Abstract [de]: Im Interview mit der Wirtschaftswoche konstatiert Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel einen erheblichen Vertrauensverlust in die katholische Kirche. Dies sei auf Amtsarroganz, Sprachlosigkeit und Neoklerikalismus zurückzuführen. Ein überidealisiertes Selbstbild, eine Konzentration auf die eigene, institutionelle Logik an Stelle der Logik des Zuhörens sowie die Angst vor innerkirchlichem Kontrollverlust hätten eine Kluft zwischen Klerus und Gläubigen verursacht, sodass viele sich heimatlos in der eigenen Kirche fühlten. Laut Hemel gehe es darum, wieder einen gemeinsamen, religiösen Wortschatz aufzubauen und das Evangelium als frohe Botschaft zu verkünden. So könne sich die Kirche erneuern und wieder anziehend und einladend auf die Menschen wirken.


Mai 2010

Managementfehler in der katholischen Kirche

Herr Hemel, es gibt Umfragen, nach denen nur noch jeder vierte bis fünfte Katholik seine Kirche für eine vertrauenswürdige Institution hält. Ein Autobauer würde einen solch gravierenden Verlust der Kundenbindung vermutlich nicht überleben. Wie steht es um die Zukunft des Moralunternehmens Kirche?

Das hängt davon ab, welche Kirche sie meinen. Natürlich, es liegt nahe, eine große Organisation wie die katholische Kirche mit einem globalen Unternehmen zu vergleichen. Man hat dann einen Weltkonzern vor Augen, der seit 2000 Jahren besteht, der durch ein sagenhaft gutes Branding groß und machtvoll wurde – und der jetzt einen immensen Markenschaden erleidet. Das Problem ist nur, dass die Analogie von Kirche und Unternehmen nicht durchzuhalten ist. Wir müssen unterscheiden zwischen einer Kirche als Gemeinschaft von Menschen, die sich an Jesus Christus und den Werten des Evangeliums orientiert – und einer Kirche als Organisation von berufstätigen Laien und Priestern, die sozusagen das Management übernommen haben, die aber auch ihrerseits Teil der Kirche der Gläubigen sind.

Okay, sprechen wir also von der Amtskirche – und von ihren Managementfehlern. Die Bilanz des Vorstandsvorsitzenden, Papst Benedikt XVI., fällt fünf Jahre nach seinem Dienstantritt verheerend aus. Die Duldung der Piusbrüderschaft, der Holocaust-Leugner Williamson, die Missbrauchsfälle, die Ausflüchte und Lügen Bischof Mixas – was steckt hinter alledem?

Hier kommt vieles zusammen. Hervorzuheben ist eine subtile Form von Neoklerikalismus, die mit Papst Benedikt XVI. noch verstärkt wurde. Die Amtskirche geriert sich, als sei sie die einzige, „wahre“ Kirche – und die Unterscheidung der Amtsträger von den Gläubigen wird so stark markiert, dass der Kern des Glaubens aus dem Blick zu geraten droht. Der Macht-, Repräsentations-, Kontroll- und Deutungsanspruch des kirchlichen Amtes ist so groß, dass sie der anderen Kirche, der Kirche der Glaubensgemeinschaft- zu der sie schließlich auch selbst gehört-, die Luft zum Atmen nimmt.

Was oder wen meinen Sie genau mit „subtilem Neoklerikalismus“? Den Papst, die Kurie, einzelne Bischöfe?

Klerikalismus ist eine Geisteshaltung, eine Mentalität, die sie überall in der Kirche antreffen – in besonderer Weise dort, wo Menschen mit ihrem Amt eine Form der Überlegenheit in der Mitsprache über das beanspruchen, was christlich ist. Natürlich auch in Rom, aber auch anderswo. Und wir sollten bitte nicht vergessen, dass es nach wie vor ganz hervorragende Laien, Priester, Bischöfe gibt, die vorbildlich handeln.

Einer der Titel des Papstes zum Beispiel lautet: Diener der Diener Gottes – das heißt: Das Priesteramt ist immer ein Dienstamt. Eben das scheinen viele Amtsträger in den vergangenen Jahren vergessen zu haben. Diese Amtsarroganz ist in aller Regel nicht bewusst und gewollt. Aber sie wird wirksam in den Lebensäußerungen derer, die vom Neoklerikalismus durchdrungen sind.

