Abstract [de]: Es gibt keinen Tag, bei dem der interessierte Nachrichtenzuschauer nicht durch Berichte über Staaten mit Bürgerkriegen, Flüchtlingsmassen, Hungersnöten, und terroristischen Übergriffen auf Zivilpersonen konfrontiert wird. In diesem Zusammenhang werden häufig Entwicklungsländer auf dem afrikanischen Kontinent wie Sudan, Kongo (D.R.) und Somalia genannt. Ebenso gibt es aber auch Krisenländer im asiatischen Raum: Meist fallen Ländernamen wie Afghanistan, Irak, Syrien und Nordkorea. Doch meist werden all diese Länder, deren Zahl alarmierend hoch ist, zusammen als gefährliche Länder ohne jegliche Hoffnung auf Stabilisation abgetan. Doch was verbindet all diese Staaten und welche Differenzierungen sind erkennbar? Und welche Handlungs- und Lösungsmöglichkeiten bietet eine Kooperation von internationaler Politik und Zivilgesellschaft?


Juli 2014

Zerfallende Staaten – Spielräume zwischen Schwäche und Versagen

Es gibt keinen Tag, bei dem der interessierte Nachrichtenzuschauer nicht mit Bürgerkriegen, Flüchtlingsmassen, Hungersnöten, und terroristischen Übergriffen auf Zivilpersonen konfrontiert wird. In diesem Zusammenhang werden häufig Entwicklungsländer auf dem afrikanischen Kontinent wie Sudan, Kongo (D.R.) und Somalia genannt. Ebenso gibt es aber auch Krisenländer im asiatischen Raum: Meist fallen Ländernamen wie Afghanistan, Irak, Syrien und Nordkorea. Doch meist werden all diese Länder, deren Zahl alarmierend hoch ist, zusammen als gefährliche Länder ohne jegliche Hoffnung auf Stabilisation abgetan. Doch was verbindet all diese Staaten und welche Differenzierungen sind erkennbar? Und welche Handlungs- und Lösungsmöglichkeiten bietet eine Kooperation von internationaler Politik und Zivilgesellschaft? 

Die entwicklungspolitischen Begriffe der „fragile states“ und „failed states“ sind Konzepte der Vereinten Nationen (UN), um Staaten, die mit Konflikten aller Art konfrontiert sind, in politisch unsicheren Verhältnissen und insbesondere in Zeiten der Gewalt zu klassifizieren. Je nach Klassifizierung und Einschätzung durch Wissenschaftler und staatlichen Einrichtungen leben in den Ländern mit schwacher Staatlichkeit hunderte Millionen bis 1,4 Milliarden Menschen. Eine ungeheure Zahl muss unter den schrecklichen Lebensbedingungen jener „Staaten“ leben. International gibt es aber keine präzise Definition von fragiler Staatlichkeit und gescheiterten Staaten. Generell werden Staaten als fragil bezeichnet, wenn die Regierung über mangelnde Macht besitzt, staatliche Grundfunktionen in den Bereichen der nationalen Sicherheit, der Rechtsstaatlichkeit, der Legitimität durch die Bevölkerung und der staatlichen Wohlfahrt zu erfüllen. Staatliche Institutionen sind in solchen Fällen nur sehr schwach oder von der Auflösung bedroht, weil eben die Steuerungs- und Handlungsfähigkeit in elementaren Aufgabenbereichen verloren ging oder sich nicht entwickeln konnte. Die Konsequenz solcher instabilen Zentralregierungen sind eine hohe Korruption, ein unermessliches Maß an Armut, politische Willkür durch Verfolgung von politischen Akteuren oder ethnischen Gruppierungen sowie nur abscheuliche Verbrechen an der Menschlichkeit. 

