Abstract [de]: Wir leben in einer Welt, die immer mehr zusammen wächst. Gleichzeitig reichen Konflikte wie in der Ukraine, in Syrien und in Nigeria bis vor unsere Haustür: Durch die mediale Kommunikation, aber auch ganz hautnah durch das Phänomen der weltweiten Migration. Religion und Religionen spielen dabei eine große, aber widersprüchliche Rolle. Sie sind zugleich Treiber des Friedens wie Auslöser von Konflikten. 

Globalisierung ist daher nicht nur eine Globalisierung des Handels, sondern auch eine hoch ambivalente und konfliktbeladene Globalisierung von ethischen und religiösen Werten. Wie lässt sich dann aber die Rolle und Aufgabe von Religion in der globalen Zivilgesellschaft des 21.Jahrhunderts verstehen? Wo sind Chancen, wo sind Grenzen?


September 2015

Globale Zivilgesellschaft und Religion-

Gibt es eine ethisch-religiöse Globalisierung?

Vortrag in Bad Wimpfen

anlässlich des 25. Klostergespräch im Ritterstift St. Peter

17.September 2015

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Christen und Christinnen haben es heutzutage hier in Deutschland nicht so leicht. Wenn sie ihre religiöse Überzeugung im beruflichen und privaten Umfeld zu erkennen geben, können sie noch immer die hochgezogen fragenden Augenbrauen des Gesprächspartners erkennen – als sei es vorgestrig, dem religiösen Glauben „noch immer“ einen Wert im alltäglichen Leben beizulegen. Nominell sind zwar noch immer rund 60% aller Menschen in Deutschland getaufte Christinnen und Christen. Im früheren Sinne „praktizierend“ dürften es kaum mehr als 5-10% sein, wobei wir alle wissen, dass der sonntägliche Kirchgang als wesentlicher oder gar alleiniger Maßstab des Christseins nicht mehr taugt.

Auffällig ist aber der Umstand, dass Witz und Satire leicht über sexuelle Verirrungen von Priestern, unglückliche Äußerungen des Papstes über Kindererziehung oder den wirklichen oder angeblichen Reichtum der beiden christlichen Kirchen spotten dürfen. Ähnlich „furchtlose“ satirische Äußerungen über islamistische Mörder (wie bei Charlie Hebdo), Kulturvernichter (wie in Palmyra), Kindesentführer (wie bei Boko Haram) und Hassprediger (wie kürzlich an einer Schule in Neu-Ulm, wo Kinder zum Ausdruck brachten, Christen müsse man eigentlich umbringen), sind so gut wie gar nicht zu hören.

Das doppelte Ungleichgewicht einer in der Moderne angekommenen, aber dennoch spöttisch abgewerteten christlichen Religion und einer wieder belebten fundamentalistischen Strömung im Islam, die vor Gewalt nicht zurückschreckt, kann Verunsicherung hervorrufen und macht es jedenfalls nicht leichter, den Glauben an einen menschenfreundlichen Gott an die nächste Generation weiter zu geben. 

Zugleich leben wir in einer Zivilgesellschaft, die den Umgang mit Religion überhaupt neu lernen muss, denn in einer heterogenen Gesellschaft mit Religion umzugehen, war und ist niemals einfach.

Aber gehen wir Schritt für Schritt vor. Ich werde zunächst auf die Phänomene „Religion“ und „Zivilgesellschaft“ eingehen und dann die Rolle von Religion in den modernen Gesellschaften, aber auch in der sich formierenden globalen Zivilgesellschaft eingehen.

1. Einleitung: Säkularisierung und religiöse Pluralität

Die Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften führt in aller Regel zu religiöser Pluralität. Religiöse und politische Macht gehen dann typischerweise weniger Hand in Hand als in früherer Zeit oder als in Gesellschaften mit theokratischen Zügen wie heute noch im Iran.

Die Geschichte moderner Staatlichkeit ist zumindest in Europa eine Geschichte der zunehmenden Emanzipation des Staates von – aus heutiger Sicht – übergriffigen Formen politischer Machtansprüche durch Religionsvertreter wie etwa Päpste oder Bischöfe. 

Klassisch war damals etwa die Zwei-Schwerter-Theorie, der zufolge die weltlichen Herrscher ihre Macht (also ihr „Schwert“) erst aus der Hand des geistlichen Oberhaupts erhalten würden, eben weil sie – die Kaiser und Könige – als Menschen Sünder sind und somit „ratione peccati“ unter die Jurisdiktion der Kirche fallen. Der Gang nach Canossa (1076) zeigt den weiten Weg von einer staatsprägenden Religion zur heutigen Sichtweise der Religion als Teil der Zivilgesellschaft, die religiöse und nicht-religiöse Lebensweisen duldet.

Richtig ist aber auch, dass die Säkularisierung von Religion nicht das letzte Wort ist. Gott ist nicht tot, Religion ist nicht aus dem Alltag verschwunden. In Deutschland erleben wir derzeit eine große Gleichzeitigkeit von weit verbreiteter religiöser Indifferenz, aber auch religiöser Ignoranz und einer Pluralisierung religiöser Bekenntnisse. 

So ist Deutschland in den letzten 50 Jahren auch zu einem Land mit ausgeprägten religiösen Minderheiten geworden. Damit gemeint sind nicht nur klassische Minderheiten wie z.B. die knapp 200.000 Juden und die rund 2 Mio. orthodoxen Christinnen und Christen, sondern eben auch die insgesamt rund 4 Millionen Menschen islamischen Glaubens: Sunniten, Schiiten und darunter – oft vergessen – rund 800.000 Alawiten. All diese unterschiedlichen Religionen leben trotz verschiedener Aktionen des radikalisierten Islamismus wie im Januar 2015 in Paris weitgehend friedlich miteinander. Religionen in Deutschland haben also bei konkurrierenden religiösen Praktiken und religiösen Wahrheitsansprüchen einen Weg des Zusammenlebens gefunden. 

