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Eine von vielen Folgen der seit 2008 anhaltenden Finanz- und Wirtschaftskrise ist ein öffentlicher Diskurs über den westlichen Kapitalismus und den “Markt”. Ein Merkmal der Debatte ist ihre Uneinigkeit: Marktwirtschaft wird in Zweifel gezogen oder über den grünen Klee gepriesen. Vielen Menschen ist aber unklar, wie nun das richtige Mischungsverhältnis aus staatlichem Eingriff und „freiem“ wirtschaftlichen Handeln sein soll. Es ist daher an der Zeit zu fragen, was wir nun eigentlich wollen; Mehr Markt, weniger Markt- oder einfach einen „besseren“ Markt? (Ulrich Hemel)

 

August 2010

Mehr Markt, weniger Markt, besserer Markt? – Was hilft wirklich gegen die Krise?

get pdf: Mehr Markt, weniger Markt, besserer Markt

 

Für viele Menschen ist die Wirtschafts- und Finanzkrise nach wie vor ein Buch mit sieben Siegeln. Klar- wir wissen, dass die Vergabe von Hypothekenkrediten an Menschen, die weder Eigenkapital haben noch über ausreichendes freies Einkommen verfügen, am Anfang der Kette stand. Schon weniger klar ist, dass solche Hypothekarkredite zusammengefasst und an europäische Banken verkauft wurden, immer in der Hoffnung, dass die Immobilienpreise in den USA fröhlich weiter steigen würden. Und wenn wir endlich bei der Frage landen, wie man nun den Finanzmarkt regulieren könnte, steigt argumentativer Nebel auf- und Politiker wirken eben so hilflos wie jeder Normalbürger.

So kommt es vermehrt zu Anfragen an den „Markt“ selbst. Marktwirtschaft wird in Zweifel gezogen oder über den grünen Klee gepriesen. Vielen Menschen ist aber unklar, wie nun das richtige Mischungsverhältnis aus staatlichem Eingriff und „freiem“ wirtschaftlichen Handeln sein soll. Es ist daher an der Zeit zu fragen, was wir nun eigentlich wollen; Mehr Markt, weniger Markt- oder einfach einen „besseren“ Markt?

Wenn wir vom Markt sprechen, muss unverzüglich von Marktteilnehmern die Rede sein: Unternehmen, Verbrauchern, Staat und viele mehr. Gerade in Deutschland kommt es dann sehr rasch zu einer Polarisierung der Einschätzungen, etwa in der Art, dass der Staat für das „Gemeinwohl“ und Unternehmen für „egoistische Interessen“ zuständig sind.

Die Wirklichkeit ist vielschichtiger weil sowohl der Staat wie auch die Unternehmen durch konkrete Menschen repräsentiert werden, die zu einer bestimmten Zeit in ihrer Gesellschaft aufgewachsen sind und im Kontext zeitgültiger Werte erzogen wurden. Die Wertekultur einer Gesellschaft, wie sie in Familien, Schulen und Kirchen zum Ausdruck kommt, ist letztlich der soziale  Humus, auf dem eine Gesellschaft gedeiht. Dies gilt auch für Abgeordnete, die eines Tages ins Parlament gewählt werden und an der Gesetzgebung mitwirken: Sie nehmen ihre verinnerlichten Werte mit und transportieren sie in den Rahmen der Legislative und des staatlichen Handelns. Es gibt daher einen höchst lebendigen Regelkreis zwischen Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, bei dem es immer auch um die Umsetzung und Durchsetzung bestimmter Wertvorstellungen geht.

Ein aktuelles Beispiel ist der Nichtraucherschutz in Bayern und die Schulgesetzgebung in Hamburg. Die öffentliche Diskussion hat in beiden Fällen dazu geführt, dass vom Gesetzgeber vorgeschlagene Regeln von der Bevölkerung im Rahmen demokratischer Verfahren abgelehnt wurden- mit Folgewirkungen weit über beide Bundesländer hinaus!

Ob es ein ideales Gleichgewicht für die Wertezirkulation zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft gibt, ist nicht sicher. Nachvollziehbar ist es aber, dass einseitige Akzentsetzungen zu Schieflagen führen, die im Lauf der Zeit wieder korrigiert werden müssen. So hat die Gängelung der Wirtschaft durch den Staat in der früheren Sowjetunion zu einer regulierten und unfreien Gesellschaft geführt. Umgekehrt gibt es starke Indizien dafür, dass die Deregulierung des Finanzwesens in vielen Staaten zu unbeherrschbaren Situationen geführt hat, die bis heute problematisch sind. Gerade das Finanzwesen bietet daher einige Beispiele dafür, wie wir durch „weniger Markt“, also mehr und bessere Regulierung Vorteile erzielen können.

