Abstract [de]: Armenien hat vor kurzem entschieden, nach dreieinhalb Jahren Verhandlung mit der Europäischen Union über ein Assoziierungsabkommen doch einer Zollunion mit Russland, Belarus und Kasachstan beizutreten. Diese für den neutralen Beobachter doch eher überraschende Wendung wirft die Frage auf, welche Gründe dieser Entscheidung zugrunde lagen und welche Aussichten sich für Armenien im lokalen und regionalen Kontext zeigen mögen.   


September 2014

Armenien zwischen russischer Zwangs- und europäischer Partnerschaftspolitik

Russlands ständiges Bemühen um Einfluss auf die Nachfolgestaaten der UdSSR ist  durch die Krise um die  Ukraine in eine Phase gemündet, die nicht nur den Westen zur Umgestaltung seiner Politik hinsichtlich Russlands zwingt. Auch die Staaten, die in einem Bündnis mit Russland stehen, aber gleichzeitig an intensiven Beziehungen mit der EU interessiert sind, dürften jetzt ihre Russland-Politik revidieren wollen.

Von diesen Staaten ist die kleine südkaukasische Republik Armenien interessant, deren Fall durch die Ereignisse in der Ukraine in der Berichterstattung westlicher Medien in den Hintergrund trat. Tatsächlich hätte man aber die Geschehnisse um die EU-Assoziierung Armeniens im September 2013 als warnendes Beispiel und als Vorzeichen für Russlands  Absichten und letztlich rücksichtslose Vorgehensweise  erkennen sollen.

Armenien verzichtete kurz vor der Ukraine auf die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens, nämlich vor dem EU-Gipfel in Vilnius im November 2013. Nach dreijährigen Verhandlungen mit der EU hatte  Armeniens Präsident Sargsyan nach dem Treffen mit seinem Amtskollegen Putin in Moskau den Beitritt  zur Zollunion mit Russland, Kasachstan und Belarus angekündigt. Bis dahin hatte sich die politische Führung in Yerevan eindeutig und unzweifelhaft für das Assoziierungsabkommen mit der EU ausgesprochen. Der Begründung war, dass Armeniens wirtschaftlichen Interessen so besser gedient sei.  

Diese für den neutralen Beobachter überraschende Wendung warf die Frage auf, welche Gründe dieser Entscheidung letztlich zugrunde lagen und welche Aussichten für Armeniens noch denkbares Heranrücken an die EU bestehen könnten. 

Im Folgenden soll Armeniens Entscheidung unter zwei Aspekten  analysiert werden: Nämlich der sicherheitspolitischen Realitäten  in der Region und der innenpolitischen Lage. Darauf aufbauend soll die Chance Armeniens für eine weitere Annäherung an die EU mit Hinblick auf Russlands starken Einfluss auf Armenien thematisiert werden. 

Sicherheitspolitischer Aspekt 

Ein Sicherheitsbündnis mit Russland schließt jedes  andere „Bündnis“ von vornherein aus.

Bedingt durch seine geo- und sicherheitspolitische Lage verfügt Armenien über einen sehr eingeschränkten Handlungsspielraum. Armenien pflegt bei insgesamt vier benachbarten Ländern – Aserbaidschan, Georgien, Iran, die Türkei – nur mit Georgien und dem Iran normale Beziehungen. Die Grenze zu Aserbaidschan ist wegen des Berg-Karabach Konfliktes und zur Türkei  auch wegen der historischen Last des Völkermordes an Armeniern im osmanischen Reich geschlossen. Armenien fühlt sich tatsächlich und mit Grund durch beide Nachbarländer bedroht. Das hat die  Sicherheitsdoktrin Armeniens geprägt. 

