Abstract [de]: Religiöse Erziehung an der öffentlichen Schule wird immer wieder hinterfragt. Wieso kann eigentlich die öffentliche Schule den Auftrag übernehmen, auf einem so sensiblen Gebiet wie der religiös-weltanschaulichen Prägung einen eigenen Beitrag leisten zu wollen? Und führt nicht das Zusammenwirken mit Kirchen und Religionsgemeinschaften zu einseitiger Privilegierung? Wer in Theorie und Praxis religionspädagogische Verantwortung übernimmt, tut gut daran, diese Fragen sehr ernst zu nehmen. Sie werden in den nächsten 10 Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit auch politische Aufmerksamkeit finden.


Juni 2014

Warum Religionsunterricht zum Anwalt der Freiheit wird

Der schulische Religionsunterricht vor dem Anspruch religiöser Selbstbestimmung

1. Die Frage nach Zielen religiöser Erziehung ist und bleibt facettenreich.

Religiöse Erziehung an der öffentlichen Schule wird immer wieder hinterfragt. Wieso kann eigentlich die öffentliche Schule den Auftrag übernehmen, auf einem so sensiblen Gebiet wie der religiös-weltanschaulichen Prägung einen eigenen Beitrag leisten zu wollen? Und führt nicht das Zusammenwirken mit Kirchen und Religionsgemeinschaften zu einseitiger Privilegierung? Wer in Theorie und Praxis religionspädagogische Verantwortung übernimmt, tut gut daran, diese Fragen sehr ernst zu nehmen. Sie werden in den nächsten 10 Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit auch politische Aufmerksamkeit finden.

Dabei lohnt es sich, verschiedene Perspektiven zu unterscheiden, die im Begriff der religiösen Erziehung wie in einem Kaleidoskop zusammenfallen. Ich beschränke mich auf einige Ausschnitte.

So könnte die kirchliche Perspektive stärker auf die institutionellen Interessen kirchlicher Organisationen in ihrer je eigenen Verfasstheit, aber auch ausgehend von Gestaltungen der kirchlichen Zivilgesellschaft in Pfarrgemeinde, Jugendarbeit und vielen anderen Gruppierungen  gelesen werden. Die schulische Perspektive ließe sich im Blick auf veränderliche gesellschaftliche und politische Kontexte, aber auch von einer Theorie der Schule her auslegen, die beispielsweise für religiöses Lehren und Lernen Raum bietet oder gerade nicht bieten will. Die pädagogische Perspektive wird weder in einer Theorie des Subjekts noch in einer Bildungstheorie aufgehen, aber sehr wohl Fragen nach den Subjekten von Erziehung und somit auch religiöser Erziehung sowie den zugrunde liegenden Annahmen zu Bildungsprozess, Bildbarkeit und legitimen pädagogischen Handlungen beisteuern.

Spricht man von religiöser Erziehung, so wird eine soziologische Perspektive darüber hinaus den Wandel des modernen Familienbegriffs thematisieren, vielleicht aber auch die biographischen Meilensteine verschiedener Erziehungsgenerationen zur Sprache bringen. In religionspädagogischer Hinsicht ist die Frage nach den individuellen Perspektiven der Lehrenden und der Lernenden von zentraler Bedeutung , etwa im Sinn eines Berufsethos von Religionslehrerinnen und Religionslehrern und im Spiegel der Frage nach der Konstruktion persönlicher Identität gemäß der Frage: Wer will eigentlich religiös lernen, und was ist Lerngegenstand?

Damit nicht genug. Denn bei aller Ausschnitthaftigkeit des Gesagten ist zumindest die historische Perspektive zu ergänzen, so etwa hinsichtlich der vielen Wandlungen religiöser Erziehung im 20.Jahrhundert (vgl. U.Hemel 1988, 421-542). Da spannt sich speziell für den katholischen Religionsunterricht der Bogen vom Ziel der Überwindung religiöser Unwissenheit bis zum kerygmatischen Postulat, der „Glaube“ solle Ziel religiöser Erziehung sein; da reicht das Spektrum vom „mündigen Christen“ bis zur „reifen Religiosität“ und – seit einigen Jahren- zur „religiösen Kompetenz“. 

2. Der Religionsunterricht ist an der Schnittstelle zwischen öffentlicher und privater Erziehung ein Protagonist religiöser Selbstbestimmung junger Menschen

Die Frage nach Zielen religiöser Erziehung im Kontext des schulischen Religionsunterrichts erfordert weitere Fokussierungen. Denn dieser im deutschen Grundgesetz von 1949 Art.7.3 verankerte Religionsunterricht ist in verschiedener Hinsicht dialektisch geprägt: Er ist öffentlich durch die Öffentlichkeit der Schule und des Schulwesens (Lehrpläne, Verfahren, Staat, Kirche); er ist zugleich höchst privat durch die Schnittstelle mit dem „Tabuthema Religion“. Hintergrund sind plurale und divergierende  Lebenserfahrungen mit „Religion und Kirche“ im Alltag junger Menschen- und im Leben der beteiligten Religionslehrer und Religionslehrerinnen. Sie sind alle Teil der kirchlichen Zivilgesellschaft, und sie alle sind denk- und sprachfähig zu heißen kirchlichen Themen bis zu Fragen der Kirchenreform.

In diesem Spannungsfeld an der Schnittstelle zwischen öffentlicher und privater Erziehung hat der Religionsunterricht eine spezifische Aufgabe, die zugleich schul- und bildungstheoretisch, aber auch religionspädagogisch begründet werden kann: Er fördert die selbstbestimmte Orientierungs- und Handlungskompetenz junger Menschen im religiös-weltanschaulichen Bereich.

