Abstract [de]: Unabhängig von taktischen und strategischen Erwägungen zur Begründung von Religionsunterricht können wir in unserer Gesellschaft beobachten, dass das Bedürfnis nach Halt und Orientierung zunimmt. Eine Hilfestellung zur persönlichen Orientierung im Chaos der Bildungs-, Freizeit- und Konsumangebote ist pädagogisch erwünscht und wird von den Schülerinnen und Schülern auch durchaus angenommen- jedenfalls soweit nicht der Eindruck entsteht, man wolle ihnen etwas aufdrängen oder sie vorschnell vereinnahmen. Neben der für jede Berufstätigkeit notwendigen Fachkompetenz ist also die Vermittlung von Orientierungskompetenz gefragt. Diese ist gerade in der Informationsgesellschaft eine entscheidende Aufgabe von Schule und Familie, Bildung und Erziehung! Was Orientierungskompetenz bedeutet, bedarf aber einer weiteren Differenzierung.


Juni 2010

Religionspädagogik im internationalen Vergleich

1. Verständnishorizonte internationaler Religionspädagogik

Spricht man von „Vergleichender Religionspädagogik“ (=Comparative Religious Education Theory), ist diejenige Disziplin gemeint, die unter akademisch- wissenschaftlichen Gesichtspunkten Theorie und Praxis religiöser Erziehung und Bildung in verschiedenen Ländern, Kulturkreisen und religiösen Kontexten erforscht (vgl. U. Hemel 1984, 60-77). Da weltweit die Anzahl religionspädagogischer, Forschung treibender Lehrstühle begrenzt ist und die unmittelbar praxisrelevanten Aufgaben in Religionsunterricht, Gemeindepädagogik und religiöser Erziehung fast immer den Vorrang genießen, ist die Vergleichende Religionspädagogik nach wie vor ein Stiefkind des Faches, dem sich nur wenige Begeisterte widmen (J.M. Sutcliffe 1984).

Spricht man in einem etwas weiteren Sinn von „Religionspädagogik im internationalen Vergleich“, öffnet sich das Feld zur Praxis der Religions- und Kulturbegegnung, zum ökumenischen und interreligiösen Dialog, aber auch zum gegenseitigen Lernen in der Nähe und Fremdheit vergleichbaren pädagogischen Tuns unter Praktikern der gleichen Glaubensrichtung (J. Lähnemann 1998). Beispielsweise gibt es sowohl in Sizilien als auch in Nordrhein-Westfalen, sowohl in der Slowakei als auch an katholischen Privatschulen in Großbritannien katholischen Religionsunterricht. Die konkrete Ausgestaltung liegt freilich weit auseinander, obwohl der Beobachtungsgegenstand des internationalen Vergleichs im vorliegenden Beispiel ausschließlich auf das Praxisfeld „katholischer Religionsunterricht“ eingegrenzt wurde (F. Pajer 1991).

Thematisch stehen in der internationalen Religionspädagogik aller Länder und Religionen vor allem Fragen der religiösen Erziehung und Sozialisation in der durch die Globalisierung veränderten Welt, und speziell Fragen des schulischen oder außerschulischen Religionsunterrichts im Vordergrund. Der kulturelle Handlungskontext in Staat und Gesellschaft, besonders auch der religiös homogene oder multireligiöse Hintergrund eines Landes, spielen eine herausragende Rolle für konkrete Formen und Spielarten religionspädagogischen Handelns. Eine kontextuelle Religionspädagogik ist daher eine folgerichtige Ergänzung zu jeder kontextuellen Theologie.

Wer sich – über Europa hinaus- international informieren möchte, findet aktuelle Beiträge und Berichte in der Zeitschrift THEOLOGIE IM KONTEXT (21, 2000), aber auch – aus eher angelsächsisch-protestantischer und jüdischer Perspektive- in der Zeitschrift PANORAMA (11, 1999). Auch die engagierten Studienzentren der Salesianer in Rom und der Jesuiten im Institut Lumen Vitae in Brüssel sind erste Adressen für den internationalen religionspädagogisch-katechetischen Austausch, speziell aus katholischer Sicht, und speziell für Afrika (immer noch von Belang: Lumen Vitae 1957) und Lateinamerika (u.a. J. Gevaerts 1987).

2. Strukturmuster und Ergebnisse vergleichender Religionspädagogik

Es ist klar, dass unsere eigene Perspektive zunächst einmal dem deutschen Sprachraum und Europa zugewandt ist. Es lohnt sich aber, internationale Religionspädagogik unter vergleichender Perspektive etwas weiter zu betrachten. Dabei kann man folgende Entdeckungen machen: Nirgendwo auf der Welt gibt es eine Gesellschaft ohne religiöse Erziehung. Fast überall trägt religiöse Erziehung unmittelbar zur persönlichen Identität der betreffenden Menschen bei. „Polnisch und katholisch“ und „schwedisch und lutherisch“ gehören so eng zusammen, dass nicht-katholische Polen oder nicht-lutherische Schweden ein ganz eigenes, differenziertes Gefühl eigener Identität erleben und kommunizieren.