Armenien und Russland sind strategische Partner. Armenien ist die einzige der  ehemaligen südkaukasischen Sowjetrepubliken, die Mitglied der GUS und gleichzeitig Mitglied des Vertrages über die kollektive Sicherheit  in der GUS ist. Russland hat eine Militärbasis in Armenien, deren Existenz im Jahr 2010 für 49 Jahre verlängert worden ist. Seit 2013 wird diese Militärbasis personell und technisch fortlaufend verstärkt. 

Die Außengrenzen  Armeniens mit der Türkei und Iran werden durch russische Grenztruppen geschützt. Wegen des Berg- Karabach Konfliktes und der nicht normalisierten Beziehungen mit der Türkei wird die russische Militärpräsenz in Armenien als unerlässlich angesehen.

Russland ist Mitglied der Minsk-Gruppe der OSZE, die im Karabach-Konflikt vermitteln soll.

Der Karabach-Konflikt: 1921 beschloss das Kaukasus Büro der Kommunistischen Partei, das armenisch bevölkerte Nagorny-Karabach (deutsche Bezeichnung: Berg Karabach) als Autonomes Gebiet Aserbaidschan zuzuschlagen. 1991 fand das Referendum über die Unabhängigkeit des autonomen Gebietes Berg-Karabach laut dem im 1990 verabschiedeten Gesetzt der UdSSR ‘‘Ordnung zur Lösung von Fragen, die mit dem Austritt von Unionsrepubliken aus der UdSSR zusammenhängen‘‘ statt. 1992 Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Berg-Karabach und Aserbaidschan nach Ausschreitungen gegen die armenische Bevölkerung. Berg Karabach erhielt militärische Unterstützung durch Armenien. In zwei Jahren warfen  armenische Truppen die aserbaidschanischen Verbände zurück und nahmen einige umliegende aserbaidschanische Territorien unter ihre Kontrolle. 1994 Waffenstillstand, aber kein Friedensvertrag. Seither beklagt Aserbaidschan, dass Karabach armenisch besetzt sei.  Mit dem Ziel der Konfliktlösung wurde 1992 die Minsker Gruppe (Russland, Frankreich, USA) der OSZE gegründet. In deren Rahmen verläuft der Verhandlungsprozess zur endgültigen Regelung im Berg-Karabach Konflikt.

Trotz seiner Mediatorenrolle liefert Russland  Waffen an Aserbaidschan, tritt andererseits aber auch als Sicherheitsgarant für Armenien ein. Anders formuliert: Wegen der zunehmenden militärischen Stärke Aserbaidschans nimmt Russlands  Bedeutung als Garant der armenischen Sicherheit  – genaugenommen der Sicherheit Berg Karabachs – zu. D.h. Russland steht auf Armeniens „Achillesferse“ und kann jeder Zeit politischen Druck ausüben.

Somit ist Armenien in Sicherheitsfragen gänzlich auf Russland angewiesen und hat tatsächlich keinerlei Möglichkeit, seine wirtschaftlichen und außenpolitischen Interessen durchzusetzen, sollten sie denn Russlands Interessen widersprechen.  

Dadurch, dass Armenien in der Region Russlands einziger Stützpunkt geblieben  ist, musste der aufmerksame Beobachter eigentlich erwarten, dass Russland nicht rein passiv  den Prozess der Assoziierung mit der EU verfolgen würde: Es war nur eine Frage der Zeit, wann Russland Armenien unter Druck setzen würde. 

Innenpolitischer Aspekt 

Innenpolitische Instabilität, wirtschaftliche Lage als zusätzliches Druckmittel

Der im Jahr 2013 wiedergewählte Präsident Sargsyan dürfte  mittlerweile die politische Last der nicht zweifelsfreien  Wahlen erfahren haben. Russlands Präsident war der Einzige, der unverzüglich gratulierte. Die beiden ersten Staatsbesuche Sargsyans nach den jeweiligen Wahlen in den Jahren 2008 und 2013 führten nach Moskau. Sargsyan gilt als von Russland favorisierter Amtsinhaber.