Dadurch trägt er generell zur Selbstbestimmung im Sinn elementarer Orientierungs- und Handlungskompetenz junger Menschen bei. Vorausgesetzt ist hier, dass solche Selbstbestimmung junger Menschen überhaupt ein Ziel von Schule ist. Mitgesagt ist damit,  dass es einen Mehrwert der Schule und des schulisch-institutionellen Lehrens und Lernens auch im Bereich des Weltanschaulich-Religiösen gibt, und zwar sowohl im Blick auf den einzelnen jungen Menschen wie im Blick auf die Förderung von Demokratie im Gemeinwesen und die Ziele der mithandelnden Kirchen und Religionsgemeinschaften.

Der Religionsunterricht ist, so gesehen, parteilich und wertegebunden, aber eben zuallererst  im Blick auf das „handelnde Subjekt“, den einzelnen Schüler oder die einzelne Schülerin. Denn durch die Förderung „religiös-weltanschaulicher Selbstbestimmung“ trägt der Religionsunterricht in einzelnen Fällen die „Emanzipation“ von der religiösen Familiengeschichte bei, etwa weil er Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten anbietet, die aus Verstrickungen lösen oder zumindest neue Gestaltungsmöglichkeiten anbieten. 

Denn es gibt noch immer Familien mit einem engen und beängstigenden Verständnis von Religion und Kirche. Ebenso gibt es Familien, die religiöse Fragen auch dort ausklammern, wo sie im Leben junger Menschen regelmäßig aufzutauchen pflegen!  Der Beitrag des Religionsunterricht für die Selbstwerdung und Identitätsfindung junger Menschen zielt daher, auch in seiner sozialen Struktur und in seiner institutionellen Gestalt, auf das „innere Selbst“, die „spirituelle Identität“ und – anders gesagt- die  erwähnte „religiös-weltanschauliche Selbstbestimmung“ der Schülerinnen und Schüler. Schulischer Religionsunterricht ist somit eine praktische „Einübung in Religionsfreiheit“ und nicht, wie es eine große Tageszeitung kürzlich im Streit um den Ethikunterricht an Grundschulen titulierte, ein Privileg der Kirchen.

Dies gilt auch und speziell in einer religiös pluralen und weithin säkularen Gesellschaft. Denn die Fragen nach Lebensorientierung und Lebensgestaltung sind anthropologisch fundiert und motiviert, auch wenn sie didaktisch auf der Höhe der Zeit umzusetzen sind und strikt subjektorientiert entfaltet werden sollten. 

Zurückzufragen ist dann freilich, ob die anthropologische Fundierung den Sprung zu einem speziell christlichen Religionsunterricht zulässt. Die Kurzfassung einer aus meiner Sicht legitimen Antwort auf eine auch hier reichhaltige Diskussion lehnt sich an die Analogie vom Sprachenlernen an: Es gibt viele Sprachen, aber jeder Mensch hat eine Muttersprache. Das anthropologisch fundierte Fragen nach Lebensziel und Lebenssinn manifestiert sich in vielen geprägten Religionen. Aufgabe eines Gesetzgebers und einer Gesellschaft ist es dann, nicht über religiöse Wahrheiten zu befinden, sondern Spielregeln zu suchen, damit die in einem Land wesentlichen religiösen Traditionen jungen Menschen im Sinn eines gedeihlichen Zusammenlebens in der demokratischen Gesellschaft zum Nutzen gereichen- einfach weil sie Freiheit und Selbstbestimmung in einem sensiblen Bereich einüben.

3. Religionsunterricht ist sperrig gegenüber vielfältigen Anmutungen pädagogischer oder theologischer Funktionalisierung

Das Ziel religiöser Selbstbestimmung ist kein Selbstläufer, sondern muss auf dem Weg einer differenzierten Förderung religiöser Kompetenz und religiöser Kompetenzen entfaltet werden. 

Dabei gilt zuallererst: Jede Biographie ist einzigartig. Wenn Schule  den einzelnen Menschen in der Spannung zwischen gesellschaftlichen Erwartungen (z.B. im Wirtschaftsleben) und persönlichen „Lebensthemen“ fördert, so nimmt der Religionsunterricht am Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule in höchst eigenständiger Weise teil, gerade weil er sich gegenüber vielfältigen Funktionalisierungsanmutungen als sperrig erweist.

Viele Zeitzeugen haben noch erlebt, wie stark im 20.Jahrhundert binnenkirchliche Verhaltenserwartungen Teil des Bildungsauftrags des Religionsunterricht werden sollten. Noch vor gar nicht langer Zeit war die Religionsnote für den Abschluss eines Ausbildungsvertrags wichtig, weil sie als Indikator von „Sitte, Anstand und Moral“ galt. Solche, aber auch vergleichbare Erwartungen im Sinn eines „kirchlichen Bildungsauftrags“ sind in der heutigen Gesellschaft diffus geworden. 

Eine Verständigung über Ziele von Religionsunterricht ist angesichts unterschiedlicher Formen von gemeindenaher und gemeindeferner Kirchlichkeit, aber auch von eher gemeinschaftsorientierter und eher individualistischer Religiosität und Spiritualität nur noch schwer erreichbar. Parallele Diskurswelten treffen aufeinander und scheinen sich häufig virtuos zu verfehlen- auch wenn ich hier nicht gleich auf konstruktivistische Ansätze und ihre Kritik (H.Mendl 2013, R.Englert 2013) zu sprechen kommen möchte.

