Abstract [de]: Kaum ein Fach erfordert so viel gesellschaftliche Reflexion wie der Religionsunterricht. Kaum ein Land in Europa hat sich in den letzten zwanzig Jahren nicht wenigstens gelegentlich öffentlich mit Fragen des Religionsunterrichts auseinandergesetzt. Und kaum ein junger Mensch in Europa wächst auf, ohne eigene Erfahrungen mit Religionsunterricht zu machen – große Teile Frankreichs und der Neuen Bundesländer in Deutschland ausgenommen.


Juni 2010

Religionsunterricht baut Europarealität und Zukunftschancen des Religionsunterrichts in Europa

Kaum ein Fach erfordert so viel gesellschaftliche Reflexion wie der Religionsunterricht. Kaum ein Land in Europa hat sich in den letzten zwanzig Jahren nicht wenigstens gelegentlich öffentlich mit Fragen des Religionsunterrichts auseinandergesetzt. Und kaum ein junger Mensch in Europa wächst auf, ohne eigene Erfahrungen mit Religionsunterricht zu machen – große Teile Frankreichs und der Neuen Bundesländer in Deutschland ausgenommen.

Wer hätte das gedacht? Noch während meiner religionspädagogischen Ausbildung zu Beginn der 80er Jahre war es Common Sense unter deutschen Kollegen, der schulische Religionsunterricht sei eine Besonderheit der Bundesrepublik Deutschland, Österreich vielleicht ausgenommen.

Nicht zuletzt durch die Integration Europas, den Fall der Mauer 1989, die Erweiterung der Europäischen Union wie zuletzt am 1.Mai 2004 und die intensivere Beschäftigung mit den europäischen Nachbarn, vielleicht aber auch durch Initiativen wie das 1984 in Klingenthal/Elsass begründete „Europäische Forum Religionsunterricht“, ist der schulische Religionsunterricht heute eine Realität für etwa 80% der Kinder und Jugendlichen in Europa.

Natürlich wechseln Formen und spezifische rechtliche Bedingungen, Inhalte und Zielsetzungen, Anspruch und Wirklichkeit je nach Situation eines Landes, einer Stadt, einer konkreten Schule, Lehrkraft und Klasse. Trotzdem gilt:

  1. Schulischer Religionsunterricht als Teil schulischer Erziehung und Bildung ist heute eher die Regel, als die Ausnahme in Europa.
  2. Schulischer Religionsunterricht ist – von Ausnahmen abgesehen- nicht mehr identisch mit Katechese oder Schulkatechese, sondern hat Anerkennung als pädagogisch und didaktisch eigenständiges Fach gefunden.
  3. Der schulische Religionsunterricht befindet sich in ganz Europa auf einem Suchprozess nach der best möglichen Balance zwischen Schülerorientierung auf der einen und den Ansprüchen von Staat, Kirche und Gesellschaft auf der anderen Seite.
  4. Schulischer Religionsunterricht ist für die überwiegende Mehrheit junger Europäer eine gemeinsame Erfahrung, aber auch ein Stück erlebter kultureller und religiöser Differenz in seiner konkreten Gestalt. Er ist Teil des Erwachsenwerdens, bleibt in diesem Prozess aber überwiegend eine Randerscheinung.
  5. In den meisten Ländern stehen junge Europäer alternative Möglichkeiten schulischer Werterziehung wie z.B. Ethikunterricht zur Verfügung, auch wenn dieses Angebot in der Regel nur von wenigen Schülern genutzt wird. Eine der größten größte Herausforderung des Religionsunterrichts in Europa ist die bessere Absicherung einer hohen Qualität der Religionslehrerausbildung in Verbindung mit der Absicherung des rechtlichen Status von Religionslehrerinnen und Religionslehrern. Dies ist eine von Staat und Kirche in der Regel nur sehr zögerlich aufgegriffene Kernaufgabe der künftigen religiösen Bildung und Erziehung junger Europäer.
  6. Die wohltuend pragmatische Realität heutigen Religionsunterricht trifft mehr und mehr auf Erwartungen, die ein einziges Schulfach alleine nicht bewältigen kann: Förderung der Integration religiöser Minderheiten in Europa, Schrittmacher der ökumenischen Bewegung durch konfessionell-kooperativen Religionsunterricht, Ausgleich für einen rein leistungsorientierten, am gesellschaftlichen Anpassungsdruck maßnehmenden Schulalltag und vieles mehr.
  7. Wenn Religionsunterricht nicht überfrachtet wird, übernimmt er eine wesentliche Impuls und Brückenfunktion zwischen den Generationen, aber auch im Sinn der Begegnung mit identitätsstiftender Tradition. Er trägt damit zu einer positiven Werteorientierung im Europa der Zukunft bei und verdient die volle Unterstützung aller gesellschaftlichen Kräfte.