Sie meinen: In den Äußerungen derer, die einerseits eine Moralwächterrolle in Anspruch nehmen und eine anspruchsvolle Werterhetorik pflegen – und die sich andererseits hilflos winden, wenn es um eigene Verfehlungen und Widersprüche geht?

Genau. Nehmen Sie zum Beispiel den Missbrauchsskandal, der einerseits ein Skandal der Gewalt ist – und andererseits ein Skandal der Sprachlosigkeit. Die meisten Menschen sind ja über den Umgang der Kirche mit dem Missbrauchsthema nicht weniger entsetzt als über den Missbrauch selbst. Verständlich! Die Kirche hat es nicht geschafft, sich für das traumatische Gefühl der Verwundung zu öffnen, an dem die Missbrauchsopfer leiden; sie hat nicht vermitteln können, dass sie dieses „Sieh meine Wunde“ wirklich ernst nimmt.

Dabei ist Mitleid eines Ihrer Kerngeschäfte!

Was wir in der Missbrauchsdebatte erleben, ist eine erhabene Form der religiösen Sprachlosigkeit. Das Problem scheint mir zu sein, dass viele Kirchenmenschen zwar das Entsetzen über den Missbrauch verstehen – aber nicht das Entsetzen über ihre rhetorische Hilflosigkeit, über ihr mangelndes Gespür für die richtigen Gesten, über ihr instinktives Fluchtverhalten.

Woher rührt diese seltsame Sprachlosigkeit und Weltferne?

Nun, wer sich vor allem um die Unbeflecktheit des eigenen Erscheinungsbildes sorgt, kommt automatisch ins Stottern und Stammeln, sobald die Wirklichkeit das Ideal blamiert. Viele Bischöfe wissen nicht, wie sie zu den Menschen sprechen sollen, weil sie sich viel zu sehr auf die Logik ihrer Institution gestützt haben, statt auf die Logik des Zuhörens. 

Welche Wurzeln hat der Neoklerikalismus?

Das Zweite Vatikanische Konzil 1962 bis 1965 war eine fantastische Gelegenheit für die katholische Kirche, das Fenster zur Welt zu öffnen. Und die Kirche hat diese Gelegenheit auch genutzt. Unter dem schönen Stichwortaggiornamento hat sie sich erfolgreich verheutigt, das heißt: Sie hat nicht ihre Botschaft geändert, sondern die Präsentation ihrer Inhalte erneuert, heute würde man sagen: ihren Auftritt optimiert. Dann aber hat sich eine gewisse Ängstlichkeit durchgesetzt, die man durchaus in Benedikt repräsentiert sehen kann. Eine Ängstlichkeit gegenüber dem Reformschwung des Zweiten Vatikanischen Konzils, das heißt: Eine Ängstlichkeit vor innerkirchlichem Kontrollverlust. 

Worin äußert sich diese Ängstlichkeit? 

Im Rückgriff auf nur scheinbar bewährte Formen der Tradition. Vielleicht auch im Formulieren eines absoluten Anspruchs durch den Papst. Das Problem ist nur, dass Benedikt dabei keine neue Deutungshoheit über das gefunden hat, was Glauben ist, sondern dass er lediglich alte Formen und Formeln wiederholt. Das Ergebnis ist eine große Kluft zwischen vielen Amtsträgern in der Kirche – und Menschen, die gerne glauben möchten, sich aber in der eigenen Kirche heimatlos fühlen. 

Benedikt würde argumentieren, dass die Kirche sich mit seinem Anspruch auf „Wahrheit“ nicht gegen ihre Zeitgenossenschaft wehrt, sondern aus guten Gründen auf einer positiven Unzeitgemäßheit pocht.

Eine Abschottung gegen zeitgenössische Erscheinungen kann vernünftig sein, vor allem dann, wenn sie mit einem irrationalen Überschwang einhergehen – wie zum Beispiel zuletzt bei der Finanzkrise. Auf der anderen Seite hat die Kirche mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eingestanden, dass „Wahrheit“ immer historisch eingekleidet ist – und dass es ZUMAL in Demokratien schwer fällt, den Anspruch auf „Wahrheit“ allgemeingültig umzusetzen. Dennoch auf „Wahrheit“ zu pochen, kann dazu führen, dass die Kirche an derselben Fähigkeit zur Diskussion verliert, die Benedikt eigentlich durch die Akzentuierung des eigenen Standpunkts gewinnen will. Führt man eine solche Dialog-immune Haltung ins Extrem, droht die Kirche, sektiererische Züge anzunehmen. 