Wer nach präzisen Unterscheidungen zur Zielbestimmung des Religionsunterrichts sucht, könnte sich beispielsweise folgende Fragen stellen:

  • Geht es um das Kennen-Lernen der Formenvielfalt der Weltreligionen?
  • Geht es um das „Einführen“ in das Leben der Kirchengemeinde?
  • Geht es um das „Einüben von Wahlfreiheit“ vor einem vielfältigen Angebot auf dem Markt religiöser Meinungen und Praktiken?
  • Geht es um ethisch orientierte Werterziehung als Garant gesellschaftlicher Kohäsion, etwa im Blick auf „religiöse Toleranz“?

Klar ist bei all dieser Vielstimmigkeit eines: Die Verantwortung für die „Dialektik der Zielentfaltung“ liegt beim einzelnen Religionslehrer und der einzelnen Religionslehrerin, die ich als Regisseure religiöser Bildungsprozesseverstehe. Ihre Aus- und Weiterbildung gehört daher nach wie vor zu den elementaren und unterschätzten Aufgaben religionspädagogischer Theorie und Praxis!

Versteht sich der schulische Religionsunterricht als Protagonist der religiösen Selbstbestimmung junger Menschen, dann kann und wird diese am „einzelnen jungen Menschen“ orientierte Stoßrichtung gegen funktionale Vereinnahmungen religiöser Erziehung durch „Schule“, „Kirche“ und „Gesellschaft“ wirksam werden.

Gerade hier kommt das Ziel der „religiösen Kompetenz“ ins Spiel,  welches ich bereits 1988 in meiner Habilitationsschrift als ein klassisches „Bildungsziel“ im Sinn der „Förderung der Selbstbildung“ und der „Selbstbestimmung“ begriffen habe (vgl. U.Hemel 1988). Das von mir vorgelegte Konzept geht und ging nicht, wie es einzelne Autoren aufgefasst haben, vom Religiositätsbegriff aus, sondern eher von einer umfassenden Subjekt- und Bildungstheorie. Mitgesagt ist dabei, dass es eine solche Subjekt- und Bildungstheorie sein sollte, die für den Raum sozialer Gestaltung in der Schule, aber auch für die Besonderheiten persönlicher und individueller Entwicklungswege speziell im religiös-weltanschaulichen Raum offen ist!

4. Kompetenzen sind mehr als Fähigkeiten und Fertigkeiten oder: Sinnvolle und weniger sinnvolle Blickweisen auf Kompetenzerwartungen

Die Dialektik von Kompetenz und Kompetenzen, von religiöser Kompetenz und religiösen Kompetenzen bildet den Hintergrund für die Spannung zwischen individueller Stoßrichtung und sozialer Gestaltung von Religionsunterricht. Der fächerübergreifende Konsens zur Kompetenzorientierung verdeckt nämlich unterschiedliche Interessenlagen der Beteiligten. So handelt es sich bei der Verwendung des Kompetenzbegriffs in manchen Fällen  um eine eher semantisch-plakative Ablösung von früherer curricularer Begrifflichkeit, beispielsweise beim schlichten Ersatz von „Fähigkeiten und Fertigkeiten“ durch „Kompetenzen“

Insgeheim curricular unterlegte „Kompetenzen“ können daher  funktionale Interessen im Sinn der Abrichtung und Zurichtung für die Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens verdecken. Es ist daher Aufgabe jedes verantwortlichen religionsdidaktischen Umgangs mit dem Begriff der religiösen Kompetenz, die Spannung zwischen einem anthropologisch fundierten Kompetenzbegriff und einer eher sozialisatorischen Perspektive anzusprechen, auszuhalten und aufzulösen!

Der erste Schritt hierbei ist die Verteidigung funktionaler Ansprüche und Zumutungen dort, wo diese sinnvoll und angemessen sind. Denn Menschen sind soziale Wesen und wollen in der Gesellschaft Anerkennung finden. Es ist daher gerechtfertigt, ihnen funktional nötige Fähigkeiten und Fertigkeiten nahe zu bringen. Richtig ist aber auch, dass Menschen in ihren funktionalen Kompetenzen nicht aufgehen, dass sie einen Eigenwert haben, der in ihrer Menschenwürde und- christlich gesprochen- Gottebenbildlichkeit begründet ist (vgl.H.Schilling 1961).

Kompetenzerwartungen gehen auf diesem Hintergrund dann fehl, wenn sie implizit oder explizit den Eindruck vermitteln, der Wert eines Menschen hänge von seinem Bildungsstand, seinem finanziellen Status oder generell seiner Leistungsfähigkeit ab. Genau hier bietet der Religionsunterricht ein Korrektiv! Er ist, leicht überspitzt formuliert, das einzige Schulfach, das sich explizit  gegen eine stark an wirtschaftlichen Interessen motivierte Lehrplangestaltung sperrt. Anders (und wiederum mit leichter Übertreibung) gesagt: Der schulische Religionsunterricht ist nicht vordergründig „nützlich“, sondern einfach nur „sinnvoll“.