Insgesamt hat der Religionsunterricht in Europa in den letzten 20 Jahren eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht. Ein grober Überblick über Modelle und Realisierungsformen kann zeigen, wie konsistent, aber auch vielschichtig die Realität von RU heute geworden ist.

DIE GEMEINSAME ERFAHRUNG: RELIGIONSUNTERRICHT AN ÖFFENTLICHEN SCHULEN

Die öffentliche Schule ist in Europa die vorherrschende Form institutioneller Sozialisation für junge Menschen. Es gibt aber auch Länder wie etwa die Niederlande und Belgien, bei denen private Schulträger einen höheren Einfluss als etwa in Deutschland oder Italien haben.

Inzwischen ist es für die Gewinnung eines religionspädagogischen Gesamtbildes leichter, mit denjenigen Ländern zu beginnen, die in der Regel keinen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen vorsehen. Dies sind im wesentlichen Frankreich und Slowenien – beide übrigens katholisch geprägten Länder mit einer ausgeprägten katechetischen Tradition.

Abgesehen von Elsass und Lothringen findet aufgrund der Gesetzgebung zur strikten Trennung von Kirche und Staat aus dem Jahr 1905 in Frankreich kein schulischer Religionsunterricht statt. In den letzten Jahren hat es allerdings über die in den Pfarrgemeinden von je her stattfindende Sakramentenkatechese hinaus mehrere Aufweichungen gegeben: Einerseits wird Schulseelsorge vermehrt zugelassen und gefördert, andererseits erscheint in den schulischen Lehrplänen plötzlich die Sorge um „die religiöse Realität“ (le fait religieux). Auch die Einrichtung des ersten islamischen privaten Gymnasiums hat Bewegung in die Diskussion zum Verhältnis von Schule und Religion gebracht. Eine Wiedereinführung von Religionsunterricht ist zwar in Frankreich nicht zu erwarten, wohl aber eine intensivere Auseinandersetzung darüber, was Religion und speziell auch die christliche Religion für die heutige Gesellschaft zu sagen hat.

Während also etwa 15% der jungen Europäer keinen schulischen Religionsunterricht angeboten bekommen, gilt für eine etwa gleich große Gruppe ein Angebot auf nicht-konfessioneller Basis. Dies betrifft vor allem Länder wie Großbritannien, Schweden, Dänemark, aber auch in gewisser Weise Griechenland und Zypern. Interessanterweise handelt es sich um religiös ursprünglich ziemlich homogene Regionen, die durch die anglikanische Kirche in Großbritannien, die Lutheraner in Skandinavien und die Orthodoxen in Griechenland und Zypern geprägt werden. Von daher gesehen ist die Realität des Religionsunterrichts auch stark durch das religiöse und gesellschaftliche Umfeld geprägt. Eine allgemeine Werterziehung auf christlicher Basis sieht in Dänemark anders aus als in Zypern, im deutschen Bundesland Bremen oder Brandenburg anders als in Griechenland oder Wales. Teilweise geht ein offener Anspruch mit einer durchgängig geformten, eher homogenen Realität einher. So ist in Griechenland zwar der Staat der Organisator des Religionsunterrichts, dies aber in Übereinstimmung mit der orthodoxen Kirche und mit der Möglichkeit der Abmeldung für nicht-orthodoxe Kinder. Außerdem gibt es „interkulturelle Schulen“, die etwa 12% der griechischen Schüler erreichen und die für nichtorthodoxe Kinder und Jugendliche eine stärkere Pluralität erleben lassen.