Wie die öffentlichen Diskussionen über die Beschneidung in der Spannung zwischen „religiöser Praxis“ und „Körperverletzung“ oder über Kleidungsvorschriften wie den Schleier oder die Ganzkörperverhüllung (Burka) zeigen, greifen religiöse Fragen aber auch in Deutschland in den öffentlichen Raum aus. Das Verhältnis von Religion und Zivilgesellschaft bedarf daher nicht nur aus theoretischen, etwa staatsphilosophischen oder auch theologisch-kirchenrechtlichen Gründen, sondern auch aus ganz praktischen Gründen einer tieferen Klärung. 

Daher möchte ich im nächsten Schritt in kurzer Form auf die beiden Begriffe „Religion“ und „Zivilgesellschaft“ eingehen.

2. Religion als Lebensstil und als religiöse Zugehörigkeit 

„Religion“ ist ein seit Jahrhunderten kontrovers diskutierter Begriff mit großer philosophischer und theologischer Tradition. Für den Kontext einer zivilgesellschaftlichen Diskussion kommt es besonders deutlich auf die Identifikation unterscheidbarer religiöser Gruppierungen an, die durch gemeinsame Praktiken und religiöse Überzeugungen identitätsbildend und in ihrem alltäglichen Lebensstil miteinander verbunden sind. 

Trotz vieler interner Differenzierungen ist „Religion“ praktisch erkennbar durch die Zugehörigkeit von Personen zu einer der Weltreligionen. Dies gilt speziell aufgrund der subjektiven Bedeutung solcher Religion für die Gestaltung des Alltags, der Feste im Jahreslauf, der Speisevorschriften und der Formgebung religiöser Organisation in Gestalt von Kirchengemeinden, Moscheen, Synagogen und Tempeln, rundum: für eine Art von religiös motiviertem Lebensstil. 

Auch der pragmatische Individualismus evangelisch-lutherischer Kirchen mit einem erhöhten Maß an Distanzierungsbedürfnis gegenüber offiziellen Religionsvertretern gehört, so gesehen, zum Lebensstil bildenden religiösen Habitus der Angehörigen einer Religion oder Konfession.

Stellt man die Frage der religiösen Zugehörigkeit in den Vordergrund, erspart man sich auf den ersten Blick die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Religion“. Weder ein spezifischer Gottesglaube noch ein spezieller Transzendenzbezug oder ein bestimmter Kanon an Glaubensinhalten (wie z.B. die Überzeugung von einem Leben nach dem Tod) machen dann „Religion“ aus. Die Frage nach der inhaltlichen und, spitzer formuliert, theologischen Qualität von Religion wird an die Spezialisten innerhalb der einzelnen Glaubensgemeinschaften und an die innerhalb dieser Gruppen stattfindenden Diskussionen delegiert.

Zivilgesellschaftlich ist dies ein sehr praktischer Ansatz. Festzustellen ist aber, dass eine solche, überaus pragmatische Sichtweise durchaus Probleme und Schwierigkeiten aufwirft, beispielsweise bei der Abgrenzung von „Religion“ und anderen, etwa wirtschaftlichen Aktivitäten. Ein Beispiel hierfür ist der Kampf der Scientology-Sekte um Anerkennung als religiöse Gruppierung trotz mancher Indizien, die eher für ein straff organisiertes Wirtschaftsunternehmen sprechen.

Dass es einem säkularen Staat schwer fällt, klare Kriterien für die Anerkennung einer Religion und einer religiösen Gemeinschaft zu formulieren, wird hier sehr deutlich. Denn Religionen sind vom Kern her weder Wirtschaftsunternehmen noch politische Lobby-Gruppen: Sie folgen einer diskursiven Eigenlogik, die sich durch „Modelle der Welterklärung“ auszeichnet; dies allerdings mit praktischen Folgen in Kleidung, Ernährung, Lebensstil und dergleichen. Religiöse Modelle der „Welterklärung“ können so weit gehen, nur die eigene Religion als wahr und gültig anzuerkennen und Angehörige anderer Religionen aktiv zu verfolgen oder zu diskriminieren.

Die Delegation inhaltlicher religiöser Fragen an die Binnenwelt der Glaubensgemeinschaften hat aber auch eine weitere, oft übersehene Folge. Denn durch einen solchen „pragmatischen“ und scheinbar ideologiefreien Ansatz wird gerade im öffentlichen Raum die spezifische Diskurskompetenz des Religiösen verkannt. 

Denn wenn religiöse Wahrheitsansprüche – etwa der Gedanke der Erlösung durch den Kreuzestod Jesu Christi- in den Binnenraum von Glaubensgemeinschaften verfrachtet werden, stellt sich in der Zivilgesellschaft angesichts religiöser Argumentation bestenfalls ein Gefühl von Fremdheit ein. Religion wird zur „Privatsache“ ihrer Anhänger.  –  Weil aber Religionsgemeinschaften mit Millionen von Gläubigen eben durchaus ein politischer Faktor sind, wirkt sich religiöse Ignoranz in der Form des politischen Unverständnisses aus. Hier aber gilt etwas, was alle Politik prägt: Wer seine Interaktionspartner weder versteht noch zu verstehen sucht, handelt weder rational noch klug.

Dieser Befund weit verbreiteter religiöser Ignoranz lässt sich zur kritischen These weiterführen, dass es im Interesse moderner Gesellschaften inklusive ihrer Politiker und Medienvertreter ist, sich um ein inhaltliches Verständnis von Religion und Religionen zu bemühen. Genau das erleben wir hier und heute in Deutschland nicht! 