Der Wert dieses Arguments ist bildungstheoretisch in meinen Augen von zentraler Bedeutung, auch im Blick auf gegenwärtige und künftige Diskussionen rund um den Status des schulischen Religionsunterricht!  Denn gerade weil der schulische Religionsunterricht junge Menschen in ihrer ureigenen Person ohne Rücksicht auf „funktional“ verwertbare Kompetenzerwartungen anspricht, ist er gewissermaßen der institutionell gefasste Kern einer Kritischen Theorie der Schule

Der Religionslehrer oder die Religionslehrerin kann, darf und muss seine religionspädagogische Kompetenz im Spannungsbogen zwischen „personalem Selbstwert“ und „funktionaler Wert-Erwartung“ realisieren und immer wieder kritisch überprüfen, auch im Blick auf die spezielle biographische Lehr- und Lernsituation der einzelnen jungen Menschen. Und genau deshalb geht der Religionsunterricht als Anwalt religiöser Selbstbestimmung – auch im Rahmen kompetenzorientierter Lehrpläne- niemals in Kompetenzerwartungen auf!

5. Der schulische Religionsunterricht ist als Anwalt religiöser Selbstbestimmung ausgezeichneter Lern-Ort für die Dialektik der Kompetenzbildung

Lehrpläne sind institutionell gefasste und normativ überprüfbare Steuerungs- und Lenkungselemente von Schule. Sie spiegeln gesellschaftliche Veränderungen ebenso wie den Wandel von Erwartungen ihrer Träger, so etwa des Staates und – beim Religionsunterricht – der Kirche.

Die innere Pluralität getaufter junger Menschen im Spannungsbogen zwischen säkular geprägten Familien, Familien mit ausgeprägtem Event-Christentum („Weihnachten, Ostern, Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen“) und aktiven Gemeindemitgliedern hat schon mit dem Synodenbeschluss von 1974 zu einer doppelten Zielsetzung geführt. Beschreiben lässt sich dies mit den Stichworten „Einführung ins Christentum“ und„Achtung vor religiöser Selbstbestimmung“.

Neu war es in der Zeit nach dem II.Vatikanischen Konzil beispielsweise, andere Weltreligionen im Rahmen des katholischen und evangelischen Religionsunterricht möglichst fair vorzustellen. Mit dem korrelationsdidaktischen Konzept wurde die Verbindung von Lebenssituation und Glaubenswirklichkeit in den Vordergrund gerückt. Der symboldidaktische und performativ-handlungsorientierte Impuls setzte diese Linie fort. 

Die zentralen Aufgaben der „Einführung ins Christentum“ und der „Achtung vor religiöser Selbstbestimmung“ bleiben dabei bis heute erhalten.

Mein Werk über „Ziele religiöser Erziehung“ thematisierte vor gut 25 Jahren (1988) erstmals den Begriff der religiösen Kompetenz im Sinn religiöser Urteils- und Handlungsfähigkeit als dem zentralen Ziel religiöser Erziehung. Hintergrund waren anthropologische Reflexionen, die jedoch während der weiteren fachlichen Diskussion wohl  außer Sicht gerieten. Tatsächlich wurde die „Kompetenzorientierung“ eher in ihren  funktionalen Ausprägungen (etwa im Sinn von „Bildungsstandards“) zum neuen Konsensmaß schulischer Lehrpläne.

Die Grundierung des von mir vorgeschlagenen Begriffs der religiösen Kompetenz in der anthropologisch, und wenn man so will, genetisch fundierten Fähigkeit und Notwendigkeit des Menschen, sich selbst und seine Welt zu deuten, hatte ich damals als Weltdeutungszwang und Weltdeutungsfähigkeit beschrieben.

Statt sich auf sinnvolle philosophisch-theologische Traditionen zum Bild des Menschen zu beziehen, zogen es die meisten Religionspädagogen damals jedoch vor, eher religionssoziologische Modelle von Religiosität zu bevorzugen (so etwa das von Charles Glock 1969). Genau dieser forschungsstrategische Schwerpunkt hat aber auch dazu geführt, dass in der Religionspädagogik kein starkes begriffliches Instrumentarium gegenüber funktionalistisch eng geführten Zumutungen von staatlichen und kirchlichen Kompetenzerwartungen vorhanden war.

Im Hintergrund stand vermutlich die Sorge um die Anerkennung der eigenen Wissenschaftlichkeit. Schließlich bedarf es einer gewissen systematischen Kühnheit, eine religiöse Bildungstheorie explizit auf ein zugrunde liegendes Bild des Menschen zu beziehen (vgl. neuerdings B.Grümme 2012). 

Umgekehrt ist die hier angesprochene Vermeidungshaltung kurzsichtig, weil Annahmen über den Menschen zumindest „implizit“ in Forschung, Theoriebildung und Lehrplangestaltung eingehen. Im Gegensatz dazu ist die Kritisierbarkeit offen gelegter expliziter Annahmen auch wissenschaftstheoretisch gesehen vorzugswürdig!

Nun entfaltet sich jeder Mensch im Blick auf seine persönliche Geschichte, seine sozialen Einbindungen und die ihn umgebende gesellschaftliche Realität.  Kompetenzerwartungen sind insoweit grundsätzlich legitim. Die Leuchtkraft der christlichen Botschaft kommt aber erst dort zum Ausdruck, wo der unhintergehbare Eigenwert des Menschen zur Sprache kommt, auch in seiner religiösen Biographie. 

Jungen Menschen zu helfen, ihren eigenen religiösen Lebensweg zu finden, ist daher die vornehmste didaktische, diakonische und theologische Aufgabe des Religionsunterrichts- unabhängig und jenseits aller Kompetenzerwartungen. Pointiert formuliert könnte man also sagen:  Kompetenzbildung ist  immer auch subjektorientierte Förderung des eigenen Lebenswegs oder- klassisch ausgedrückt-  Persönlichkeitsbildung!