Bemerkenswert ist aber auch das Modell in England, wo die Lehrpläne für den Religionsunterricht von der Bezirksschul- behörde (und deren gibt es über 200!) festgelegt werden. Der Religionsunterricht unterscheidet sich folglich in Nuancen voneinander, zielt aber ganz wesentlich auf gesellschaftliche Integration. Schülerinnen und Schüler lernen beispielsweise die religiösen Feste und Feiern aller Weltreligionen kennen. Sie setzen sich mit ethischen Maßstäben anhand praktischer Beispiele auseinander. Dabei hat der anglikanische Vertreter bei den Lehrplänen ein Vetorecht.

Es scheint so zu sein, dass das angelsächsische Modell etwas in die Jahre, aber auch in die Krise gekommen ist. Der Grund liegt in einer doppelten Zwickmühle: Einerseits fühlen sich die Angehörigen religiöser Minderheiten – und dazu zählen neben pakistanischen Muslimen und indischen Hindus auch Katholiken- durch den schulischen Religionsunterricht nicht sonderlich berührt. Ihre eigene Tradition wird dort ja nur als Anschauungsbeispiel unter anderen vorgestellt. Auf der anderen Seite führt die fortschreitende Individualisierung der Gesellschaft zu einer häufig sehr wenig entwickelten Kenntnis eigener christlicher Traditionen unter den anglikanischen Kindern und Jugendlichen. Und schließlich führt das etwas unscharfe Profil dieses Religionsunterrichts zu einem wenig ausgeprägten Interesse an einer gut qualifizierten Ausbildung. Das Fehlen motivierter und qualifizierter Religionslehrer ist daher heute schon eines der Hauptprobleme des Religionsunterrichts in England.

So ist es vielleicht kein Zufall, dass der konfessionelle Religionsunterricht in Europa die weitaus häufigste Form schulischer religiöser Erziehung und Bildung darstellt. Über zwei Drittel aller jungen Europäer haben Zugang zu einer der vielfältigen Formen katholischen, evangelischen, orthodoxen, jüdischen oder islamischen Religionsunterrichts in der Schule. Erstaunlicherweise gilt dies nicht nur für die „EU der 15“, sondern auch für die „EU der 25“ und darüber hinaus. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass in zahlreichen osteuropäischen Ländern der Zusammenbruch der kommunistischen Regierungen mit einer Neubesinnung auf tragende Werte in der Gesellschaft zusammen fiel. Den Kirchen – und in Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn, aber auch Kroatien- besonders der katholischen Kirche kam dabei zugute, dass sie lange Jahre der Repression oder doch des gesellschaftlichen Abseits relativ intakt hatten überwinden können. Richtig ist allerdings auch, dass Elemente kirchendistanzierter Individualisierung inzwischen auch in Polen, erst recht aber in Ländern wie Tschechien und Ungarn die Lebensform nicht weniger Menschen bestimmen. Hoffnungen wurden also nicht nur erfüllt, sondern zu einem Teil auch wieder enttäuscht.

Jedenfalls gibt es in Litauen, in Polen, in Tschechien, in Ungarn und in der Slowakei, aber auch in Kroatien und in Rumänien katholischen Religionsunterricht.