In welcher Weise religiöse Sozialisation praktiziert wird, hängt von mehreren Kernfragen ab, die leicht in bestimmende analytische Muster gebracht werden können: Ist die Gesellschaft eines Landes religiös eher homogen (z.B. Italien) oder nicht (z.B. USA)? Verhält sich der Staat gegenüber Religion und Religionen neutral (z.B. Frankreich, Deutschland), eher feindselig (z.B. Nordkorea, China) oder selektiv fördernd bis vereinnahmend (z.B. Iran, Israel, Vatikanstaat)? Gibt es religiöse Minderheiten, die geduldet oder diskriminiert werden und ihre eigene religiöse Erziehungspraxis leben? Ist die gesellschaftliche und institutionelle Differenzierung weit fortgeschritten oder nicht, insbesondere im Bereich öffentlicher Schulen mit oder ohne Religionsunterricht und in der öffentlichen Stellung von Kirchen und Religionsgemeinschaften? Gibt es theologisch-religiöse Ausbildungsstätten wie z.B. theologische Fakultäten, religionspädagogische Institute oder vergleichbare Einrichtungen, und sind diese rein auf praktisches Methodenwissen oder auch auf wissenschaftliche Reflexion von Praxis ausgelegt?

Blickt man auf gesicherte Ergebnisse vergleichender Religionspädagogik, sind insbesondere zwei Variablen im internationalen Überblick besonders bemerkenswert: Welche Stellung hat Religion in den Familien? Und wie ist der schulische Religionsunterricht ausgestaltet, wenn es ihn in einem Land gibt? Beiden Fragen soll im folgenden geographischen Überblick Beachtung geschenkt werden.

Dabei ist allerdings einschränkend einzuräumen, dass ein international konsensfähiger Forschungsstand zur internationalen Religionspädagogik nicht existiert: Dazu ist der Bestand gesicherten religionspädagogischen Wissens und interkulturell vergleichbarer Erkenntnisse zu gering. Ansätze zu einem im engeren Sinn wissenschaftlichen Forschungsstand finden sich in religionspsychologischen, religionssoziologischen, religionswissenschaftlichen und religionsphänomenologischen Werken. Auch die religiöse Sozialisationsforschung bemüht sich um übergreifende, international gültige Erkenntnisse (G .Moran 1983, F. Oser/P. Gmünder 1984), kämpft aber bei der Erforschung von Stufen religiöser Entwicklung u.a. mit der Unterschiedlichkeit der Inhalte und Ziele und deren kaum gegebener Vergleichbarkeit in verschiedenen religiösen und kulturellen Kontexten.

3. Geographisch-kulturelle Räume religionspädagogischen Handelns

Beginnen wir mit dem amerikanischen Kontinent. So spielt religiöse Erziehung in den meisten Familien in den USA eine sehr große Rolle, schulischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen findet aber – im Gegensatz zu Großbritannien- nicht statt, sondern wird als „Sonntagsschule“ in das Gemeindeleben integriert. In lateinamerikanischen Ländern besitzt das religiöse Familienleben ebenfalls einen hohen Stellenwert, institutionelle religiöse Erziehung findet aber in der Regel als „Katechese“ innerhalb der Pfarrgemeinden oder christlichen Basisgruppen und nicht – wie z.B. in Spanien- in der Schule statt. In Afrika gilt es genau zu unterscheiden: Gelebte muslimische Praxis mit dem großen Anliegen einer islamisch-religiösen Interpretation moderner Zivilisation bilden eine Seite, kulturprägende und transformierende Tätigkeit christlicher Kirchen in Schulen und Missionsstationen (bis hin zu einem schulischen Religionsunterricht in Südafrika), aber auch lebensfähige Traditionen ursprünglich afrikanischer Religionen stellen die andere Seite religionspädagogischer Realität in Afrika dar. Angelsächsische und frankophone Einflüsse sind je nach historischem Hintergrund unverkennbar, wobei die Bewertung der jeweiligen religionspädagogischen Praxis außerordentlich stark kontrovers und konfessionell-religiös standortgebunden ist.

In Asien ist religionspädagogische Praxis gemäß den zahlreichen, unterschiedlichen religiösen Traditionen und politischen Systemen kaum auf einen Nenner zu bringen. Christen bringen ihren Beitrag häufig über christliche Schulen und entsprechender religiöser Erziehungspraxis, ferner in Form von diakonischer Arbeit, z.B. im Kampf gegen die Armut, zur Geltung. Buddhisten und Hindus verfügen über über einen reichen Schatz an Schriften, rituellen Traditionen und alltagsprägenden Ereignissen wie religiösen Festen (z.B. das hinduistische Lichterfest Di-wali), die religionspädagogisch stilbildend wirken. Auch die Lebenskraft des buddhistischen und hinduistischen Mönchtums ist in seinen Auswirkungen auf die Ausbildung religiöser Identität in jeweils landestypischer Entfaltung nicht zu vernachlässigen, ob man nun von Indien, Thailand, Japan, Korea oder China spricht. Darüber hinaus ist nicht zu vergessen, dass Asien mit Indonesien das größte muslimische Land der Erde und mit den Philippinen eines der großen katholischen Länder der Welt umfasst.