6. Durch die Förderung religiöser Kompetenz zielt der schulische Religionsunterricht auf die praktische Realisierung des Menschenrechts auf religiöse  Selbstbestimmung  

Stärker ausgedrückt: Die Fundierung religiöser Erziehung ohne Rückgriff auf leitende Vorstellungen darüber, was Menschen ausmacht, ist ein theologischer und pädagogischer Fehlgriff. Dabei geht es nicht um eine problematische Doppelung von Inhalten der philosophischen und theologischen Anthropologie, wohl aber um den auch wissenschaftsethischen Anspruch, Voraussetzungen des eigenen Denkens und Handelns klar und deutlich aufzuzeigen. Und dies gilt auch für die Religionspädagogik.

Für mich persönlich schließt sich hier ein Kreis. Gerne erwähne ich hier eine Fachtagung zum Thema „Wirtschaftsanthopologie“, die am 1.Februar 2013 in Tübingen gemeinsam mit dem Weltethos-Institut und dem Forschungsinstitut für Philosophie in Hannover organisieren konnte. Denn eine der Initiativen meines 2009 gegründeten Instituts für Sozialstrategie war die Einrichtung einer neuen Disziplin namens Wirtschaftsanthropologie mit dem Ziel, von einer einseitigen Sicht auf den wirtschaftenden Menschen im Sinn des „rationalen Nutzenmaximierers“ (homo oeconomicus) zu einer Balance zwischen der Suche nach dem eigenen Vorteil und dem Bedürfnis nach sozialem Zusammenhalt, nach Kooperation und Anerkennung zu kommen (homo cooperativus). Im Hintergrund steht der Gedanke, dass wir als Menschen in der Spannung zwischen unserer Schöpferkraft, aber auch unserer Verletzlichkeit stehen. In meinem Buch „Die Wirtschaft ist für den Menschen da- Vom Sinn und der Seele des Kapitals“ (Patmos, Ostfildern 2013)  habe ich dies näher ausgeführt.

Auch unter religionspädagogischen Gesichtspunkten sind solche anthropologischen Weichenstellungen Ziel führend. Religiöse Erziehung richtet sich schließlich an junge Menschen, die in ihrer konkreten Bildbarkeit Anteil haben an genau dieser Schöpferkraft und Verletzlichkeit. 

Zum Bildungsauftrag nicht nur desReligionsunterricht, sondern der Schule gehört es daher, ein realistisches Selbst- und Weltbild zu fördern: Wir erziehen weder nur Prinzen und Prinzessinnen, noch diejenigen, die keiner ernst nimmt und sich früh als „Verlierer“ abgestempelt sehen. Die Balance zwischen den Stellgrößen „Verletzlichkeit“ und „Schöpferkraft“ zu finden,  ist Aufgabe jedes Menschenlebens, aber auch der politischen und sozialen Gestaltung von Gesellschaft. 

Mit religiöser Erziehung hat dieser Zusammenhang dort zu tun, wo es um Freiheit und Selbstbestimmung im Raum des Religiösen geht. Es ist Grundtenor der christlichen Botschaft, dass wir uns frei für den Glauben entscheiden können. Freiheit aber ist immer eine Gestaltungsaufgabe. Denn die Qualität einer Entscheidung hängt damit zusammen, wie informiert wir sie treffen. Die Förderung religiöser Kompetenz ist aus diesem Blickwinkel eine sinnvolle Vorbedingung für die Wahrnehmung unseres Rechts auf religiöse Selbstbestimmung.

Dass wir als Christen hier das Thema der Gottebenbildlichkeit anklingen hören, ist kein Zufall (vgl. Hans Schilling 1961). In säkulare Sprache übersetzt sprechen wir von Menschenwürde und von aus ihr folgenden Menschenrechten, zu denen auch die Religionsfreiheit gehört. Diese Religionsfreiheit ist im Grundgesetz geschützt und gewährleistet. Der Bezug auf den schulischen Religionsunterricht in Art.7 GG kann daher im Licht der praktischen Realisierung von Religionsfreiheit gesehen werden. 

Schulischer Religionsunterricht ist damit- wie schon erwähnt- mehr als ein Kirchenprivileg: er ist ein Beitrag zur Realisierung des Menschenrechts auf Religionsfreiheit. Denn ohne hinreichende Bildung kann Freiheit eben nicht kompetent wahrgenommen werden. Und auf eine solche kompetente Wahrnehmung von Religionsfreiheit zielt die Förderung religiöser Kompetenz!

7. Schul- und Bildungstheoretisch zahlt die Förderung religiöser Kompetenz auf eine ganzheitlich verstandene Lebenskompetenz junger Menschen ein

Religiöse Kompetenz als sinnvolles Globalziel von Religionsunterricht steht nicht für sich, sondern steht in Beziehung mit dem grundsätzlichen Bildungsauftrag von Schule im Blick auf die  Gesamtpersönlichkeit junger Menschen. Denn der Bildbarkeit des Menschen entspricht die Bildungsaufgabe von Schule und Elternhaus, und dies gilt auch für den so wesentlichen Bereich der religiös-weltanschaulichen Lebensorientierung.