Rumänien ist deshalb interessant, weil es dort – erstens – bereits seit 1990 Religionsunterricht gibt, also recht schnell nach der politischen Wende, weil dort – zweitens- der Religionsunterricht in den ersten acht Schuljahren als Pflichtfach gilt, andererseits aber – drittens- die religiöse Pluralität der Rumäniens mit Orthodoxen, römisch-katholischen und griechisch-katholischen Christen, ferner Reformierten und Baptisten spiegelt. Dies gilt auch für die Ausbildung der Religionslehrer an theologischen Universitätsfakultäten. Das Schulfach Religion gehört zur Fächergruppe „Mensch und Gesellschaft“, zu der auch Geschichte, Erdkunde, Sozialkunde, Philosophie und Psychologie gehören. Den Eltern wird allerdings das Recht zugesprochen, ihre Kinder gegebenenfalls vom Religionsunterricht abzumelden (Schulgesetz von 1995).

Die Teilnahme am schulischen Religionsunterricht hängt stärker vom gesellschaftlichen Umfeld als von den gesetzlichen Regelungen ab. Beispielsweise nehmen in Italien etwa 93% aller Kinder und Jugendlichen am katholischen Religionsunterricht teil, obwohl sie sich dafür ausdrücklich anmelden müssen. Generell ist in Spanien und Portugal ähnlich wie in Deutschland die im Religionsunterricht vorherrschende Perspektive eine bildungstheoretisch und didaktisch, aber auch religionspädagogisch und diakonisch begründete Begleitung von jungen Menschen durch Erschließung religiöser Wirklichkeit, speziell im Kontext der eigenen Glaubensgemeinschaft.

Dass in Polen teilweise noch das Konzept von der „Katechese in der Schule“ verfolgt wird, hängt sicherlich mit der fast durchgehend katholischen Prägung der Gesellschaft zusammen, die eine katholi- sche Identität als „Normalfall“ ansieht. Umgekehrt ist in Tschechien die Teilnahme am katholischen Religionsunterricht Sache einer engagierten Minderheit von Schülern und ihrer Eltern, da ein „selbstverständliches“ Bekenntnis zum (katholischen oder auch protestantischen) Christentum in Tschechien nicht durchgängig erwartet werden kann. Folglich ist der konfessionelle Religionsunterricht in Tschechien wie auch in Ungarn ein freiwilliges Wahlfach.

Andererseits ist in Litauen und Lettland eine Praxis entstanden, bei der Eltern zunächst konfessionellen Religionsunterricht beantragen müssen, bevor er eingerichtet wird. Dies ist aber nur eine andere Form eines „Wahlfachs“.

Ob man sich zum konfessionellen Religionsunterricht anmelden muss, ihn vorgängig zu beantragen hat oder sich von ihm abmelden kann, das sind historische Ausformungen, die die hohe Sensibilität des Themas Gewissens- und Religionsfreiheit in der öffentlichen Schule zeigen. Gründe lassen sich für jedes Modell finden, bewähren aber müssen es sich in der gesellschaftlichen Praxis. Und hier hat sich in den letzten zehn Jahren eher ein anderer Trend aufgetan, der anhand der Frage der Verbindlichkeit der Fächergruppe „Mensch, Religion, Ethik“ erörtert werden kann.

Wenn nämlich Religionsunterricht Teil des allgemeinen Lehrplans an öffentlichen Schulen mit bestimmten Absicherungsmechanismen ist, dann stellt sich grundsätzlich die Frage nach dem Angebot für diejenigen Schüler, die einen konfessionell geprägten Religionsunterricht nicht nutzen können oder wollen. In Deutschland hat sich hier die Redeweise vom „Ersatzfach“ etabliert, in anderen Ländern spricht man vom „Alternativfach“. Typisch für die Einrichtung eines solchen Fachs wie z.B. „Ethik“ oder „Werte und Normen“ ist zunächst eine heftige Diskussion, ob es sich hier nicht um eine Art Konkurrenz zum Religionsunterricht handelt. Eine solche Auseinandersetzung spielt sich gegenwärtig in Österreich ab. Einige Zeit später legen sich die Emotionen meist, und es macht sich eine pragmatische Sichtweise breit, die damit argumentiert, dass die „Alternative“ zum Fach Religion ja nicht so sehr eine Freistunde sein könne. Faktisch bedeutet dies, dass entweder konfessioneller Religionsunterricht oder Ethik zum „Wahlpflichtfach“ werden.