Und damit komme ich zur Frage der Zivilgesellschaft, ihren Aufgaben und ihren Prägungen.

3. Zivilgesellschaft als spezifische Handlungs- und Lebensform der  modernen Welt

Der Begriff der Zivilgesellschaft und gar jener der globalen Zivilgesellschaft hat in den letzten 20 Jahren eine immer weitere Verbreitung erfahren. Häufiger verwendet wurde der Begriff insbesondere dann, wenn politisch interessierte Gruppen sich gegen repressive Regierungen gewendet haben, etwa im Umfeld des Jahres 1989 rund um den Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Fall der Mauer. Aus dieser Zeit stammt der eher „regierungskritische“, „freiheitsliebende“ und „oppositionelle“ Beiklang des Worts Zivilgesellschaft. 

In den letzten 20 Jahren wurde der Begriff der „Zivilgesellschaft“ (manchmal auch unter dem Schlagwort der „Bürgergesellschaft“) zum Vehikel für eine Vielzahl von Initiativen, die dann im Schlagwort der „Engagementlandschaft“ münden. 

Diese wird dann etwa gesehen als das Netzwerk regionaler Vereine, Initiativen, Gesellschaften, aber auch im Blick auf den Beitrag von Nicht-Regierungs-Organisationen wie Amnesty International, Greenpeace und anderen. 

Kritisch lässt sich hier beobachten, dass das Wurzelwerk der Kirchen und Religionsgemeinschaften hier oft übersehen wird: Christinnen und Christen finden zwar auch ihrerseits den Gedanken fremd, Teil der Zivilgesellschaft zu sein. Eine andere, gar privilegierte Positionierung lässt sich aber im demokratischen Gemeinwesen aber weder politisch noch rechtlich begründen! 

Dazu kommt, dass große Gemeinschaften wie etwa die katholische Kirche ihrerseits eine binnendifferenzierte und reichhaltige kirchliche Zivilgesellschaft entfaltet, von Pfarrgemeinden über Verbände, von religiösen Bewegungen bis zu Ordensgemeinschaften, von Zeitschriften bis zu Radiosendern und vielem mehr!

Doch nicht nur Religionen, sondern auch Wirtschaftsunternehmen werden als zivilgesellschaftliche Akteure  „übersehen“, von der kleinen Schreinerei oder dem mittelständischen Betrieb bis hin zum großen Konzern. Manchmal wird Wirtschaft sogar ausdrücklich als Gegenpart zur Zivilgesellschaft angesehen, etwa beim Kampf gegen Missstände oder aufgrund eines eher verallgemeinerten Verdachts gegenüber dem Gewinnstreben von Unternehmen.

Hier kommt das von mir 2009 gegründete und seit 2015 mit einer Geschäftsstelle in Bad Wimpfen ausgestattete Institut für Sozialstrategie zur Erforschung der globalen Zivilgesellschaft ins Spiel (www.institut-fuer-sozialstrategie.org). Denn hier wird eine Abgrenzung der Zivilgesellschaft nicht gegenüber Religion oder Wirtschaftsakteuren, sondern gegenüber dem Staat und dem organisierten Verbrechen vorgeschlagen. Dies führt zu folgender Definition: Zivilgesellschaft ist alles, was weder Staat ist noch organisiertes Verbrechen ist.

Wirtschaft und Religion sind in diesem Verständnis „Akteure“ der Zivilgesellschaft. Dies entspricht durchaus dem Selbstverständnis vieler wirtschaftlich handelnder Menschen, und zwar selbst dann, wenn die Grenzen zwischen Wirtschaft und Staat oder auch zwischen Wirtschaft und dem organisierten Verbrechen manchmal fließend ist, etwa in der scheinbar legalen Gestalt von Geldwäschefirmen.

Bei religiös motivierten Menschen stößt der Gedanke, Teil der Zivilgesellschaft zu sein, eher auf Zurückhaltung, gerade weil es ja zu jeder Religion gehört, nicht eine unter vielen, sondern letztlich die wahre, beste und richtige Religion sein zu wollen. 

Mit dem oben erwähnten Verständnis von Zivilgesellschaft geht natürlich auch eine Abgrenzung von anderen Sichtweisen einher. So gibt es eine erste Sichtweise, die Zivilgesellschaft überwiegend in Gestalt von Organisationen sieht, die sich – wie etwa die frühere Solidarnosc im kommunistischen Polen- gegen einen repressiven Staat wenden (Definition 1).

Nach dem Fall der Sowjetunion wurde diese Perspektive ausgeweitet und auf sämtliche Formen von organisiertem bürgerschaftlichen Engagement ausgeweitet, gleich in welchem Staat (Definition 2). Gegenspieler der Zivilgesellschaft waren dann häufig Banken oder Wirtschaftskonzerne, denen ein hohes Maß an Skrupellosigkeit und zivilgesellschaftlichem Schadenspotenzial zugesprochen wurde.

Schwierig an dieser Sichtweise ist eine gewisse Dualität von „gut“ und „böse“: Gute Aktivisten kämpfen gegen böse Konzerne und Regierungen. Was aber „gut“ und „böse“ ist, wird dann aber häufig eher vorausgesetzt als differenziert erörtert.

Aus diesem Grund spricht sich das Institut für Sozialstrategie für die oben erwähnte Definition aus, welche die Zivilgesellschaft sowohl vom Staat als auch vom organisierten Verbrechen abgrenzt (Definition 3). Eine solche inklusive Definition hilft weiter, weil sie den oben erwähnten elitären Dualismus vermeidet und auch die Bereiche Wirtschaft und Religion umfasst. Trotzdem bleiben auch bei dieser Definition Unschärfen nicht aus, die zu Definitionsfragen und politischen Debatten führen. So war ein Fluchthelfer im Dritten Reich nach heutigem Verständnis ein moralischer Held. 