Das Spannungsfeld zwischen „Kompetenz“ und „Kompetenzen“ ergibt sich somit aus der Entwicklungsaufgabe, die jeder junge Mensch vor sich hat. Wie viele andere Kompetenzen entfaltet sich religiöse Kompetenz in kognitiver, affektiv-emotionaler, kommunikativer und pragmatischer Hinsicht. Ich habe hierfür den Begriff der „Dimensionen von Religiosität“ geprägt, für die es dann je eigene Zielbestimmungen geben wird.

Andererseits bündeln sich alle Kompetenzen einer Person in der Einheitlichkeit ihres Selbst-Seins, ihrer personalen Integrität, ihrem „inneren Selbst“. Dieser Begriff des „inneren Selbst“ bezeichnet den Personenkern oder die personale Identität eines Menschen. Das „innere Selbst“ ist eine sprachliche Metapher für die bestmögliche Realisierung unserer Person, für den „Flow“, für das „ganz da sein“, für das „Glück der Selbstverwirklichung“, für unsere spirituelle Identität.

In früheren Untersuchungen hatte ich das von mir vorgelegte Modell von Religiosität mit fünf Dimensionen vorgetragen. Die fünfte, „das religiöse Ethos“, also die Dimension der subjektiven Relevanz von Religion im eigenen Leben und Erleben, ist eng mit dem Begriff des inneren Selbst und der spirituellen Identität verknüpft. 

Wenn wir von der Bildung des inneren Selbst sprechen, dann geht es um den Inbegriff personaler Freiheit zur eigenen Lebensgestaltung. „Wer bin ich“, „wer will ich werden“ und „wie will ich nach meinem Tod in der Erinnerung anderer Menschen bleiben“, das sind wesentliche anthropologische, aber auch pädagogische und speziell religionspädagogische Fragen.

Anders gesagt: Der schulische Religionsunterricht fördert religiöse Kompetenz, indem er mit jungen Menschen die Fähigkeit zur Ausgestaltung eines eigenen Lebensentwurfs reflektiert. Dass dies in der pluralen Multi-Optionsgesellschaft eine schwierige Aufgabe ist, davon kann jeder, der an einer Schule tätig ist, zahlreiche Fallgeschichten erzählen. 

„Berufswahl und Lebensmodell“ sind zentrale Themen für jeden jungen Menschen. Nun darf man den schulischen Religionsunterricht nicht mit einer Berufsberatung verwechseln. Richtig ist aber, dass die explizite Begegnung mit christlicher Tradition, das Verstehen der eigenen religiösen Familiengeschichte über mehrere Generationen und die allmähliche Herausbildung einer eigenen religiösen Kompetenz im Sinn religiöser Urteils- und Handlungsfähigkeit eine bewusstere Selbststeuerung im Bereich der „Navigation des Selbst“ fördern werden.

Die Verbindung der grundlegenden Dimension des religiösen Ethos mit dem Konzept des „inneren Selbst“ und der „spirituellen“ Identität macht plausibel, dass schulische religiöse Erziehung im Religionsunterricht durch die Förderung religiöser Kompetenz letztendlich auch die „Lebenskompetenz“ junger Menschen positiv fördert und somit auf den ganzheitlichen Bildungsauftrag der Schule einzahlt.

8. Didaktisch und pädagogisch  zielt  die Förderung religiöser Kompetenz auf das Tandem „religiöse Selbstbestimmung“ und „Einführung in das Christentum“

Die Fundierung der Förderung religiöser Kompetenz und allgemeiner Lebenskompetenz im Bildungsauftrag verschafft dem schulischen Religionsunterricht eine starke Stellung im Blick auf seine pädagogische Bedeutung im Bildungsgang der Schule.

Kompetenzorientierter Religionsunterricht steht vor der Doppelaufgabe der Förderung religiöser Selbstbestimmung und der Einführung in das Christentum. Diese Formulierung knüpft bewusst an das Buch des jungen Theologen Joseph Ratzinger 1968 an, als dieser seine damaligen Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis veröffentlichte.

Im Rahmen eines religionspädagogischen Diskurses ist es ungewöhnlich, vielleicht auch wagemutig, ausgerechnet auf diesen Autor, den späteren Papst Benedikt XVI. zurückzukommen, auch weil dieser zeitlebens die Unterscheidung zwischen Katechese und schulischem Religionsunterricht nicht verinnerlicht hat (vgl. dazu U.Hemel 1981).

Nun ist in der Zwischenzeit die kulturelle Fremdheit des Christentums so weit gediehen und der Wettbewerb durch andere Weltreligionen und andere religiöse Angebote so deutlich geworden, dass ich dazu einladen möchte, alte Berührungsängste speziell zum Begriff „Einführung in das Christentum“ über Bord zu werfen. Gemeint ist ja keine indoktrinierende, rein kognitive Engführung. Wer in das Christentum einführen will, wird dies ohne ästhetische Erfahrung, ohne Musik, Liturgie, soziales Leben von Kirchengemeinden und anderen kirchennahen Vereinigungen nicht tun können. Jede echte Begegnung mit dem Christentum trägt folglich kommunikative, emotionale, pragmatische und kognitive Elemente gleichermaßen in sich.

Wenn hier vom Tandem „Einführung in das Christentum“ und „religiöser Selbstbestimmung“ gesprochen wird, dann geht es nicht um eine fehlgeleitete „kirchliche Vereinnahmung“, nicht um eine missionarische Hintertür zum „gläubigen jungen Christen“, sondern um das Begegnungspotenzial des Christentums gerade in seinem Beitrag zu „spiritueller Identität“, „innerem Selbst“ und „religiöser Selbstbestimmung“. Ohne ein Kennenlernen im Sinn der „Einführung“ lässt sich nämlich weder religiöse Kompetenz entfalten noch religiöse Selbstbestimmung wahrnehmen!