Folge dieser Ausgestaltung kann – wie am Beispiel Rumänien vorgetragen- die Zusammenfassung mehrerer geisteswissenschaftlicher Schulfächer in eine Fächergruppe „Mensch, Religion, Gesellschaft“ sein. Dies hat dann Vorteile, wenn dadurch der schulische Charakter des konfessionellen Religionsunterrichts wie z.B. Notengebung, Versetzungsrelevanz, Einbindung in den Lehrplan abseits von Randstunden, Religionslehrerausbildung deutlicher durchgesetzt werden kann als bei einem reinen Solitärfach. Beispielsweise hat es in Italien, wo der Religionsunterricht nach dem Konkordat von 1984 ein reines „Anmeldefach“ ist, bis zum Jahr 2004 gedauert, bevor die Religionslehrer in ihrem rechtlichen Status den anderen Lehrkräften auch nur annähernd gleich gestellt werden konnten.

In einigen europäischen Ländern befindet sich der Religionsunterricht noch stärker als anderswo in der Findungsphase. Während z.B. in Weißrussland die Katholiken und Protestanten noch Staatlich behindert werden, gibt es in der Russischen Föderation erste Versuche für orthodoxen Religionsunterricht, beispielsweise an mehreren Schulen in Moskau. Dabei treten mehrere praktische und auch theoretische Schwierigkeiten auf, ist doch die orthodoxe Kirche sehr zurückhaltend bei allen Fragen, die über das liturgische Leben hinausgehen oder die sich sogar konkret auf Stellungnahmen zum gesellschaftlichen Leben beziehen. Auch in der Ukraine und in Moldawien wird über die Einführung von Religionsunterricht erst noch öffentlich diskutiert. In Bulgarien gab es eine organisatorisch etwas verunglückte Einführung von Religionsunterricht im Jahr 1998/99. Im Kosovo wird islamischer Religionsunterricht diskutiert, in der früheren Jugoslawischen Republik Makedonien orthodoxer und islamischer Religionsunterricht. Hier gibt es aber noch keine definitiven Regelungen, was angesichts des allgemeinen Umbruchs in einigen dieser Länder auch nicht überraschend sein kann.

Zusammenfassend lässt sich der konfessionelle Religionsunterricht in seiner römisch-katholischen, evangelischen oder orthodoxen Form als faktischer Normalfall für etwa zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen in Europa bezeichnen. Religiöse und weltanschauliche Minderheiten sind in der Regel durch eine Abmeldemöglichkeit (oder schon durch das schlichte Nicht-Anmelden in Italien) geschützt. Ferner bestehen z.B. in je eigener Form in Belgien, Italien und Deutschland Möglichkeiten zur Einrichtung eines Religionsunterrichts anderer Religionen oder Konfessionen (z.B. jüdischer oder islamischer Religionsunterricht). Entscheidend für die Praxis ist in vielen Fällen sowohl die rechtliche Ausgestaltung als auch das förderliche oder weniger förderliche gesellschaftliche Umfeld für und von RU.

Wesentlich schient mir vor allem die allmähliche Herausbildung eines faktischen Konsenses über die Einrichtung eines Wahlpflichtbereichs Mensch- Religion-Gesellschaft zu sein. In unterschiedlichen Bezeichnungen besteht in zahlreichen Ländern eine Art Wahlpflichtbereich zwischen Religion und Ethik, der den Bereich der religiösen und nicht-religiösen Werterziehung an der Schule explizit abdeckt und der die Verankerung des konfessionellen Religionsunterrichts vom Lehrplan zur Lehrerausbildung deutlich erleichtert. Dabei lässt sich vor allem eine Argumentationsverschiebung zum Unterrichtsfach Ethik feststellen: Es wird weniger als „Konkurrenz“, sondern als notwendiges Pendant zu konfessionellem Religionsunterricht gesehen, bleibt aber in seiner Ausgestaltung und in der Ausbildung der einschlägigen Lehrkräfte häufig noch prekärer als der konfessionelle Religionsunterricht.

