April 2016

Das Gesetz und seine Anwendung durch die öffentliche Verwaltung

aus: Christian Starck, Woher kommt das Recht?, Mohr Siebeck, Tübingen 2015, S. 43 – 52

I. Das Gesetz

Wenn man über das Gesetz spricht, geht es zunächst um das Verhältnis von Gesetz und Recht, die nicht identisch sind, wie im vorangehenden Kapitel dargelegt ist. Es geht um das Verfahren der Gesetzgebung, den Inhalt des Gesetzes, vor allem um dessen Allgemeinheit und Bestimmtheit. Das Gesetz muß abgegrenzt werden von niederrangigem Recht (Rechtsverordnungen, Satzungen) und höherrangigem Recht (Verfassung). Recht wird nicht nur durch Gesetze, sondern auch durch Verträge gesetzt. Das Gesetz wirft die Frage auf, ob und wie weit es praktisch wirksam ist oder nur im Gesetzblatt steht. Zum Gesetz, dem Ausgangspunkt unserer Überlegungen über die Anwendung des Gesetzes, möchte ich zunächst folgendes festhalten. 

Das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren setzt Gesetzesentwürfe voraus, die zumeist in den jeweils fachlich zuständigen Ministerien erstellt, seltener aus der Mitte des Parlaments eingebracht werden. Im Entwurfsstadium muss die Realität zuverlässig erfasst werden, auf die das Gesetz normativ wirken soll, und der Entwurf muss in die bestehende Rechtsordnung eingepasst werden, damit die Rechtsordnung nicht widersprüchlich wird. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, die im anschließenden parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren erörtert werden können und sollen, entfaltet das Gesetzgebungsverfahren ein großes Legitimationspotential, was für Akzeptanz und Anwendung des Gesetzes eine wichtige Voraussetzung ist.[1]

Damit hat sich die enge Verbindung von Gesetzgebungsverfahren und Inhalt des Gesetzes gezeigt. Überlegungen zur Allgemeinheit und Bestimmtheit des Gesetzes sind von großem Interesse für die Anwendung des Gesetzes. Zwar muss ein Gesetz nicht stets allgemein sein. Aber es gibt verfassungsrechtliche Anforderungen, die die Allgemeinheit des Gesetzes verlangen, etwa bei Erlass von Wahlgesetzen[2] oder Gesetzen, die Grundrechte einschränken[3]. Auch erfordert der allgemeine Gleichheitssatz regelmäßig allgemeine Gesetze. Was die Bestimmtheit des Gesetzes anbelangt, kann diese immer nur relativ zur geregelten Materie sein. So gibt es Gesetze mit unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensermächtigungen an die Verwaltung.

II. Gesetzmäßigkeit der öffentliche Verwaltung

Wer wendet das Gesetz an? Hier ist vor allem an die öffentliche Verwaltung zu denken. Darum soll es auch im Folgenden gehen. Denn private Personen, die Rechtsgeschäfte abschließen, Testamente festlegen, sich straffrei verhalten, wenden keine Gesetze an, sondern verhalten sich im Rahmen der Gesetze. Das Besondere der öffentlichen Verwaltung ist deren Unterwerfung unter das Gesetz, das Grundlage und Maßstab für das Verwaltungshandeln ist. Die Verwaltung unterliegt dem Gesetzmäßigkeitsprinzip; danach ist das Gesetz zumeist nicht bloßer Rahmen, sondern Grundlage für behördliches Handeln.

Der Gesetzesvorbehalt besagt, dass für Handeln der Verwaltung zumeist eine gesetzliche Grundlage erforderlich ist, nicht nur für das Ob des Handelns, sondern auch für das Wie des Handelns. Die Bindung der Verwaltung an das Gesetz ist eine elementare Kompetenzregel der Rechtsordnung. Diese Regel sichert den Einfluss des demokratisch gewählten Parlaments als Gesetzgeber auf die Tätigkeit der Verwaltung. In rechtsstaatlicher Hinsicht bewirkt die Allgemeinheit und Bestimmtheit des Gesetzes Gleichheit, Berechenbarkeit und Rechtssicherheit. Der der öffentlichen Verwaltung unterworfene Bürger kann voraussehen, wie die Verwaltung handeln wird, er kann sich gegen Willkür wehren, zumal die Akte der Verwaltung gerichtlich überprüft werden können.[4]

Der Vorrang des Gesetzes, ebenfalls aus dem Demokratieprinzip fließend, bestimmt, dass jede untergesetzliche Regel (Verordnung, Verwaltungsvorschrift oder Gewohnheitsrecht) durch das Gesetz verdrängt wird. Das ist wiederum eine Kompetenzregel für das Verhältnis von Gesetz und Verwaltung, wodurch die Regelsetzung der Verwaltung beschränkt wird.