Umgekehrt sehen wir die heutigen Schlepper übers Mittelmeer bis nach Lampedusa zu Recht eher kritisch, obwohl auch er „Fluchthelfer“ ist!

Das Beispiel der Migration zeigt aber auch auf, dass wir in einer Zeit der entstehenden globalen Zivilgesellschaft leben. Themen wie Migration, Religionskonflikte, Klimawandel, Internet und die Frage nach digitalen Bürgerrechten lassen sich heute nicht mehr nationalstaatlich lösen. Sie stellen vielmehr Herausforderungen an die globale Zivilgesellschaft dar.

Speziell die Rolle der Religion in der globalen Zivilgesellschaft bedarf dabei einer besonderen Beleuchtung.

4. Zivilgesellschaft als Rahmen für Religion und religiöses Leben

Religion ist jedenfalls mehr als ein Element in der Überwindung repressiver Regierungsformen wie in der schon erwähnten Bewegung „Solidarnosc“ in Polen vor 1991 (Definition 1). Religion ist grundsätzlich aber auch mehr und anderes als eine weitere Form des bürgerschaftlichen Engagements (Definition 2). Sie nimmt vielmehr wie die Wirtschaft eine von Haus aus fließende Stellung in der Gesellschaft ein und kann nicht vorschnell mit dem Staat oder der Wirtschaft identifiziert werden.

Vielmehr ist Religion einer von vielen zivilgesellschaftlichen Lebensbereichen so wie auch der Sport, die Wissenschaft und die schon erwähnte Welt der Wirtschaft. Aufgrund ihrer inneren Ausdifferenzierung und des spezifischen Postulats friedlichen Zusammenlebens trotz inhaltlicher Konflikte stellt die moderne Zivilgesellschaften Religionen auch spezielle Aufgaben.

Anders gesagt: Zivilgesellschaft ist heute die prägende Lebens- und Handlungsform von Menschen in der modernen Welt. Sie ermöglicht, toleriert oder fördert religiöse Praxis, fordert und setzt aber auch Religionsfreiheit für alle durch. Gerade für Religionen und Kirchen, die in früheren Zeiten einen absoluten Wahrheitsanspruch geltend gemacht und durchzusetzen versucht haben, ist dies durchaus eine neue Herausforderung!

Wenn dies der Fall ist, dann lohnt es sich, über die Zivilgesellschaft als Rahmen für Religion und religiöses Leben etwas tiefer nachzudenken.

Denn Religionen treffen ja auf unterschiedliche Zivilgesellschaften, sind Teil von ihr und beeinflussen sie ihrerseits. Und dies alles geschieht im Rahmen unterschiedlicher Formen von Staatlichkeit, aber auch unterschiedlicher Auffassungen zum Verhältnis von Staat und Kirche oder- genereller ausgedrückt- von Staat und Religion. Aber gehen wir Schritt für Schritt vor! 

Dabei sind die klassischen Pole der Ausgestaltung leicht zu nennen. So herrscht in Frankreich seit 1905 eine strikte Trennung von Staat und Religion. Religion ist Privatsache. Religionsunterricht an öffentlichen Schulen findet nicht statt. Ausgenommen sind nur bestimmte Regelungen aus den alten Konkordatsgebieten Elsass und Lothringen, so dass beispielsweise die einzige theologische Universitätsfakultät in Frankreich die in Straßburg ist.

Der türkische Staatsgründer Atatürk hat sich weitgehend an dieses Verhältnis strikter Trennung von Religion und Staat angelehnt. Unter dem heutigen Staatspräsidenten Erdogan aber wird diese Tendenz deutlich relativiert: Der Islam wird im öffentlichen Raum gestärkt, das noch vor 100 Jahren starke Christentum wird nach wie vor diskriminiert. Christen, die zu Anfang des letzten Jahrhunderts noch rund 30% der Bevölkerung in der heutigen Türkei stellten, durften lange Zeit nicht einmal eigene Kirchen bauen.

Der Gegenpol der Trennung von Staat und Religion ist die heute seltene Lebensform der Staatsreligion. Noch vor 50 Jahren forderten Katholiken das Fortbestehen des Katholizismus als Staatsreligion beispielsweise in Spanien und Argentinien. Aber auch in den protestantischen Ländern Nordeuropas war der Protestantismus de facto eine Art Staatsreligion. Und im Iran besteht seit 1979 eine theokratische Staatsform, in der schiitische Geistliche das letzte Wort haben. 

Staatliche Regelungen sind für Religionsgemeinschaften in den jeweiligen Zivilgesellschaften aber nur ein Teil der Medaille. So erleben die wenigen Christen im Iran in der Regel ein höheres Maß an Toleranz als derzeit im Irak, aber auch in einigen Gebieten Palästinas.

Neben der Trennung von Staat und Religion und der Privilegierung einer Religion auf Kosten anderer gibt es auch die hier in Deutschland vorherrschende Ausgestaltung einer so genannten positiven Neutralität des Staates zur Religion. Der Staat sieht religiöses Leben in diesem Fall grundsätzlich positiv, privilegiert aber grundsätzlich nicht eine Religion vor der anderen. Ausfluss dieser grundgesetzlich geregelten Haltung ist neben dem katholischen und evangelischen schulischen Religionsunterricht neuerdings auch ein islamischer Religionsunterricht deutscher Sprache an öffentlichen Schulen.