DER RELIGIONSUNTERRICHT DER ZUKUNFT

Die Pluralität Europas hat zu einem vielstimmigen Konzert religiöser Erziehung und Bildung in der Schule geführt. Den europäischen Völkern ist es ausweislich der Regelungen durch Parlamente, Behörden, Kirche und Staat – durchaus wichtig, auch in der Schule einen Raum identitätsprägender Begegnung mit den wesentlichen religiösen Traditionen eines Landes zu ermöglichen. Wie stark diese Sinnerschließung echte religiöse Praxis anregt, fördert oder stützt, hängt über – aus stark vom Umfeld in Familien und Gesellschaft ab. Damit erlebt aber auch jeder junge Mensch in Europa ein Stück weit „seinen“ Religionsunterricht – als interessantes oder langweiliges, als persönlich anregendes oder marginales Fach. Auch wenn jugendsoziologische Studien wie z.B. die verschiedenen Shell-Studien Religion kaum thematisieren, kann andererseits nicht grundsätzlich von der Marginalität von Religion ausgegangen werden. Vielmehr steht zu vermuten, dass das Ausblenden mindestens von Inseln religiöser Realität bei Jugendlichen auch ein Stück weit einen „blinder Fleck“ beim Forschungsdesign spiegeln könnte.

Gerade die Neueinführung von Religionsunterricht in zahlreichen mittel- und ost- europäischen Ländern zeigt allerdings auch, dass das Fach nicht einfach ein historisches Relikt des früheren Staatskirchentums darstellt, sondern in der heutigen Zeit mindestens ebenso stark aus dem Elternwillen und dem Elternrecht zu legitimieren ist: „Die Legitimation des Religionsunterrichts aus dem Elternrecht ist auch bürgergesellschaftlich zu erklären, nämlich als Wahrnehmung eines individuellen Freiheitsrechts bei der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe.“ (M. Baldus 2004, S.13). Im Entwurf einer Europäischen Verfassung kann Religionsunterricht durch Verweis auf Art.II-14 Abs.1 begründet werden, weil religiöse Bildung ein Teil des allgemeinen Rechts auf Bildung darstellt (ebd., S.9).

Über die persönliche Erfahrung hinaus muss sich der Religionsunterricht zwangsläufig den wesentlichen gesellschaftlichen Herausforderungen der Zeit stellen. Mehr und mehr wird allgemein anerkannt, dass Europa nicht nur eine Wirtschafts- und Währungsunion, sondern auch eine Gemeinschaft von Werten und Zielen werden kann und soll. Gerade nach der Bedrohung durch den weltweiten Terrorismus stellt sich hier u.a. die Frage nach den Grenzen und Wirkmöglichkeiten von Toleranz und Dialog, aber auch von Abgrenzung und Absicherung. Interessanterweise sprechen sich nicht wenige Religionspädagogen dort, wo es ansehnliche islamische Minderheiten in Europa gibt – wie etwa in Deutschland und Belgien- für einen islamischen Religionsunterricht aus, der dem partnerschaftlichen Modell einer gemeinsamen Verantwortung durch Staat und Kirche oder aber durch Staat und anerkannter Sprecher einer Religionsgemeinschaft verpflichtet ist.

Betrachtet man Deutschland mit seinen etwa 4 Millionen Muslimen, so liegt ein islamischer Religionsunterricht in deutscher Sprache, mit Lehrplänen, deren Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz geprüft wurde, letztlich im Interesse des demokratischen Zusammenhalts der gesamten Gesellschaft. Und trotz aller Kritik sollte nicht übersehen werden, dass es auch im Islam unterschiedliche theologische Schulen gibt, die nicht alle und nicht grundsätzlich demokratiefeindlich zu nennen sind. Beispielsweise läuft seit Beginn des Schuljahrs 2003/2004 in Niedersachsen ein Modellversuch „Islamischer Religionsunterricht“, der an acht Grundschulen in deutscher Sprache durchgeführt wird und bei dem die inner- islamische Differenzierung etwa unter Sunniten, Schiiten und Aleviten durch die Einrichtung eines „runden Tischs“ zur Lehrplangestaltung ernst genommen wurde.