Zum einen stoßen die Regelungen für variable Gehälter („Boni“) auf Unverständnis. Dabei ist die Entwicklung zur enormen Einkommensspreizung in Deutschland relativ jung. Noch Ernst Abbé, einer der Gründer des Stiftungsunternehmens Carl Zeiss, legte ein Verhältnis von 1:10 für die Gehälter der Unternehmensleitung im Verhältnis zum Durchschnittsverdienst fest. Sozial akzeptiert wird heute ein Verhältnis von etwa 1: 30. Das entspräche einem Jahresverdienst von rund 1 Mio. Euro. Schwierig wird es, wenn wir von Investment Bankern oder Hedge Fonds Managern sprechen. Dabei werden in Einzelfällen Jahresvergütungen von über einer Milliarde Euro erzielt. Dies ist bei knappen öffentlichen Kassen und zunehmender Wohlstandsgefährdung breiter Schichten nicht mehr vermittelbar- denn ein solches Maß an sozialer Ungleichheit erzeugt Stress. Und es ist auch nicht nötig, sich hier auf eine ungehemmte Marktfreiheit zu berufen. Der Gesetzgeber kann beispielsweise vorschreiben, dass variable Gehälter nicht höher sein dürfen als fixe Gehälter. Das würde Firmen von Haus aus zur Vorsicht motivieren. Und wenn eine Regelung gesetzlich umgesetzt wird, gibt es auch keine Ausreden für exorbitante Gehälter mehr. Ob dann tatsächlich alle Investmentbanker und Hedge Fonds Manager nach London ziehen, wenn es dort keine solche Regel gibt, müsste sich erst noch herausstellen. Interessanterweise geht eine Gesetzesinitiative des Europaparlaments vom Sommer 2010 in die gleiche Richtung der Begrenzung des variablen Gehaltsanteils im Verhältnis zum Fixgehalt.

Eine andere Regelung wurde u.a. vom früheren Notenbankchef der USA, Paul Volcker, vorgebracht. Sie findet sich in stark verwässerter Form auch in der aktuellen Gesetzesinitiative von Präsident Obama zur Regulierung des Finanzwesens. Es geht um die Begrenzung des Eigenhandels der Banken.

Was sich wie ein sehr sprödes Thema anhört, birgt gewaltigen Sprengstoff. Stellen Sie sich eine Bank vor, die im Frühjahr 2010 eine Entscheidung zur Anlage von 1000 Euro treffen muss. Sie kann sich entscheiden zwischen einem Unternehmenskredit und einer griechischen Staatsanleihe. Der Unternehmenskredit bringt 6%, die Staatsanleihe deutlich mehr. Beim Unternehmenskredit gibt es erhebliche Folgekosten, denn es müssen Bilanzen analysiert, Gespräche geführt und operative Fragen beantwortet werden.

Ein rational denkender Ökonom wird in diesem Fall die griechische Staatsanleihe vorziehen. Für mittelständische Unternehmen in Deutschland kann dies bedeuten, dass der Zugang zu Bankkrediten schwieriger und teurer wird. Denn die Banken nehmen das Geld von der Zentralbank und spekulieren „auf eigene Rechnung“. Wunderbar für die Bank, eher bescheiden für investitionswillige Unternehmer.

Ein drittes Beispiel für „mehr Staat“ ist die Ausstattung und Qualifizierung von Aufsichtsbehörden. So war dem Bundesaufsichtsamt für das Finanzwesen (BaFin) sehr wohl bekannt, wie stark Banken mit Zweckgesellschaften „außerhalb der Bilanz“ operierten. Sie griff aber nicht ein- ob mangels Ausstattung, Fachkenntnis oder infolge mangelnden politischen Willens, ist schwer zu entscheiden. Warum sind außerbilanzielle Zweckgesellschaften problematisch?

Das lehrreichste Beispiel ist die fast insolvent gegangene IKB: Sie gründete für 500 Dollar eine Zweckgesellschaft („Rhineland“). Typisches Strickmuster war es in solchen Fällen, dass zwei Banken je 49%  und ein Treuhänder 2% hielten. Das bedeutet, dass eine genaue Aufschlüsselung in der Bilanz der Muttergesellschaft nicht mehr nötig war- denn nur Mehrheitsbeteiligungen werden konsolidiert. Nun gaben die handelnden Banken (so auch im Fall der IKB) millionenschwere Patronatserklärungen ab, d.h. Verpflichtungen, für das Obligo der Tochter aufzukommen. Diese Verpflichtungen tauchten in der Bilanz der Bank nicht auf. Völlig legal- und ganz offensichtlich auch ein Fall von Staatsversagen!

Natürlich werden einzelne Regelungen das Hase- und Igel-Spiel zwischen Staaten und intelligenten Investoren nicht beenden. Trotzdem ist Risikomanagement mehr als ein Schlagwort. Andernfalls kommen wir zu einer Anarchie der Märkte mit einer Tendenz zum sozialen Darwinismus, der nicht im Interesse einer offenen, demokratischen Gesellschaft sein kann!