Armenien ist nicht nur sicherheitspolitisch, sondern auch wirtschaftlich sehr von Russland abhängig: Der Gaslieferant und der Betreiber des Verteilernetzes in Armenien ist Gasprom. 2013 verkaufte Armenien seinen letzten Anteil am Verteilernetz an Gasprom, nachdem der russische Staatsmonopolist um 60 Prozent höhere Preise für Gaslieferungen verlangt hatte.  Große Teile des Finanzsektors, das Eisenbahnnetz, die Telekommunikation, das Kernkraftwerk, die Brennstofflieferungen sind in russischer Hand.

Armeniens Wirtschaft erholt sich nicht, die Armutsrate ist gestiegen, die Auswanderung nimmt zu, die Demokratiedefizite lassen sich deutlicher spüren. Mit einem Satz: die Unzufriedenheit der Bevölkerung nimmt zu und es kommt zu politischen Protesten. Die politische Lage ist  seit 2008 instabil, was die politische Führung Armeniens anfällig für außenpolitischen Druck macht. 

Aussichten für die weitere Heranziehung an die EU

Die Lösung des Berg-Karabach Konfliktes als Schlüssel zum freien Handlungsraum.

Die politischen Gräben zwischen dem Westen und Russland werden täglich tiefer und die daraus resultierenden negativen Folgen können auch die Staaten treffen, die zwar Russlands Verbündete sind, es aber in deren wirtschaftlichem und politischem Interesse  liegt, sich auch mit der EU zu arrangieren. Daher ist Armenien heute mehr denn je darauf angewiesen, seine starke Abhängigkeit von Russland in  absehbarer Zukunft abzubauen. Dabei ist der Faktor des Berg Karabach Konfliktes ausschlaggebend.

In den Verhandlungsprozess zur Beilegung des Karabach Konfliktes fließen  nicht nur  die Interessen der Konfliktparteien ein, sondern auch die der Außenakteure, die als Mediatoren direkt oder als Regionalmächte indirekt beteiligt sind. Die Konstellation der Außenakteure in der Region – Russland, Türkei, Iran- EU-USA – deutet darauf hin, dass es nicht in Russlands Interessen liegt, den Konflikt  alsbald gelöst zu sehen. Russland würde ein starkes Druckinstrument auf die Konfliktparteien fehlen, auch möglicherweise die Notwendigkeit seiner weiteren Militärpräsenz in Armenien in Frage gestellt sehen.

In der aktuellen Situation  ist zu erwarten, dass je mehr Russland vom Westen isoliert und unter Druck gesetzt wird, desto entschiedener wird das Land in den Regionen, die in seinem Einflussbereich sind, seine geopolitische Interesse durchsetzen wollen. Er wird seine Präsenz und den Einfluss im Südkaukasus durch den Konfliktfaktor Karabach nicht nur aufrechterhalten, sondern auch stärken wollen. Die jüngsten Entwicklungen in der Konfliktregion deuten darauf hin, dass Russland hierzu eine passende Gelegenheit bekommen könnte. In diesem August  flammte unerwartet der schwelende  Konflikt um Berg Karabach wieder auf: An der Grenze zwischen Aserbaidschan und Armenien und Berg-Karabach kamen während der Gefechten mehrere Soldaten auf beiden Seiten ums Leben. Daraufhin wurde in den russischen Medien und Expertenkreisen ein möglicher Einsatz der russischen Friedenstruppen als zurzeit einzig wirksames Instrument zur Beruhigung der Situation intensiv thematisiert. 

Unter diesen Umständen soll Armenien, wie schwer es auch immer sein mag, nach neuen Wegen zur  Beilegung des Konfliktes suchen. Armeniens Möglichkeit, seine Außenpolitik selbstständig zu gestalten, die Annäherung an die EU voranzutreiben und die versäumte Chance der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens doch noch zu ergreifen, das hängt im Großen und Ganzen davon ab.