Auch in Belgien, Großbritannien, Spanien und Österreich gibt es bereits Anfänge eines islamischen Religionsunterrichts, der sich speziell aus den Bedürfnissen von Zuwanderern und ihren Nachkommen speist. Anders dagegen ist die Situation in West-Thrazien, wo eine muslimische Minderheit in Griechenland aufgrund des Vertrags von Lausanne 1923 einen Anspruch auf eigene Schulbildung hat (M. Baldus 2004, S.12).

Mindestens genau so bedeutend ist die Frage nach dem konfessionell- kooperativen und dem ökumenischen Religionsunterricht. Beispielsweise gibt es in der Schweiz, die je nach Kanton einen Flickenteppich unterschiedlicher Regelungen und Erfahrungen zum Religionsunterricht aufweist, in der Diözese Luzern seit 1996 einen ökumenischen Religionsunterricht. Rolf Jost, evangelischer Pfarrer in Adligenswil, schreibt: „Ökumenischer Religionsunterricht entspricht einem konsequenten ökumenischen Denken, es ist auch aus pädagogischen Gründen nicht einzusehen, warum die Klassen in Religion nach Konfessionen getrennt unterrichtet werden.“ Eine gemischte Kommission kümmert sich um die Lehrplangestaltung vor Ort, wobei das Eigengut der einzelnen Konfession gesondert unterrichtet wird. Auch die Hinführung zu den Sakramenten findet außerhalb der Schule statt. Die praktische Erfahrung unter den beteiligten Eltern, Lehrern, Schülern, aber den Vertretern der Kirche vor Ort wird positiv beschrieben: „Die Akzeptanz bei den Lernenden und bei der Bevölkerung ist sehr groß.“ (Jost 2003)

Was in der Schweiz aufgrund der differenzierten Mitwirkungsrechte lokaler Gemeinden leichter möglich ist als beispielsweise in Deutschland, hat dennoch Gewicht für die europäische Gestalt von Religionsunterricht. Die große Frage ist nämlich, ob der Religionsunterricht eher ein Spiegel des verhaltenen bis vorsichtigen ökumenischen Bemühens christlicher Kirchen oder ein Motor der ökumenischen Bewegung sein sollte. Die Antwort darauf wird nicht für alle Verhältnisse des gelebten Lebens gleich lauten. Die Frage sollte aber – auch in der religions- pädagogischen Fachdiskussion- deutlicher als bisher gestellt werden!

Einer der Gründe dafür ist die Notwendigkeit der Lebensrelevanz von Religionsunterricht. Im Rahmen der Korrelationsdidaktik wurde diese im Wesentlichen für das individuelle Leben der einzelnen Schüler und Jugendlichen begründet. Glaube sollte im Licht des Lebens, Leben im Licht des Glaubens erschlossen werden. Phasentheorien der menschlichen Entwicklung wurden in ihrer Bedeutung für religionsunterrichtliche Konzepte überprüft.

Die gesellschaftliche Realität hat sich in der Zwischenzeit aber weiter und anders entwickelt. Ein Lebenslauf in der weltanschaulich pluralen, toleranten und demokratischen Gesellschaft kann heute ohne unmittelbaren Bezug zur Religion auskommen. Noch mehr als vor zwanzig Jahren ist Religion zur Privatsache geworden. Der Religionsunterricht wird zwar als solcher nicht bestritten. Es fällt aber doch schwer, die Brücke vom schulischen RU ins gelebte Leben zu schlagen.