Ebenso weisen fragile Staaten ein regionales und globales Sicherheitsrisiko auf. Durch eine begrenzte bis mangelnde Ausübung staatlicher Ordnungsfunktionen entstehen in jenen Staaten Rückzugsräume für kriminelle Netzwerke, die Menschenhandel, illegalen Drogen –und Waffenhandel betreiben. Ebenso bilden sich parallel zu den mangelnden staatlichen Strukturen verbrecherische Strukturen von Mafia, religiösen Extremisten und gewalttätigen Widerstandsgruppen, die gemäß ihrer Weltanschauung mit aller Gewalt Ordnungs- und Kontrollfunktionen eines Staates ersetzen wollen. Nicht selten kooperieren staatliche Vertreter mit den bewaffneten Milizen oder Rebellen und stellen diesen finanzielle Mittel sowie Waffen zur Verfügung, weil sie ebenso wie die Bevölkerung die staatliche Handlungsfähigkeit und die zwingende Ordnungsfunktion des Staates aufgegeben haben. Die Überlegenheit der Widersacher sowie die Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen bei Ungehorsam wird anerkannt. Zudem agieren jene gefährlichen Gegner einer etablierten Staatsordnung meist länderübergreifend und gefährden erheblich Nachbarstaaten in ihrer Funktionalität. Nicht selten ist es auch der Fall, dass gezielte Militärinterventionen der internationalen Gemeinschaft vonnöten sind. In den meisten Fällen standen materielle Interessen der intervenierenden Staaten im Vordergrund, sodass auf die kulturellen Gegebenheiten der Bevölkerung kaum Rücksicht genommen wurde. Von massiver Hilfsleistungen ist auch kaum zu sprechen. Eine weitere Destabilisierung dieser Staaten ist als nächste Konsequenz meist unvermeidlich. 

Der Begriff der „failed states“ impliziert, dass die bereits schwachen Staaten gescheitert sind. Die staatliche Autorität und Legitimität durch die Mehrzahl ihrer Bürger und ihrer politischen Elite existiert nicht länger, denn die zentralen Handlungsbefugnisse der Regierung übernehmen bestimmte Eliten, Stammes- und Clanführer oder verbrecherische Gruppen aller Art. Ebenso können sich Regionen vom Zentralstaat loslösen, wie es 2011 im Fall von Sudan und Südsudan geschehen ist. Fragile Staatlichkeit weist wie oben beschrieben massive Defizite in ihren grundlegenden staatlichen Aufgaben auf, die aber nicht zwingend zu völligem Staatsversagen oder einem kompletten Staatszusammenbruch führen müssen. Somit sind gescheiterte Staaten eine deutlich verstärkte Form fragiler Staatlichkeit.

Gibt es nun Verfahren zur Messung der Intensität fragiler Staatlichkeit? Beliebt sind Rankings und Indizes, die methodologisch häufig nicht vergleichbar sind und dennoch mit Vorsicht verwenden werden sollten. Der 2005 erstmals entwickelte „Failed-State-Index“ der Zeitschrift Foreign Policy und des „Fund of Peace“, auf den ich mich näher beziehe, hat eine eher sicherheitspolitische Ausrichtung, der das Risiko eines Staatszerfalls anhand von zwölf Indikatoren bemisst und sie in den Kategorien Alert (Alarm)Warning (Warnung)Moderate (moderat) und Sustainable (zukunftsfähig, tragbar). Je höher der Indexwert ist, desto geringer ist die Staatlichkeit. Die Klasse Alert umfasst diejenigen Staaten, die bereits ein gescheiterter Staat sind oder bei denen akut eine erhebliche Gefahr droht, sich in einen solchen zu entwickeln. Ebenso muss angemerkt werden, dass in der nichtwissenschaftlichen Literatur der Index sehr verbreitet ist. Dennoch sind die Forschungsmethoden relativ neuartig und nicht wissenschaftlich gesichert. Als Orientierungshilfe genügt der Index trotzdem.

Weitere Indizes sind der „Bertelsmann Transformation Index“, Index des „Center for Global Development“, Index der „Least Developed Countries“ und auch der „Human Development Index“ der UN und Weltbank. Zudem muss man wissen, dass die Aussagekraft aller Indizes zur staatlichen Fragilität nur begrenzt ist, weshalb alle Auflistungen mit Vorsicht zu genießen sind. Auf die Bedeutung einzelner Rankings und deren methodischen Problemen möchte ich hier nicht weiter eingehen. Gewiss ist aber, dass aber der teils gemeinsame Befund der verschiedenen Rankings Rückschlüsse auf typische Dynamiken fragiler Staatlichkeit ermöglicht: Eine komplexe Kombination aus langanhaltenden Gewaltkonflikten, weit verbreiteter Armut und sehr schlechten Bildungschancen, wirtschaftlichen Krisen, undurchsichtigen und meist autoritären Herrschaftsstrukturen und klimatisch benachteiligten Regionen erklären in den meisten Fällen die Schwäche oder sogar den Zusammenbruch betroffener Staaten.