Richtig ist aber auch dass die Zivilgesellschaft als spezifische Lebens- und Handlungsform, also sozusagen als Rahmen für Religion und religiöses Leben, auch durch weitere Stellgrößen wesentlich beeinflusst wird, so etwa durch das Verhältnis von religiöser Mehrheit zu religiösen Minderheiten oder auch durch ein öffentliches Klima der Toleranz oder der Intoleranz. Risiken bestehen dabei von allen Seiten: Durch einen übergriffigen Staat ebenso wie durch übergriffige Religion.

5. Gefahren für die Religionsfreiheit: der übergriffige Staat und die übergriffige Religion

Begreift man Religionsfreiheit als universelles Menschenrecht, dann wird es zur unabdingbaren Aufgabe des Staates, sich für die Verwirklichung von Religionsfreiheit aktiv einzusetzen, also beispielsweise religiöse Diskriminierungen zu untersagen. Religiös motivierte Verfolgungen müssen dann unterbleiben. 

In der Praxis wird es allerdings immer umstrittene Grenzfragen geben. Diese reichen von Kleidungsvorschriften bis zu Ernährungsfragen, von der staatlichen Organisation von Feiertagen bis hin zur Nutzung des öffentlichen Raums für religiöse Zwecke (wie z.B. die Fronleichnamsprozessionen der Katholiken, das Glockenläuten von christlichen Kirchen und den Gebetsruf der Muezzine).

Es gibt gelegentlich aber auch das stillschweigende Einvernehmen, eine Art Kollusion des Staates mit religiösen Prägungen der Mehrheitsgesellschaft. Dies können wir derzeit in Staaten wie dem Sudan oder Pakistan beobachten, wo Christen und Christinnen in einem muslimischen Umfeld einem auch staatlich sanktionierten „Bekehrungsdruck“ ausgesetzt sind oder wo z.B. Bekehrungen zum Christentum einen schweren Strafrechtstatbestand darstellen.

Selbst in weitgehend säkularen, demokratischen Gesellschaften wie Deutschland ist die Religionsfreiheit immer wieder Anlass zu gesellschaftlichen Debatten. Ist beispielsweise das Bluttransfusionsverbot der Zeugen Jehovas zu respektieren oder nicht?

Übergriffige Staatlichkeit bis hin zu staatlicher Religionsverfolgung (wie etwa in der früheren Sowjetunion) ist das eine, übergriffige Religion das andere.

Diese zeigt sich dort, wo religiös motivierte Menschen ohne Rücksicht auf Andersgläubige und religiöse Minderheiten die Identität religiöser Werte mit staatlichen Gesetzen verlangen.

Ein Beispiel hierfür ist die Gesetzgebung zur Abtreibung. Viele Christinnen und Christen stehen Abtreibungen kritisch gegenüber, weil hier eben menschliches Leben getötet wird. Doch auch die christlichen Kirchen in Europa haben gelernt, dass ihre Wertvorstellungen zur Abtreibung von der Mehrheit der Bevölkerung so nicht geteilt wurden und werden. Der „Rahmen“ für das Wirken christlicher Kirchen und Gemeinden ist demnach ein demokratischer Staat mit teilweise säkular inspirierten Gesetzen. – Die Nicht-Identität religiöser Lebensregeln und staatlicher Gesetze ist für einen Staat mit religiöser Pluralität, also sozusagen mit religiösem Wettbewerb, wesentlich.

Umgekehrt sind Forderungen nach der Gültigkeit von Scharia-Gesetzen in einem Staat ein Beispiel für den Wunsch nach Identität islamisch-religiöser Werte mit staatlichen Gesetzen. Sie werden aber mit Recht von der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger demokratischer Staaten als Form übergriffiger Religion angesehen. Friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Religionen in einem Staat ist nach heutigem Verständnis nicht mit der Vorherrschaft eines einzigen, religiös inspirierten und staatlich sanktionierten Gesetzes vereinbar.

Der dahinter liegende Lernprozess wird in Teilen der islamischen Welt noch nicht allgemein anerkannt oder gar als wünschenswert wahrgenommen. Es steht zu vermuten, dass manche terroristische Aktivität aus einem solchen Missverständnis der religiösen Selbstauslegung stammt.

Dass es einen demokratisch legitimierten Staat als Rahmen gibt und geben sollte, ist weltweit eben nicht überall anerkannt und akzeptiert. Eine Trennung von Staat und Religion wirkt beispielsweise auf manche Muslime wie ein Beleg für die säkulare Tendenz dessen, was vom Christentum übrig geblieben ist.

Zugrunde liegt eine Diskussion, die es noch im 20.Jahrhundert beispielsweise im Umfeld des II. Vatikanischen Konzils (1962-1965) und ihrer Konstitution „Nostra Aetate“ (1965) auch innerhalb der christlichen Theologie gegeben hat: Der Wert der „Religionsfreiheit“ bedeute in Wirklichkeit, so wurde argumentiert, das Recht auf Irrtum und Toleranz für die falsche Lehre.

Wer meint, dieses Argument ganz leicht aus den Angeln heben zu können, begibt sich auf argumentatives Glatteis. Tatsächlich wirken bestimmte Meinungsäußerungen der heutigen Mediengesellschaft so, als könne es Wahrheit in religiösen Fragen gar nicht geben. Als „wahr“ wird also behauptet, dass „Wahrheit in religiösen Fragen“ keine akzeptable Kategorie im öffentlichen Diskurs sein sollte.

6. Die Problematik der übergriffigen Zivilgesellschaft: Das Recht auf Irrtum und die Wahrheitsfähigkeit religiöser Aussagen

Das Paradox in der Verhältnisbestimmung von Religion, Zivilgesellschaft und Staat besteht darin, auf dem „Recht auf Irrtum“ zu bestehen, ohne – einerseits – eine von der eigenen Gruppierung vertretene Wahrheit zum für alle geltenden Gesetz machen zu wollen oder- andererseits- implizit zu behaupten, religiöse Aussagen seien überhaupt nicht wahrheitsfähig.