Möglicherweise hat dies auch damit zu tun, dass die religionspädagogische Diskussion sich besonders stark auf die Individualisierungsthese von Religion eingelassen hat. Ohne deren wesentlichen Elemente zu bestreiten, zeigt sich aber immer deutlicher, dass Religion ohne prägende Gemeinschaftserfahrung nur selten nachhaltig wird. Ob die Gemeinschaftserfahrung in der Familie, in der Jugendarbeit, in Taizé oder in der eigenen Pfarrgemeinde zustande kommt, ist zunächst einmal sekundär. Ganz ohne gemeinschaftliche Erfahrung aber läuft religiöse Erziehung und Bildung leer. So gesehen, muss Religionsunterricht heute ein Stück weit innovativer werden, wenn es um die Inszenierung gemeinschaftlicher Erfahrung geht.

Dass dies im Religionsunterricht selbst nur bedingt möglich ist, steht für sich. Über Stilleübungen, Exkursionen, Projekttage und dergleichen sind aber durchaus weitere Perspektiven möglich. Beispielsweise haben viele Gemeinden Partnergemeinden im Ausland. Wie findet dort Religionsunterricht statt? Welche Alltagsbedeutung hat dort Religion?

Dies ist nur ein Beispiel für lebensrelevantes Projektlernen. Wichtig ist vor allem, dass es sich um reale Themen mit realen Projekten handelt, die ein Stück Gemeinschaftserfahrung ermöglichen- ob im sozialen Nahraum oder durch Formen der partnerschaftlichen Nächstenliebe bei Projekten in Afrika, Lateinamerika oder Osteuropa, das spielt letztlich die geringere Rolle. Ein Beispiel für ein solches Projekt ist das von Pfarrer Stefan Hippler geleitete Kinderheim für AIDS-Waisen in Kapstadt/Südafrika. Ich habe noch keinen Jugendlichen kennen gelernt, der sich nicht für nähere Hintergründe eines solchen oder ähnlicher Projekte interessiert, wenn es gelingt, hier einen persönlichen Bezug herzustellen.

Das Ziel religiöser Kompetenz wird ja nur dann ein auch von den Lernenden angenommenes Ziel, wenn sie den Eindruck gewinnen, mit dieser religiöse Kompetenz auch etwas anfangen zu können. Wie nähert man sich der religiösen Lebenswelt anderer im Urlaub? Wie stellt man eine religiös motivierte Frage? Wie zeige ich Respekt vor religiösen Lebensäußerungen, die mir fremd sind? Was befähigt und motiviert zum religiösen Dialog? Dies sind Fragen, die in altersgemäßer Form an jeder Schule, gleich welcher Altersstufe und Lernform, gestellt und eingeübt werden können. Sie würden, mit Begeisterung und didaktischem Geschick umgesetzt, durchaus auch neues religiöses Interesse zu wecken vermögen – und gleichzeitig durch die gelebte Praxis des Religionsunterrichts ein Stück Europa bauen!

LITERATUR

Manfred Baldus, Neue Bürgergesellschaft in Europa- der Beitrag des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen, Vortragsmanuskript XI. Europäisches Forum für schulischen Religionsunterricht, April 2004 in Palermo

Constantin Cucos, Religionslehre als Unterrichtsfach in den Ländern Osteuropas mit orthodoxer Mehrheit, Vortragsmanuskript XI. Europäisches Forum für schulischen Religionsunterricht, April 2004 in Palermo

Ulrich Hemel, Religionsunterricht in Europa – in und außerhalb der Europäischen Gemeinschaft, in: rabs- Religionspädagogik an berufsbildenden Schulen 25, 1993, H.1, S.3-8

Ulrich Hemel, Ermutigung zum Leben und Vermittlung religiöser Kompetenz- Ziele des Religionsunterrichts in der postmodernen Gesellschaft, in: Hans- Ferdinand Angel (Hrsg.), Tragfähigkeit der Religionspädagogik, Graz 2000, 63- 76

Rolf Jost, Ökumenischer Religionsunterricht, in: EuForNews 2003, Nr.3, S.3

F. Pajer (Hrsg.), L’insegnamento scolas- tico della religione nella nuova Europa, Leumann/Turin 1991 12.Shell- Jugendstudie, Jugend 1997, Opladen 1997


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Posted by Anne Häseker

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