologie zumindest eine subsidiäre Mitzuständigkeit beanspruchen.

Gelingt es, die für jeden einzelnen Menschen gültige Spannung zwischen Kooperation und Wettbewerb in der Balance zu halten, wird das Ökonomische wieder sichtbar als das, was es ist und sein soll: ein notwendiger, aber kein hinreichender Teil für ein erfülltes menschliches Leben. Kooperation und Wettbewerb in der Balance sind schließlich auch in der Familie, in Sport und Freizeit, in Fürsorge und Freundschaft erfahrbar und sinnvoll. Das moderne Konzept der Life-Work-Balance zeigt ansatzweise bereits an, dass das wirtschaftliche und berufliche Leben nicht alles ist und auch nicht alles sein sollte.

Wenn wir den Menschen wieder in seiner personalen Ganzheit in den Blick nehmen, wird auch verständlich, warum die Frage nach einem angemessenen wirtschaftsanthropologischen Menschenbild unmittelbar auf unser Verständnis von Welt und Selbst zurückwirft. Denn nicht zuletzt anhand der ständigen Aufgabe, Wettbewerb und Kooperation, Zugehörigkeit und Unterscheidung, Identität und Differenz auszubalancieren, können und dürfen wir die entscheidenden Fragen nach persönlichem Lebensstil und umfassend verstandener Zivilgesellschaft stellen: In welcher Gesellschaft möchten wir leben? Und welchen Platz können wir in ihr finden? Welche Spielregeln sollen gelten? Welche haben sich überholt oder führen im Ergebnis zu nicht annehmbaren Folgen?

Die Interdependenz zwischen globaler Weltwirtschaft und globaler Zivilgesellschaft geht somit weit über die Frage nach der Verantwortung des Christen in der Welt hinaus. Sie kann auf appellative Diskurse verzichten, vermag aber gerade durch den Rückgriff auf den fundamentalen mentalen Rahmen einer angemessenen Anthropologie sprachmächtige Impulse in den Dialog mit Wirtschaft und Gesellschaft einzubringen. Meine persönliche Erfahrung zeigt, dass dieser Dialog möglich ist und auch von Vertretern der Wirtschaftswissenschaft, der Unternehmen und des Staates begrüßt wird

Denn die Frage nach den Spielregeln der globalen Zivilgesellschaft und die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, geht schließlich uns alle an.

Posted by Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel

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