Eine fortgeschrittene Zivilgesellschaft hat, so gesehen, die Aufgabe, die Toleranz im Zusammenleben von Religionen und Religionsgemeinschaften mit der prinzipiellen Möglichkeit der Wahrheitsfähigkeit religiöser Aussagen zu verbinden.

Dies muss gewiss nicht jeder Bürger oder jede Bürgerin so ausdrücken. Wäre es aber nicht so, würden säkulare Zivilgesellschaften ausschließlich dem Postulat (wenn nicht „Dogma“) der „Nicht-Wahrheitsfähigkeit“ religiöser Aussagen folgen.

Ist in einer Gesellschaft die Meinung verbreitet, religiöse Aussagen seien grundsätzlich nicht wahrheitsfähig, folgt daraus etwas sehr Einfaches: Religiöse Menschen würden nämlich grundsätzlich Unsinn praktizieren oder sich der Heuchelei hingeben, wenn sie sich zu ihrer eigenen Religion bekennen. 

Das Dogma der „Nicht-Wahrheitsfähigkeit“ von Religion führt dann zu Formen einer „übergriffigen Zivilgesellschaft“, die Religion letztlich als folkloristisch, da – wie gesagt- intellektuell nicht wahrheitsfähig begreift.

Tatsächlich aber kommen wir hier zum philosophischen Postulat der „Nicht-Entscheidbarkeit“ religiöser Aussagen zur Geltung. Aus dieser „Nicht-Entscheidbarkeit“ beispielsweise über den richtigen Gottesbegriff oder das Leben nach dem Tod folgt nämlich unmittelbar das zivilgesellschaftliche Toleranzgebot: „Achte die Religion Deines Nachbarn, auch wenn Du sie nicht komplett verstehst oder gar komplett ablehnst“.

Eine solche Haltung umfasst aber eben auch die prinzipielle Wahrheitsfähigkeit religiöser Aussagen, selbst dann wenn diese unter den Erkenntnisbedingungen unserer endlichen Vernunft hier und jetzt nicht entscheidbar ist – so wie beispielsweise die Aussage „Es gibt ein Leben nach dem Tod“ (vgl. U.Hemel 1990).

7. Die Herausforderung der globalen Zivilgesellschaft für die Religion und die universelle Religionsfreiheit 

Diese Überlegungen zum Verhältnis von Zivilgesellschaft und Religion sind keineswegs trivial. Denn es gibt zahlreiche Religionen, rund 200 Staaten und mindestens ebenso viele Zivilgesellschaften. Wenn wir – wie wohl die Mehrheit aller heute lebenden Menschen – das Konzept der „ethnischen“ und der „religiösen“ Säuberung ablehnen, bedeutet dies zwangsläufig, dass Menschen mit unterschiedlichen religiösen Auffassungen und Zugehörigkeiten gehalten sind, einen Weg des möglichst friedlichen Zusammenlebens zu finden.

Die  „globale Zivilgesellschaft“, im Sinne der oben erwähnten Definition verstanden als  „alle hier und heute lebenden Menschen und Institutionen, soweit sie weder den Staat noch das organisierte Verbrechen repräsentieren“, ist durch Konnektivität gekennzeichnet. Gemeint ist eine Verbundenheit, die durch den weltweiten Austausch von Gütern und Dienstleistungen (also die kommerzielle Globalisierung), den weltweiten Austausch von Informationen und Bewertungen (also die digitale Globalisierung) und den weltweiten sowohl harmonischen wie konfliktiven Austausch von Werten und Normen (also die religiös-ethische und normative Globalisierungbeschrieben werden kann.

Auf der inhaltlichen Ebene wird die globale Zivilgesellschaft durch die schon erwähnten globalen Herausforderungen charakterisiert wie etwa den Klimawandel, den Umgang mit Energie und besserer Ressourcenproduktivität, den Umgang mit Migration, die Frage nach Freiheitsrechten in der digitalen Welt, aber auch die Frage nach der Bewältigung von Gewalt und organisiertem Verbrechen auf allen Ebenen, vom Einzelstraftäter bis hin zu Verbrechen, die vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu verhandeln sind.

Religion kommt dort mit der globalen Zivilgesellschaft in Berührung, wo beispielsweise Migration zu neuen religiösen Fragen führt oder wo Religion zum Anlass oder Vorwand für staatliche und gesellschaftliche Konflikte führt. Dies beginnt schon mit den Speiseregelungen in Flugzeugen: Religiöse Vorschriften wie „Haram“ und „Koscher“ treffen hier auf Lebensstile wie „vegan“ und „vegetarisch“.

Das, was man ethisch-religiöse Globalisierung nennen könnte, wird so auch zu einer religiösen Herausforderung, die nicht immer konfliktfrei verläuft. Man denke hier beispielsweise an die Familiensynode der Katholischen Kirche 2014 in Rom, bei der höchst unterschiedliche Lebensformen innerhalb ein und derselben Konfession deutlich aufeinander prallten, etwa bei der Frage der Zulassung Geschiedener und Wiederverheirateter zur Kommunion.

Religion in der globalen Zivilgesellschaft umfasst immer und grundsätzlich die Herausforderung, mit anderen religiösen Überzeugungen und Praktiken umzugehen. Wo ist dann die Grenze der Toleranz? Wie weit reichen Menschenrechte in den religiösen Raum? Wie weit reicht das Menschenrecht der Religionsfreiheit in den öffentlichen Raum hinein? Vielleicht stärker als andere Facetten der Globalisierung kommt bei der ethisch-religiösen Globalisierung immer wieder ein konfliktives Moment zum Ausdruck.

