Abstract [de]: Kann etwas sozial sein, was dem Grundsatz der Gleichbehandlung offensichtlich widerspricht? Ja, kann es. Ulf D. Posé über das Verhältnis von Individuum und dem sozialen Grundsatz der Gleichbehandlung.


August 2013

Moralisches Missverständnis: Wir müssen alle gleich behandeln

Erschienen in: managerSeminar, Heft 185, August 2013

Wenn ein Unternehmen einen Betriebs­ kindergarten einrichtet, ist das sozial. Sollte man meinen. Denn schließlich ist das eine große Hilfe für alle Eltern, die in dem Betrieb beschäftigt sind. Zugleich werden mit einer solchen Einrichtung aber auch Privilegien für einen Teil der Beleg­schaft geschaffen, während der Rest leer ausgeht. Ist das so gesehen immer noch sozial? Müsste es nicht einen Ausgleich für alle Nichteltern geben, die von der Sozialleistung ihres Arbeitgebers nicht profitieren?Kann etwas sozial sein, was dem Grundsatz der Gleichbehandlung offensichtlich widerspricht?

Ja, es kann. Es muss sogar. In unserer Gesellschaft erleben wir derzeit eine Tendenz zur Gleichmacherei, die sich hinter dem Wort sozial versteckt: Alle Menschen müssten gleich behandelt werden, nur so sei ein ethisches und gerechtes Miteinander zu gewährleisten. Doch das Gegenteil ist der Fall. Wenn man alle Menschen gleich behandelt, wird man niemandem mehr gerecht. Gleichmacherei ist unmenschlich, weil Men­schen nicht gleich sind. Wir haben unter­ schiedliche Talente, Wünsche, Bedürfnisse, Neigungen, die uns als Person einmalig und einzigartig machen. Diese Einmaligkeit und Einzigartigkeit gilt es zu berücksichtigen, wenn wir einen Menschen ethisch einwand­ frei behandeln wollen. Wer alle Menschen gleich behandelt, nimmt ihnen jegliche Individualität.

Die Idee, dass Menschen immer gleicher werden, hatte als Erster wahrscheinlich der Jesuit Pierre Teilhard de Chardin. Er be­schrieb eine fortlaufende Entwicklung, die zunächst aus chemischen, dann aus biolo­gischen und irgendwann aus sozialen Pro­zessen besteht. Diese sozialen Prozesse schließlich würden die Menschen auf den Weg zu etwas Überindividuellem führen. Die ganze Menschheit könnte nach Teilhard de Chardin irgendwann ein einziges großes Lebewesen sein, bestehend aus vielen gleichenTeilen. Der Vergleich mit einem Termitenhaufen drängt sich auf. Ich hoffe im Sinne einer menschenwürdigen Ethik, dass es nie dazu kommen wird. Ich hoffe, dass der einzelne Mensch auch weiterhin etwas gilt.

Deswegen darf Gleichbehandlung nicht sein. Es ist ethisch erlaubt, ja sogar erfor­ derlich, dass wir Menschen individuell behandeln. Dass wir bereit sind, zu berück­sichtigen, dass Menschen unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen. Dass wir das Person­-Sein in den Mittelpunkt unseres Miteinanders stellen, nicht das Soziale, das immer häufiger als Gleichheit ausgelegt wird. Die Überbetonung des Sozialen be­ruht ohnehin auf einem Missverständnis. Wir überschätzen seine Bedeutung für unser Person­-Sein. Doch es sind sechs Einfluss­größen, die den Menschen ausmachen: Jeder Mensch ist zunächst ein Individuum, mit einem Mix an Bedürfnissen und Eigen­schaften, die mit keinem anderen Menschen identisch sind. Zweitens sind wir soziale Lebewesen. Das heißt aber nicht, dass wir gleich sind, sondern dass wir abhängig sind voneinander. Wir wären ganz sicher gestor­ben, wenn sich nach unserer Geburt nicht jemand um uns gekümmert hätte.

Wir leben drittens in einer besonderen Welthaftigkeit, einem Umfeld, in dem wir groß geworden sind oder aktuell leben. Die Welt eines Metzgers ist eine andere als die Welt eines Rechtsanwaltes. Wir haben als vierten Faktor die Grenzhaftigkeit. Das heißt, wir leben in gewissen Schranken – schicksalhaften, wie dass Männer keine Kinder bekommen können, oder selbst gewählten, wie wenn jemand heiratet und damit eben­ falls eine Grenze gezogen hat. Als fünften Faktor gibt es die Geschichtlichkeit. Jeder Mensch hat eine sehr persönliche Geschich­te, die sich ändern kann, selbst wenn die historiografischen Daten dieselben bleiben. Und als letzten Faktor gibt es noch die Trans­zendentalität, also die Vorstellung, dass etwas größer ist als man selbst. Diese sechs Elemente machen uns als Menschen aus. Und gerade weil es so ist, sollten wir wieder mehr das Individuelle, die Ungleichheit berück­sichtigen. Alles andere wäre unmenschlich.

Posted by Ulf D. Posé

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