Europa wiederum ist der Kontinent mit der stärksten Verankerung eines schulischen Religionsunterrichts, gleich ob man vom orthodoxen Griechenland, vom protestantischen Dänemark, vom katholischen Italien oder vom anglikanisch-multireligiösen Großbritannien spricht. Die große Ausnahme stellt Frankreich mit der strikten Trennung von Staat und Kirche dar: Dort gibt es (mit Ausnahme von Elsaß – Lothringen) keinen schulischen Religionsunterricht. Über die immer schwächer werdenden religiösen Familientraditionen hinaus findet in Frankreich christliche Erziehung in Form von „Katechese“ in den Pfarrgemeinden statt. Die religiöse Initiation in Form von Erstkommunion oder Firmung, Konfirmation, aber auch (im Judentum) Bar Mizwa stellt aber in Millionen von europäischen Familien nach wie vor einen Meilenstein des Familienlebens dar, auch wenn den kirchlichen Institutionen von Sizilien bis Lappland teilweise ein erhebliches Maß an Skepsis gegenüber gebracht wird.

4. Ausblick und religionspädagogische Zukunftsaufgaben

Betrachtet man die Entwicklungen der letzten zehn bis zwanzig Jahre weltweit und in Europa, ist insgesamt eher von einer Renaissance als von einer Abschwächung von Religionsunterricht und religiöser Erziehungspraxis zu sprechen. In zahlreichen ehemals kommunistischen Ländern ist Religionsunterricht neu eingeführt oder bekräftigt worden. Die orthodoxen Kirchen haben trotz verschiedener Krisenelemente neuen Zulauf. Die Zuwanderung islamischer Bevölkerungsgruppen in Mitteleuropa führt zu neuen gesellschaftlichen und religiösen Fragen (z.B. nach der Ausgestaltung eines islamischen Religionsunterrichts). Der schulische Religionsunterricht (ob evangelisch, katholisch oder orthodox) trifft in praktisch allen europäischen Ländern auf eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz. Religionspädagogisch relevante christliche Familientraditionen wie z.B. Martinsumzüge, Nikolausfeiern und Weihnachten halten sich auch in säkularisierter Umgebung hartnäckig, selbst wenn sie sich institutionellen Normierungen entziehen.

Aufgabe einer Vergleichenden Religionspädagogik wird es sein, die Vielzahl religiöser Erziehungsstile und kultureller Praktiken begleitend zu reflektieren und das Bewusstsein für den Wert (und die Relativität) solcher Formenvielfalt, aber auch für übergreifende religiöse Erziehungsziele wie die Förderung religiöser Urteils- und Entscheidungsfähigkeit im Sinn religiöser Kompetenz (U. Hemel 1988), die Entfaltung personaler Identität, die Fähigkeit zur religiösen und kulturellen Begegnung ohne Identitätsbedrohung und die Bereitschaft zu aktiver Toleranz zu schärfen. Da die öffentliche Bedeutung von Religion, Religionsgemeinschaften und Kirchen in einigen Ländern stärker in Frage gestellt wird oder größeren Wandlungen unterliegt, während gleichzeitig bei den einzelnen Menschen und in ihren Familien religiöse Interessen und bewusste religionspädagogische Praxis beobachtet werden kann, stellt der Spagat zwischen individueller Religiosität und öffentlichem Leben in Kirche, Staat und Gesellschaft ohne Zweifel eine große Herausforderung für die Zukunft darin und außerhalb Europas.

Literatur

Gevaert Joseph (Hg.), Diccionario de Catequética, Madrid 1987

Hemel Ulrich, Theorie der Religionspädagogik, München 1984

Ders., Ziele religiöser Erziehung, Frankfurt/M. 1988

Ders., Zur europäischen Situation ethisch-religiöser Erziehung- Religionsunterrichtliche Perspektiven, in: Johannes Brune (Hg.), Freiheit und Sinnsuche, Berlin 1993, 171-184

Lähnemann Johannes (Hg.), Interreligiöse Erziehung 2000, Hamburg 1998

LUMEN VITAE, Religious Education in Africa, Brussels 1957

Gabriel Moran, Religious Education Development, Minneapolis 1983

Oser Fritz und Gmünder Paul, Der Mensch- Stufen seiner religiösen Entwicklung, Zürich 1984

Pajer Flavio (Hg.), L’insegnamento scolastico della religione nella nuova Europa, Turin 1991 PANORAMA, International Journal of Comparative Religious Education and Values, hg. von Manfred Kwiran (Braunschweig), vol.11, 1999

Sutcliffe John (Hg.), A Dictionary of Religious Education, London 1984 THEOLOGIE IM KONTEXT, Informationen über theologische Beiträge aus Afrika, Asien, Ozeanien und Lateinamerika, hg. vom Missionswissenschaftlichen Institut Aachen 21 Jg., 2000


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Posted by Ulrich Hemel

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