Was könnte die EU tun?

Brüssel war zu optimistisch, was die Aussichten auf einen Abschluss des Assoziierungsabkommens anging. Man sah dort keine Notwendigkeit, sich im Vorfeld auf einen doch immer möglichen anderen Verlauf der Verhandlungen vorzubereiten, insbesondere den Ländern, die potenziell unter Druck gesetzt werden konnten, Handlungsspielraum in den Bereichen zu verschaffen, in denen „Druck“ aufgebaut werden konnte.

 Im Falle Armeniens wäre die Unterstützung der EU bei einer Grenzeröffnung mit der Türkei und die Unterzeichnung eines Übereinkommens über die Lösung des Karabach Konfliktes ausschließlich mit den friedlichen Mitteln gewesen.  Die EU hätte z. B. die Öffnung weiterer Kapitel in den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei von einer Aufhebung der „Blockade“ Armeniens, denn eine solche ist die Grenzschließung gewesen, abhängig machen können.  

Es ist noch fraglich, was aus der Zollunion und der Eurasischen Union tatsächlich wird und, ob sie überhaupt Bestand haben wird. Auf jeden Fall sollte die EU den Weg für Armeniens Rückkehr frei halten und neue wirksamere Mechanismen für seine weitere Annäherung und eine fruchtbare Zusammenarbeit, insbesondere für die Demokratieförderung finden. Gerade die mangelhafte Demokratieentwicklung machte es möglich, dass Armeniens Präsident ohne jegliche parlamentarische Debatte oder Gespräche mit den politischen Parteien, ohne jede Diskussion in der Öffentlichkeit über den Beitritt zur Zollunion entschied.

LITERATUR:

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Manasyan, Alexander, ‘‘Der Karabach-Konflikt‘‘: http://www.noravank.am/upload/pdf/37_ru.pdf

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Der Generalsekretär der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit in GUS Nikolai Bordyuzha, ‘‘Russland verkauft Waffen an Aserbaidschan, weil es ein Geschäft ist‘‘: http://razm.info/13593

Das Interview des Ministerpräsidenten RA Tigran Sargsyan, ‘‘Die Zollunion hat für uns keinen Sinn‘‘, unter: http://www.kommersant.ru/doc-y/1908052

Die Rede von Staatspräsident RA Serj Sargsyan nach dem Treffen mit Vladimir Putin: http://www.president.am/hy/interviews-and-press-conferences/item/2013/09/03/President-Serzh-Sargsyan-press-conference-working-visit-to-Russian-Federation/

Der Nationale Statistische Service RA: http://www.armstat.am/am/?nid=82

Die außenpolitische Prioritäten Armeniens: http://www.mfa.am/hy/foreign-policy/

Die Nationale Sicherheitsdoktrin RA: http://www.mfa.am/u_files/file/doctrine/Doctrinearm.pdf

Pressekonferenz des ehemaligen Verteidigungsministers RA Serj Sargsyan: http://www.azg.am/AM/2001013006

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Pressemitteilungen des Verteidigungsministeriums RA: http://www.mil.am/news/page/2

‘‘Nesavisimaya Gazeta‘‘, Editorial, ‘‘Russland hat die goldene Mitte in Berg Karabach gefunden‘‘: http://www.ng.ru/editorial/2014-08-12/2_red.html

‘‘Profi-Forex‘‘, Nachrichten aus GUS-Staaten, ‘‘Warum ist Armenien gegen den Einsatz der russischen Friedenstruppen in Berg Karabach?‘‘, http://www.profi-forex.org/novosti-mira/novosti-sng/armenia/entry1008221740.html

‘‘Rosbalt‘‘ Nachrichtenagentur, ‘‘In Berg Karabach können russische Friedenstruppen stationiert werden‘‘, http://www.rosbalt.ru/main/2010/06/15/745281.html


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Posted by Irina Ghulinyan

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