Sie meinen, die Kirche verliert buchstäblich den Anschluss an die Welt?

Wenn Sie im Besitz der „Wahrheit“ sind, brauchen sie die Welt nicht mehr. Wahrheit ist für Benedikt unteilbar, und philosophisch und theologisch ist dies eine legitime Vorstellung. Ein Denken aber, das die dialogische Seite der Wahrheit ignoriert, das die eigene Rezeption der Wahrheit als Wahrheit ergreifen will und dem die Auffassung zugrunde liegt, dass es für die Wahrhaftigkeit dieser Wahrheit nicht auf ihre Mehrheitsfähigkeit ankommt, wird den Vertrauensverlust in die Kirche als Glaubensverlust der Moderne definieren. Es gibt in der Kirche heute zu viele Leute, die sich im Besitz der gefühlten und intellektuell hergeleiteten „Wahrheit“ wähnen, die den Wert des Dialogs als Erkenntnisgewinn zu gering schätzen – und die daher auf öffentlich gegen sie erhobene Vorwürfe mit totaler Verständnislosigkeit reagieren.

Sie konstatieren einen Realitätsverlust?

Teils, teils. Aber was ist Realität? Auch ich glaube, dass die Kirche einen großen Schatz an Wahrheit hat. Die Frage ist nur, wie die Kirche mit einem solchen Schatz umgeht. Problematisch wird es, wenn einzelne Stimmen den schmalen GRAT zwischen einer richtigen und vernünftigen Abkehr vom Relativismus, zwischen der Zumutung des religiösen Glaubens und einer Arroganz des religiösen Wahrheitsanspruchs nicht mehr erkennen.

Die Neoklerikalen meinen, sie wären unantastbar, unfehlbar?

So kann es zumindest wirken! Sie kennen die Geschichte von der Frau, die gesteinigt werden soll. Jesus sagt: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Die entscheidenden Sätze findet man anschließend: Einer nach dem anderen geht weg- die Ältesten zuerst. Das heißt, dass Jesus den Menschen in den Mittelpunkt stellt und uns Menschen anbietet: Kommt auf diese Seite! Wenn diese Kirche heute etwas nicht eingestehen kann, ja: vertuscht, dann hat das letztlich damit zu tun, dass es in der Amtskirche Menschen gibt, die das Bild der Kirche, ihr Image, ihre Reputation über den Menschen stellen.

Sie meinen, die Kirche hat ein ideales Selbstbild entworfen…

…dem sie nicht gewachsen ist, ja. Die Kirche ist immer heilig und sündig zugleich – an ihrer Spitze wie an ihrer Basis. An jedem Kirchenportal, auch am Petersdom, müsste stehen: Zutritt nur für Sünder! Es gehört zu den besten Elementen des christlichen Glaubens, dass der Mensch nicht perfekt, sondern fehlbar ist. Man muss nur einen Blick auf die Heiligengeschichten werfen, um das zu verstehen. Bei den Heiligen handelt es sich beinahe immer um Persönlichkeiten, die sich viel stärker ihrer Vorläufigkeit, ihrer Begrenztheit und auch ihrer Schuld bewusst sind als andere. Diesen Eindruck ihrer Heiligen vermittelt die Kirche überhaupt nicht mehr. 

Psychopathologisch gesprochen, haben wir es demnach mit einer narzisstischen Störung zu tun, mit einer Kirche, die den Blick viel zu stark nach innen richtet und sich an ihrem Selbstbild berauscht?

Natürlich nicht immer und überall! Organisatorischer Narzissmus in der Kirche heißt aber, dass das eigene Bild wichtiger ist als die Botschaft, die sie verkündet. Genau darin liegt eine Selbsterhöhung, eine Selbstbetörung, die in dem Maße unglaubwürdig wird, wie ich mir der Unvollkommenheit nicht mehr bewusst werde. Das ist ja das, was die Leute so verstört: Dass sie Bischöfe sehen, die sagen: Schade, dass das mit dem Missbrauch so gelaufen ist – aber noch schlimmer ist es, dass die Presse so viel darüber berichtet. Man spricht dann vom „Missbrauch des Missbrauchs“!