Genau an dieser Stelle bewährt sich aber auch die religionspädagogisch und religionsdidaktisch verstandene Ausfaltung meines zuerst 1986 veröffentlichten Modells von Religiosität. Denn jeder einzelnen Dimension von Religiosität entsprechen Lernaufgaben und Lernziele, die klar benennbar und in ihrem Lernfortschritt anhand von Indikatoren zu plausibilisieren sind. 

Wesentlich für die Didaktik des Religionsunterrichts ist es dabei, die Spannung zwischen dem handlungsleitenden Generalziel der „religiösen Kompetenz“ als Ausdruck religiöser Selbstbestimmung und den notwendigerweise konkreten Lehr- und Lernschritten im Sinn unterschiedlicher „religiöser Kompetenzen“ auszuhalten. Gelingt dies, stellt sich bei den betreffenden jungen Menschen das wunderbare Gefühl ein: „Hier geht es ja um mich selbst“ und „Hier darf ich sein, wie ich bin und wer ich bin“.

9. Kompetenzorientierter Religionsunterricht entfaltet sich anhand von prozessbezogene Kompetenzen in den verschiedenen Dimensionen von Religiosität

Die wesentliche anthropologische, pädagogische und religionspädagogische Fundierung von religiöser Kompetenz kann didaktisch nicht gestaltet werden, ohne dass sie auf prozessbezogene Kompetenzen, aber auch konkrete Themenfelder hin ausgelegt würde.

Die Strukturierung dieser didaktischen Gestaltung ist Aufgabe handlungsleitender Lehrpläne. Wichtig ist dabei in meinen Augen, dass Themenfelder und prozessbezogene Kompetenzen nicht in der Weise gegenübergestellt werden, dass sie unproduktive Gegensätze bilden, etwa als ob die „Einführung in das Christentum“ nur thematisch-inhaltlich, nicht aber auch prozessbezogen-kommunikativ realisiert werden könne.

9.1 In der Dimension der religiösen Sensibilität geht es um die Kompetenz des Wahrnehmens, um das Ziel der religiösen Erlebnisfähigkeit und der Achtung der religiösen Erfahrungen anderer. Solche emotional-affektiven Lernziele setzen dann aber auch sinnenhaftes Erleben voraus, sei es durch Musik, durch Unterrichtsgänge in eine nahe gelegene Kirche, durch emotionale Inszenierungen (etwa mit Kerzen und Adventskranz in der Weihnachtszeit) und vieles mehr. Der schulische Religionsunterricht hat wie wenige andere Fächer die Chance, gerade diese emotional-affektiven Wahrnehmungskompetenzen anzusprechen, so dass auf dem Rücken eigener Erfahrung auch die Toleranz für die Erfahrungen anderer wachsen kann.

9.2 In der Dimension der religiösen Kommunikation geht es um das Einüben religiöser Sprach-, Standpunkt- und Dialogfähigkeit. Dazu gehört zwangsläufig ein religiöser Grundwortschatz, der nicht mehr vorausgesetzt werden kann, sondern didaktisch geplant und aufgebaut werden muss. Wer sich nicht um Sprache kümmert, wird selbst auch nur schwer sprechen können. Und wer dialogfähig sein will, muss seinen eigenen Standpunkt kennen und vertreten können. Wenn der Religionsunterricht solche Ziele fördert, wird er selbst „kommunikative Settings“ bereitstellen müssen, die solche Kommunikation fördern. Gerade der biographische Ansatz in der Befragung von Eltern und Großeltern oder auch Freunden und Bekannten aus der Peer Group hat sich dabei in meiner eigenen Praxis als immens förderlich erwiesen.

9.3 In der Dimension der religiösen Inhaltlichkeit wird das Ziel der religiösen Urteilsfähigkeit und der religiösen Bildung angesprochen. Folglich geht es hier um die Prozesskompetenzen des Urteilens und Verstehens. Denn religiöse Aussagen sind kognitiv herausfordernd, weil sie sowohl argumentativ-logischen Kriterien genügen als auch für Paradoxien und Widersprüche offen sein müssen. Didaktisches Ziel in der Dimension der religiösen Inhaltlichkeit ist daher eine zunehmende Fähigkeit zur Differenzierung religiöser Vorstellungen, beginnend mit einem kindlichen Anthropomorphismus bis hin zum verantworteten Mysterium Fidei (etwa der Dreifaltigkeit). 

9.4 In der Dimension des religiösen Ausdrucksverhaltens geht es um das Ziel der religiösenHandlungsfähigkeit im Sinne des Teilhabens, Gestaltens und Für-Sich-Entscheidens. Dem entsprechen auch die entsprechenden Prozesskompetenzen. Dabei möchte ich besonders auf den Aspekt der religiösen Entscheidungsfähigkeit hinweisen. Pragmatisch reicht diese von der kleinräumigen Entscheidung zur Teilnahme an einem Gottesdienst bis zum Mitmachen in einer Jugendgruppe oder zur Wahl eines religiös determinierten Berufs. Es ist daher wesentlich, eine Didaktik der religiösen Entscheidungsfindung zu etablieren und zur praktischen Einübung zu empfehlen. Denn durch den Umgang mit verschiedenen Ausdrucksformen religiösen Lebens wird auch die Fähigkeit zur Übernahme religiöser Rollen gefördert, von der des Gottesdienstteilnehmers bis zu der des Kirchentagsbesuchers, von der des Chat Room Besuchers bis hin zum Mitglied des Kirchenchors.