Es wäre allerdings verfehlt, nur Beispiele für „mehr Staat und weniger Markt“ anzuführen. Schließlich kombiniert jede Form des Wirtschaftens Kooperation und Wettbewerb unter der Bedingung der Knappheit. Es ist die historische Aufgabe jeder Gesellschaft, ein jeweils aktuelles Gleichgewicht zwischen Kooperation und Wettbewerb, Regulierung und Deregulierung, staatlicher Kontrolle und freien Märkten zu finden.

Ein Beispiel für überregulierte Bereiche, bei denen der Ruf nach „Mehr Markt!“ trotz aller Krisenerfahrung sinnvoll ist, lässt sich im Gesundheits- und im Bildungswesen, im Energie- und im Transportsektor finden.

So traut unser Staat jedem erwachsenen Bürger die Entscheidung zu, ob er sein Fahrzeug Vollkasko-, Teilkasko- oder lediglich im Rahmen der gesetzlichen Versicherungspflicht absichern möchte. Im Gesundheitswesen ist dies nicht der Fall. Hier entscheiden weitgehend anonyme Gremien darüber, was der aktuelle Stand der medizinischen Erkenntnis ist und wie viel davon im Rahmen der allgemeinen Krankenversicherung beim Bürger ankommen soll. In der Folge führt dies zu gigantischen Fehlallokationen im System, zu sehr hohen Verwaltungskosten und allgemeiner Unzufriedenheit- trotz des besten Willens aller Beteiligten.

Wer aber stärkere demokratische Beteiligung vorschlägt, über denen fallen die Lobbyisten vielfältiger Interessen gerne her. Was soll unmöglich daran sein, die Bürger – wie es übrigens in etwa in der Schweiz der Fall ist- frei darüber entscheiden zu lassen, welche Art von Zusatzversicherung sie für den Fall der Fälle abschließen möchten? Eine- dann aber kostengünstigere- Pflichtversicherung würde gleichwohl alle Maßnahmen der Notfallmedizin und alle akuten Krankenhausaufenthalte abdecken können.

Auch die Bildungspolitik folgt in Deutschland nach wie vor dem Modell des sozialen Fürsorgestaats. Der hat seine Berechtigung, sollte aber private Initiativen nicht ersticken. Ein Beispiel für „mehr Markt“ im Bildungswesen ist das „Bildungssparen“, wie es vom BKU (Bund katholischer Unternehmer) und vom Institut für Sozialstrategie vorgeschlagen wird: Hier fördert der Staat – ähnlich wie beim Bausparen- das Bildungssparen, indem er am Jahresende eine „Bildungsprämie“ für alle zahlt, die monatlich 50 oder 100 Euro für ihre Kinder oder Enkelkinder angespart haben. Läge diese Prämie bei maximal 300 Euro für einen Sparbetrag von 1200 Euro, könnten pro eingesetztem Euro Steuergeld immerhin 5 Euro in das Bildungswesen fließen (nämlich 1200+300= 1500 Euro!). Es wäre dies ein wenig aufwändiger Beitrag zur Förderung von Eigenverantwortung und zur Verbesserung der Finanzierung im Bildungssystem! Regionale Bildungsfonds- so wie er in Laichingen (Baden-Württemberg) eingerichtet wurde- könnten die Initiative auch für bildungsferne und finanzschwächere Familien einerseits, großherzige und finanziell besser gestellte Alleinstehende und kinderlose Paare andererseits zugänglich machen!

„Mehr Markt“ ist aber auch im Energiesektor und im Transportwesen mehr als ein Schlagwort. Nach wie vor machen die vier Oligopolisten EnBW, EON, RWE und Vattenfall große Teile des deutschen Energiemarkts unter sich aus. Und die Verhinderung von Fernbus-Verbindungen ebenso wie die vielen sichtbaren und unsichtbaren Hindernisse für effektiven Wettbewerb auf der Schiene sind die unmittelbare Folge veralteter Gesetze und eines nach wie vor zu großen öffentlichen Schonraums für ein einzelnes Unternehmen, den früheren Staatsmonopolisten Deutsche Bahn. Die Verbesserung von Lebensqualität zugunsten aller hier lebenden Menschen benötigt also sehr wohl Aufmerksamkeit für diejenigen Bereiche in Staat und Gesellschaft, die noch immer eher über- als unterreguliert sind!

Das Ziel eines „besseren Markts“ ist nur dann erreichbar, wenn eine Demokratie mehr ist als die ritualisierte Abfolge von Wahlhandlungen. Wir brauchen eine lebendige Diskussion gerade über die Grenzen des Staates, aber auch über die Grenzen des Marktes. Genau dieser Königsweg des „Ringens im Dialog“ aber macht eine lebendige und handlungsfähige Demokratie aus!

 

 

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Posted by Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel

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