Das ist noch höflich ausgedrückt. Viele werden das Verhalten der Bischöfe als Offenbarungseid einer weltfremden, empfindungsarmen, als einer endgültig in sich verpanzerten Kirche empfunden haben. 

Sicher. Warum hat es die Kirche nicht geschafft zu sagen: ‚Ja, ich habe gefehlt. Ich war sicher nicht die einzige Institution, die Kinder geprügelt hat, es gab bestimmte Einflüsse, einen bestimmten Zeitgeist, aber trotzdem: Ich war verantwortlich – und ich bitte um Verzeihung‘? Es wäre ganz einfach gewesen, aber diese einfachen Sätze sind nicht gefallen oder nicht gehört worden. Ein bisschen Demut hätte dein deutschen Kirchenmännern gut zu Gesicht gestanden, denn Demut ist, theologisch gesehen, Wirklichkeitserkenntnis: Erkenne, welche Position Du vor Gott und den Menschen hast. An dieser Erkenntnis mangelt es wohl dem einen oder anderen Kirchenoberen. Genau das meine ich mit der Organisationsüberheblichkeit des Neoklerikalismus. Er ist im Grunde ein Mangel an Demut. Nur: Eine Kirche auf dem Altar des Hochmuts dient nicht – sie bespiegelt sich selbst. 

Was wäre eine geeignete Reaktion der Kirche gewesen? Welche Sprache hätte sie finden müssen, welche Gesten stünden ihr zur Verfügung? 

Die katholische Kirche verfügt über einen unermesslichen Reichtum an Formen. Nehmen Sie zum Beispiel die Fußwaschung an Gründonnerstag. Wenn eine selbstsouveräne Kirche sich eingestehen könnte, sündig zu sein: Was hätte Benedikt daran gehindert, an Gründonnerstag die Fußwaschung bei Missbrauchsopfern vorzunehmen? Eine ganz einfache Sache. Und ein starkes Symbol. Die Liturgie hat Kraft – man muss sie nur entdecken.

In den vergangenen 18 Jahren haben mehr als 2,2 Millionen Menschen die christlichen Kirchen verlassen. Zugleich erleben wir ihre organisatorische Expansion, etwa als Sozialunternehmen, dessen Macht in eklatantem Widerspruch zur geistlichen Glaubwürdigkeit der Kirchen steht. Kann das auf Dauer gut gehen?

Voraussichtlich nicht. Es verschärft die Krise. Einerseits hat die Kirche selbstverständlich die Aufgabe, sich in der Welt zu bewähren, und zu dieser Weltbewährung gehört auch, dass man den kirchlichen Auftrag auch in sozialwirtschaftlichen Unternehmungen erfüllt: die Hungernden zu speisen, die Gefangenen zu besuchen und die Kranken zu pflegen. Andererseits ist das Hauptthema der Kirche ein anderes, wie die gegenwärtige Krise zeigt: Es geht jetzt vor allem darum, dass wir überhaupt wieder einen religiösen Wortschatz erwerben und das Evangelium als frohe Botschaft zur Sprache bringen.

Diakonie und Caritas gehören zu den Arbeitgebern, bei denen Niedriglöhne verbreitet sind. Was lernen wir daraus über die Alltagsmoral der Kirche?

Dass sie sich der Ambivalenz unserer Zeit nicht entziehen kann. Im Übrigen bin ich mir nicht sicher, ob die Organisation von Krankenhäusern heute tatsächlich noch zu den Aufgaben der Kirchen in diesem Land gehört. Zumal unter den Bedingungen, die Sie erwähnt haben. Natürlich, mir tut es um jedes Altenheim leid, das nicht mehr in christlicher Trägerschaft ist. Aber wenn wir nicht zum Verzicht bereit sind, könnte das zu dem führen, was man beim British Empire einmal imperial overstretch, imperiale Überdehnung genannt hat.

Die Kirche hat noch ein anderes Problem: Sie ist nicht mehr attraktiv genug im Kampf um die besten Köpfe. Leidet sie an einem Mangel an qualifiziertem Führungspersonal? 