Dabei ist leicht zu verstehen, dass weder vollkommene Toleranz noch vollkommene Intoleranz die richtigen Wege sein können. Denn Intoleranz tötet, übertriebene Toleranz aber auch. Todesurteile aus religiösen Gründen sind universell abzulehnen. Das bedeutet ganz praktisch, dass Menschenopfer keinen Platz mehr haben in unserer Welt („keine Toleranz für Menschenopfer“), dass staatliche Intoleranz gegenüber einer religiösen Konversion aber ebenso als Form „übergriffiger Staatlichkeit“ abzulehnen ist. Religionsfreiheit umfasst eben auch die Freiheit zur Konversion!

Diese Gedanken zur Religionsfreiheit lassen sich auch als Aufgabenstellung für verschiedene Ausgestaltungen der Zivilgesellschaft verstehen. In Israel und in muslimischen Staaten ist beispielsweise das Recht auf freie Religions-ausübung für religiöse Minderheiten und das Recht auf Konversion noch nicht hinreichend durchgesetzt. In den westlich orientierten Zivilgesellschaften ist umgekehrt daran zu erinnern, dass zur grundsätzlichen Wahrheitsfähigkeit religiöser Aussagen eben auch der Einsatz gegen ein „Dogma der Indifferenz“  im gesellschaftlichen Meinungsklima gehört- als ob alle Religionen gleich, insbesondere gleich unsinnig wären.

Letztlich gilt die klassische Aussage: Freiheit ist eben immer auch und gerade die Freiheit des anderen, und zwar unter zivilgesellschaftlicher Perspektive speziell dort, wo dieser sich in der Position einer Minderheit – auch einer religiösen Minderheit –  befindet!

8. Schluss: Globale Zivilgesellschaft und menschenwürdiges Leben für alle

Damit komme ich zum Schluss. Die Leitfrage des Instituts für Sozialstrategie ist einfach gestellt und schwer beantwortet: „In welcher Gesellschaft möchten wir leben?“ 

Diese Leitfrage kann und darf unser Interesse an der eigenen lokalen wie an der globalen Zivilgesellschaft prägen. Sie nimmt Maß am Ziel eines friedlichen und erfüllten Zusammenlebens aller. Sie hat insoweit einen inklusiven, nicht exklusiven oder diskriminierenden Charakter. Und sie spiegelt, jenseits aller weltsoziologischen Analysen die Werthaltung eines „menschenwürdigen Lebens für alle“.

Die globale Zivilgesellschaft kann daher über ihre empirische Faktizität hinaus als Aufgabe der Weltgestaltung aufgefasst werden, die sich an einer Logik des Lebens im Gegensatz zu einer Logik des Todes orientiert. Dann geht es nämlich um Bedingungen für eine blühende Zivilgesellschaft mit menschenfreundlichen Werten wie Zugang zu Nahrung und Wasser, Gesundheit, Bildung, Arbeit, unzerstörter Umwelt und sozialer Teilhabe. Im Gegensatz dazu handelt, wer im Namen von Religion andere tötet, verschleppt, versklavt oder auf andere Weise unterdrückt.

Der grundsätzlich inklusive Charakter von Zivilgesellschaft trifft sich mit den besten Strebungen von Religion gleich in welcher Gestalt. Wer eine blühende Zivilgesellschaft will, kann und darf auch nach dem Beitrag von Religion und Religionen fragen.

Zur „Logik des Lebens“ gehört es aber auch, dass die in ein und derselben Gesellschaft lebende Religionen sich auf ethisch-normative Verhaltensstandards verständigen, die dem Ethos der Demokratie zuträglich sind.

Würde dieses Thema quer durch die Religionen beispielsweise in einem nationalen oder regionalen „Rat der Religionen“ adressiert, dann ist nach den Grundzügen demokratischer Mindeststandards im Zusammenleben zu fragen.

Dazu gehören dann die Ablehnung von Menschenopfern, die Ablehnung grausamer religiöser Praktiken, die klare Ablehnung religiös motivierter Terrorakte, die Achtung vor Andersdenkenden in Wort und Bild, die Achtung der Religionsfreiheit auch verstanden als Recht auf Konversion, als Recht auf den Bau eigener Kirchen, Moscheen oder Tempel und als Recht auf die offene Verbreitung religiöser Ideen, soweit sie den genannten Mindeststandards genügen. Diese Verständigung auf demokratische Mindeststandards kann und darf als Bringschuld der Religionen in der Zivilgesellschaft verstanden werden, einfach weil sonst das Zusammenleben in komplexen Gesellschaften nicht gut möglich ist.

Die Ambivalenzen von Religion im Blick auf Gewalt, Konflikt und Diskriminierung anderer bleiben dabei nicht ausgespart, werden aber lösungsorientiert beleuchtet. Denn es ist nicht unmöglich, aus der Geschichte zu lernen. Und es gibt in jeder Religion lebensförderliche und lebensfeindliche Strebungen, die Abwertung und die Anerkennung anderer, die Achtung vor der Freiheit von Nicht- und Andersgläubigen und deren Gegenteil, also Missachtung und Diskriminierung.

Komplementär dazu steht das Gebot der Achtung der Wahrheitsfähigkeit, aber NichtEntscheidbarkeit religiöser Aussagen als Kernforderung an andere zivilgesellschaftliche Akteure, beispielsweise Medien und Öffentlichkeit. Konkret heißt dies, dass Akteure der Zivilgesellschaft theologische Debatten kennen und ihnen ihr Eigenrecht zugestehen sollten. Genau darin bestünde die Aufgabe der sozialen Innovation bei der Gestaltung einer globalen Zivilgesellschaft in religiöser Hinsicht: Es geht um die Beseitigung von Diskriminierung und von religiöser Unterdrückung, umgekehrt aber auch um die Förderung des Beitrags von Religionen zum Gelingen des sozialen und politischen Lebens, kurzum: um die Chance zum Aufblühen der Zivilgesellschaft.