In der Realität muss nun die Frage gestellt werden, welche Handlungsmöglichkeiten eine Kooperation von internationaler Politik und Zivilgesellschaft hat. Die Realität zeigt in vielen Fällen, dass Friedenssicherungen sowie Konfliktpräventionen am Ehesten wirken, wenn die Menschenrechte respektiert, realisiert und auch ausgeübt werden. Ein Engagement von Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft kann demokratische Verhältnisse aufbauen und den staatlichen Institutionen wieder Macht zurückgeben. Die Betonung liegt eindeutig auf der Tatsache, dass demokratische Verhältnisse aufgebaut werden können. Schließlich hat man der Begriff der idealen Demokratie in einem weitem Spektrum rezipiert. Generell sollten wir vorsichtig sein, unsere kulturellen Werte und Vorstellungen, die in den „westlichen“ Gesellschaften mit der komplexen Idee der Demokratie verknüpft sind, leichtfertig auf fragile Staaten in Afrika und Asien zu übertragen. Denn bei Letzteren kann es Formen von demokratischen Herrschaftsstrukturen geben, bei denen ein Vergleich zu unserem Begriff der Demokratie schwer fällt.

Ebenso müssen die Bemühungen verstärkt werden, Konflikte zwischen allen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren gewaltfrei zu lösen. Ziel soll eine verantwortungsvolle Regierung sein, die auf eine transparente Regierungsarbeit, einer demokratischen Legitimität, einer Rechtsstaatlichkeit und einer sozialen Grundversorgung basiert, sodass die Bevölkerung ein ausreichendes Einkommen erhalten kann und ihr Eigentum vor Übergriffen aller Art schützen kann. Als zentrales Bindeglied zwischen staatlichen und wirtschaftlichen Akteuren steht die Zivilgesellschaft, die die Gesamt­heit des Engagements aller Bürger eines Landes beschreibt. Entwicklungspolitische Maßnahmen müssen die Zivilgesellschaft einbinden, weil diese als pluralistisches Mittel in der Öffentlichkeit die Chancen einer angemessenen Entwicklung der „Good Governance“ am besten einschätzen kann. Alle kulturellen Gruppierungen in der Zivilgesellschaft müssen unabhängig von ihrer Ethnie, ihrer Sprache, Religion und Wohlstand eine politische Teilhabe in ihrem Land haben. Alle Konflikte im Land müssen auf der beschriebenen Weise neu ausgehandelt werden, denn ohne diesem wichtigen Schritt wird keine Aussicht auf eine staatliche Stabilisierung vorhanden sein.

Zudem müssen nationale Zivilgesellschaften auf eine globale Zivilgesellschaft vertrauen können, weil Letztere massive Unterstützungsleistungen in materieller und ideeller Art geben. Dies soll kein einseitiger Prozess sein, sondern ein wechselseitiger. Eine gleiche Hierarchieebene kann den Unterstützungsprozess verbessern, wenn auch die Bewohner der betroffenen schwachen Staaten sicher sein können, dass Denkweisen, Sitten und kulturelle Errungenschaften offen und verständnisvoll in der westlichen Welt aufgenommen und verstanden werden. Das bedingungslose Engagement in fragilen Staaten von Privatpersonen, Initiativen, Stiftungen und Verbänden sollte als Basis für die beschriebenen Prinzipien einer verantwortungsvollen und nachhaltigen Politik in den betroffenen Staaten sein, die nicht in dem erforderlichen Maß von ausländischen Regierungen oder von Unternehmen realisiert werden können. Denn meist versuchen Unternehmen und Regierungen ihre Macht mit den eigenen Interessen in den Vordergrund zu stellen.

Abschließend kann festgehalten werden, dass schwache Staaten und gescheiterte Staaten unterschieden werden müssen. Verschiedenste Symptome beschreiben die staatliche Fragilität und bemessen ihre Dynamik und Intensität. Am Beispiel der Vielzahl fragiler Staaten weltweit sieht man die Herausforderung für die globale Zivilgesellschaft und für die staatlichen Akteure am Deutlichsten, denn jedes Handeln von staatlichen und nicht-staatlichen Personen hinterlässt Spuren, die direkt und indirekt Folgen für viele Nationen und deren Bewohner haben. Dies mag sicherlich übertrieben klingen, ist aber eine bittere Wahrheit. Die massiven Entwicklungsprobleme der schwachen Staaten können nur gemeinsam gelöst werden und dies auch ohne zeitlichen Verzug; Werden diese Staaten alleingelassen, wird das Vokabular der fragilen und gescheiterten Staaten traurige Realität und birgt letztlich gewaltige Risiken für die globale Zivilgesellschaft.

Quellen:

http://ffp.statesindex.org/rankings-2014

http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/arbeitspapiere/DiskP2007_03_skr_ks.pdf

http://www.bmz.de/de/was_wir_machen/themen/frieden/fragilestaaten/index.html

(Letzte Aktualisierung der Quellen am 08.07.14)


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Posted by Simon Lenhart

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