Ein ganz klares Ja. Weil die Kirche von vielen nur noch als Bollwerk wahrgenommen wird – und nicht als Institution, die den fruchtbaren Wert einer kritischen Solidarität anerkennt. Wenn in der Führung der katholischen Kirche kritische Stimmen weggebissen und wohlmeinende Kritiker als Nestbeschmutzer vorgeführt werden, dann werden sich in einer solchen Organisation nicht mehr die besten Leute nach einer Führungsposition drängen. Die gegenwärtige Kirchenkrise ist daher auch die Folge einer einseitigen Personalpolitik.

Sie dürfen ruhig Namen nennen.

Na, nehmen sie zum Beispiel den vormaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann. Das ist jemand, der im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils groß geworden ist und viel für den Zusammenhalt der Kirche in Deutschland getan hat. Plötzlich spricht man in konservativen Kirchenkreisen abfällig von der „Lehmann-Kirche“ – und von diesem „Erzliberalen“. Schlimm, dass es soweit kommen konnte. Dass man sich auch mit dem Stilmittel persönlicher Herabwürdigung wieder zu retten versucht in eine Welt der “Reinen“, wie die Katharer sich nannten. So etwas führt fast immer in die Häresie, zu einer Abspaltung von der Kirche, zur Auflösung ihrer inneren Pluralität. Diese Kirche der Reinen, die funktioniert nicht, die zerbricht.

Könnte es sein, dass sich hinter dem autoritären Gestus mancher Kirchenführer die Ahnung versteckt, die Kirche könnte überflüssig werden?

Die Kirche wird niemals überflüssig sein. 

Woher wissen Sie das?

Ich weiß es nicht. Aber ich glaube es. Mag sein, dass sie in der organisatorischen Form, in der wir sie heute erleben, eines Tages überflüssig ist. Na und? Für den heiligen Geist kommt es nicht darauf an, ob es ein bischöfliches Ordinariat gibt oder nicht. 

Liegt in der Selbstentblößung der Amtskirche auch eine Chance?

Eine Riesenchance sogar. Die frohe Botschaft liegt wieder vor uns, ohne dass die Kirche sie verstecken könnte: Sie  wartet förmlich darauf, jetzt wieder entdeckt zu werden. Was ja auch immer wieder passiert – in Deutschland und in anderen Ländern. Diese Kirche muss sich aus der Mitte ihrer Glaubensgemeinschaft heraus selbst erneuern, oder theologisch gesprochen: Sie muss sich die Erneuerung nicht vom Papst und den Neoklerikalen einreden, sondern vom Heiligen Geist schenken lassen. 

Ohne einen Wahrheitsbegriff…

… der kategorisch und hermetisch ist, ja. Um es noch einmal klipp und klar zu sagen: Die jetzige Form der Kirchenführung ist ein historisches Experiment, das scheitern wird. Warum? Weil Kirche kein absolutistisches Regime ist, sondern ihrer Idee nach auf Dialog angelegt ist. So wichtig es für sie ist, auf ihre Tradition zu achten inklusive dem Dienst des Papsttums im Interesse der Einheit der Kirche, so wichtig es ist, überkommene Formen zu pflegen, die Liturgie zu beleben und eine Position gegen den Relativismus einzunehmen – mit einen barocken Herrschaftsstil hat das alles nichts zu tun. Trotz aller Zeichen des Abschwungs, des scheinbaren Verfalls und des Niedergangs erfahre ich diese Krise daher als Zäsur für den Aufbruch. 

Heißt das, dass das Pontifikat Benedikts beerdigt ist? Oder dass durch eine Art List der Vernunft die Erneuerung, die Benedikt sich wünscht, tatsächlich eintreten wird – wenn auch auf ganz andere Weise als gedacht?

Wir Theologen reden nicht von der List der Vernunft, sondern von der Überraschungsfähigkeit des Heiligen Geistes – und wir feiern sie an Pfingsten. Diese Überraschungsfähigkeit kann sehr wohl dazu führen, dass Wirkungen sich völlig konträr zu den Absichten entwickeln. Dafür gibt es in der Geschichte Beispiele genug. Und daher bleibe ich bei meiner Hoffnung auf eine erneuerte Kirche, die auch für heutige Menschen anziehend und einladend ist! 

Die Originalfassung des Interviews ist online abrufbar unter

http://www.wiwo.de/erfolg/trends/theologe-und-unternehmer-ulrich-hemel-managementfehler-der-katholischen-kirche/5647496.html.


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Posted by Ulrich Hemel interviewt von Dieter Schnaas und Christopher Schwarz