9.5 Ein so aufgebauter, kompetenzorientierter Religionsunterricht fördert in seinem Aufbau und im Zusammenklang der verschiedenen Dimensionen die Herausbildung personaler Identität, die Gestaltwerdung des inneren Selbst, die Selbststeuerung der eigenen Spiritualität des Lebens und des Alltags. Aus diesem Zusammenklang ergibt sich dann auch die konkrete Ausgestaltung der Dimension des religiösen Ethos, die in der persönlichen Bedeutung von Religion und Glaube für den einzelnen jungen Menschen gipfelt. 

Aus dem Zusammenklang der beschriebenen Dimensionen im Handlungsfeld des schulischen Religionsunterrichts ergibt sich die Fähigkeit, mit lebensgeschichtlichen Wandlungen von Religiosität, mit bedrückenden oder beflügelnden Spitzenereignissen des Lebens umzugehen und in ein spezifisches, persönliches Muster von „Erleben“ und „Deuten“ einzuordnen. Genau das aber ist mit dem Ziel der Förderung religiöser Kompetenz gemeint, denn dann wird diese zum Vehikel der Wahrnehmung persönlicher Freiheit – im Sinn der oben angesprochenen religiös-weltanschaulichen Selbstbestimmung!

10. Fazit: Die wahrgenommene Minderheitsposition des christlichen Glaubens ist nicht nur Gefahr, sondern auch Chance für den schulischen Religionsunterricht

Was verstehe ich im Anschluss an diese Thesen unter einem kompetenzorientierten Religionsunterricht? Hierzu möchte ich zusammenfassend einige wenige Thesen aufstellen:

  • Gerade die an verschiedenen Orten in Deutschland wahrnehmbare, neue gesellschaftliche Minderheitenposition des christlichen Glaubens ist nicht nur Gefahr, sondern auch Chance für den schulischen Religionsunterricht.
  • Aufgrund seiner Auftraggeber „Staat“ und „Kirche“ und im Blick auf die vielfältigen Formen eines gesellschaftlichen Dialogs wird muss der RU in seiner Zielstruktur wesentliche Anliegen aller Beteiligten aufnehmen: Er muss sich folglich der Erwartung stellen, sowohl die individuelle „Befähigung zu religiöser Selbstbestimmung“ wie auch eine sozial eingebundene „Einführung in das Christentum“ anzustreben. Die theologisch fragwürdige konfessionelle Trias braucht dabei keine Rolle mehr zu spielen, denn faktisch steht der RU vielerorts schon heute auch denjenigen Schülern und Schülerinnen offen, die dies wünschen- auch wenn sie nicht getauft sind.
  • Die vom RU getragene und zu leistende Einführung in religiöse Sprache und in religiöses Denken muss und darf den Ambivalenzen, Widersprüchlichkeiten und großen offenen Fragen der Menschheit Rechnung tragen und im schulischen Kontext aufzeigen, dass NICHT alles in und auf der Welt ein-eindeutigen Erklärungen unterliegt. Es ist nicht falsch, hier auf eine mystagogische und spirituelle Dimension des RU hinzuweisen.
  • Zu den Aufgaben von RU gehört auch die lebendige Spannung zwischen einer auf den Persönlichkeitskern bezogenen religiösen Kompetenz mit dem Ziel umfassender religiöser Urteils- und Handlungsfähigkeit auf der einen und den vielen Formen religiöser Kompetenzen in ihren kommunikativen, ästhetisch-emotionalen, kognitiven und pragmatischen Aspekten auf der anderen Seite.  „Abprüfbare“ Kompetenzen sind daher maximal eine Teilmenge dessen, was im RU vermittelt werden kann und soll.
  • Religiöse Kompetenz als „religiöse Urteils- und Handlungsfähigkeit“ verweist ihrerseits zurück auf das je eigene „innere Selbst“, auf die schrittweise Entfaltung von „spiritueller Identität“, auf den Weg von prozessorientierter Bildung und Selbstbildung der betroffenen jungen Menschen!
  • Die Freiheit und Unverfügbarkeit religiöser Selbstbestimmung, wie sie im Stichwort der „religiösen Kompetenz“ zum Ausdruck kommt, darf nicht auf dem Altar nachprüfbarer  oder gar rein instrumentell funktionalisierter Kompetenzorientierung im (rein technischen) Sinn von zu evaluierenden Fähigkeiten und Fertigkeiten geopfert werden. Denn dies würde zu einem reduktionistischen pädagogischen und religionspädagogischen Konzept führen.

Ein schulischer Religionsunterricht, der die skizzierte Spannung aushält, ist zukunftsfähig auch unter den Bedingungen verschärfter Säkularisierung und religiöser Pluralität. 

Denn er ist eingebettet in den sozialen und theologischen Kontext der kirchlichen Zivilgesellschaft. Zugleich richtet er sich an den einzelnen jungen Menschen in seinem Werden und Wachsen. 

So ist er im besten Fall einer der Geburtshelfer des „inneren Selbst“ und einer sozial verantworteten personalen Identität bei den jungen Menschen, die den Akteuren des Religionsunterrichts und allen sonstigen Protagonisten religiöser Erziehung anvertraut sind!

LITERATURHINWEISE:

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Posted by Ulrich Hemel

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