Für eine blühende Zivilgesellschaft aber ist die Religionsfreiheit grundlegend. Als Gnade, als Leistung, als Glück. Als Gnade, weil in religiöser Betrachtung das Leben (und erst recht gelingendes Leben) ein Geschenk Gottes ist. Als Leistung, weil Menschen in Vernunft und wechselseitiger Achtung zum gemeinsamen Nutzen kooperieren können. Als Glück, weil vieles von dem, was uns geschenkt ist, sich gewiss nicht und erst recht nicht allein dem Beitrag des eigenen Handelns verdankt.

In diesem Sinn ist es eine noch zu erringende Kulturleistung nicht nur der westlichen Demokratien, sondern auch der Zivilgesellschaft in anderen Weltregionen, sich noch deutlicher als bisher für die weltweite Achtung des individuellen und sozialen Grundrechts auf Religionsfreiheit einzusetzen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

LITERATUR:

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Ulrich Hemel / Sonja Knobbe / Kai Reinke, 5 Jahre Institut für Sozialstrategie, Laichingen-Berlin 2014 (siehe auch www.institut-fuer-sozialstrategie.org)

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A. Liedhegener / I.-J. Werkner, M. Barbato (Hrsg.), Religion, Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement, Wiesbaden 2011

O. Kallscheuer (Hrsg.), Das Europa der Religionen, Ein Kontinent zwischen Säkularisation und Fundamentalismus, Frankfurt/M. 1996

Avishai Margalit, Politik der Würde, Über Achtung und Verachtung, Frankfurt/M. 1999

Franz Josef Radermacher, Globalisierung gestalten, Die neue zentrale Aufgabe der Politik, Berlin 2006

Joseph Stiglitz, Der Preis der Ungleichheit, Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht, Berlin 2012

Rupert Graf Strachwitz, Achtung vor dem Bürger, Ein Plädoyer für die Stärkung der Zivilgesellschaft, Freiburg/Br. 2014

Udo Tworuschka, Einführung in die Geschichte der Religionswissenschaft, Darmstadt 2015

Ernst Ulrich von Weizsäcker, Karlson Hargroves, Michael Smith, Faktor Fünf, Die Formel für nachhaltiges Wachstum, München 2010

Thesen

  1. Zur modernen Gesellschaft gehört religiöse Pluralität, verstanden als Chance und zugleich Zwang, mit unterschiedlichen Religionen in einer Gesellschaft zu leben.
  2. Auch in der modernen Gesellschaft mit zahlreichen religiösen Minderheiten gehört Religion zum öffentlichen Raum, etwa weil religiöse Praxis von der Beschneidung bis zum sonntäglichen Glockenläuten Anlass für öffentliche Diskussion bietet.
  3. Religion ist für den einzelnen Menschen eine Identität prägende religiöse Zugehörigkeit mit Elementen eines eigenen Lebensstils und einer diskursiven Eigenlogik zur Welterklärung. 
  4. Weil Religionen Modelle der Welterklärung liefern, haben sie eine eigene religiöse Diskurskompetenz. Weil religiöse Ignoranz gutes Zusammenleben erschwert, ist es Aufgabe der gesamten Gesellschaft ist, sich aktiv um ein fundiertes Verständnis für religiöses Sprechen und Handeln zu bemühen.
  5. Religionen sind Teil ihrer Zivilgesellschaft, die in verschiedener Ausprägung den Rahmen für religiöses Leben liefert. Entscheidend ist dabei, Verfolgung und Übergriffigkeit im Sinn von anmaßenden Eingriffen von allen Seiten- dem Staat, der Gesellschaft und der Religion- zu vermeiden.
  6. Gilt die Religionsfreiheit als universelles Menschenrecht, dann umfasst diese zwangsläufig das Recht auf eine eigene Meinung, einen eigenen Kult, aber auch das Recht zur Konversion und die Pflicht zur Toleranz. Dem entsprechen aus religiöser Sicht das „Recht auf Irrtum“ und die „Pflicht zur Toleranz auch für eine falsche Lehre“!
  7. Weil Religionen Welterklärungen auch zu nicht entscheidbaren Sachverhalten wie dem Leben nach dem Tod bieten, ist ihr Wahrheitsanspruch logisch nicht zu entscheiden, aber auch nicht zu widerlegen und auch nicht zu bestreiten. Zur Religion gehört daher eine gesellschaftlich anzuerkennende prinzipielle Wahrheitsfähigkeit und Diskurskompetenz!
  8. Der Globalisierung von Gütern und Dienstleistungen, von Information  und Kommunikation entspricht auch eine ethisch-religiöse Globalisierung, eben weil konkurrierende religiöse Vorstellungen weltweit in Austausch und Konflikt treten. Erst wenn gemeinsame Spielregeln des Zusammenlebens von allen eingehalten werden, wirkt diese ethisch-religiöse Globalisierung nicht als Gefahr für den Frieden, sondern als Frieden fördernd!
  9. Religionen haben in der pluralen Zivilgesellschaft die Aufgabe, sich über Mindeststandards des Verhaltens zu verständigen, die einer Logik des Lebens zuträglich sind. So sind Tötungen und grausame Strafen aus religiösen Gründen weltweit zu ächten!
  10.  Religionen im Kontext der globalen Zivilgesellschaft können dann letztlich einen wesentlichen Beitrag zum Weltfrieden, aber auch zu einem menschenwürdigen Leben für alle leisten!


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Posted by Ulrich Hemel

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