III. Gesetz und Wirklichkeit

Wie lässt sich sicherstellen, dass das Gesetz Maßstab für die Verwaltung ist? Das Gesetz regelt mit Worten einen Aspekt der konkreten Wirklichkeit, der regelhaft in Erscheinung tritt. So soll die Polizei nach den Polizeigesetzen Gefahren abwehren. Wie lässt sich von den Worten, der Sprache des Gesetzes eine Brücke schlagen zur konkreten Wirklichkeit? Was stellt eine Gefahr dar? Zumeist definieren Polizeigesetze „Gefahr“, was aber immer sprachlich abstrakt ist. Wie wirkt das abstrakte, sprachlich formulierte Gesetz normativ auf die Wirklichkeit? Die zum Zwecke der Normierung erforderliche Abstraktion geschieht mit den Mitteln der Sprache. Die Wirklichkeit, auf die normierend eingewirkt werden soll, ist aus anderem „Material“. Sie ist konkret, unendlich konkret mit vielen Nuancen. Wie schlage ich die Brücke von der unendlich konkreten Wirklichkeit zur sprachlichen Abstraktion? Welche Vorgänge in der Wirklichkeit passen unter den Gefahrbegriff? Das Polizeigesetz definiert Gefahr als eine Sachlage, bei der im einzelnen Fall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung eintreten wird. Auch das ist Sprache und damit abstrakt. Welche Realitäten passen unter die abstrakten Begriffe des Gesetzes?

Wir können diese Frage nicht mit dem Hinweis darauf beantworten, dass mit den Mitteln der Sprache ein juristischer Sachverhalt formuliert wird, der mit dem sprachlich formulierten gesetzlichen Tatbestand in Beziehung gesetzt wird, also die ganze gedankliche Operation, die Subsumtion, auf der Ebene der Sprache stattfindet. Normative Wirkung auf die Wirklichkeit erreichen wir nur, wenn bereits die Herausarbeitung des sprachlich gefassten juristischen Sachverhalts aus der unendlichen Welt der Geschehensabläufe durch die Norm geleitet wird.[5] Die Brücke zwischen sprachlicher Abstraktion und Wirklichkeit hat Karl Engisch mit dem Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Norm und Wirklichkeit beschrieben.[6] Dadurch werde die Konstitution des Sachverhalts bereits normativ geleitet. Die Frage bleibt aber, wie der Brückenschlag möglich ist. Blicken wir noch einmal auf das Verfahren der Gesetzgebung zurück.

Die Gesetze werden im Hinblick auf die Wirklichkeit formuliert. Die zu ordnende Wirklichkeit ist insofern an der Konstitution der Norm beteiligt.[7] Mit den Mitteln der Sprache werden Aspekte[8] der Wirklichkeit im gesetzlichen Tatbestand begrifflich erfasst und einer ebenfalls abstrakt-begrifflich gefassten Rechtsfolge unterworfen. Die tatbestandlich-begriffliche Formulierung der Wirklichkeit verlangt eine Wertung des Gesetzgebers, die u. a. bestimmt ist durch den Zweck der Regelung – im Beispiel der Gefahrenabwehr – und die leitenden Ideen, unter denen die Wirklichkeit betrachtet wird. Der so gebildete Begriff von der Wirklichkeit ist allgemein[9] in dem Sinne, dass er wiederholte Entsprechungen in der Wirklichkeit hat.

IV. Gesetzesanwendung

Bei der Gesetzesanwendung wird der geschilderte Vorgang umgekehrt. Die Entsprechungen der abstrakten Gesetzesformulierungen werden in der Wirklichkeit aufgesucht, um den juristischen Sachverhalt zu bilden.[10] Bei der Gesetzesanwendung kann an die Erfahrungen angeknüpft werden, die bei der Formulierung des Gesetzes maßgebend waren. Bei den Gesetzesanwendungen werden Entsprechungen des Allgemeinen in der Wirklichkeit gesucht, die der Gesetzgeber in Bezug genommen hat, als er die Norm formuliert hat.

Die Umkehrung des dem Gesetz zugrundeliegenden Abstraktionsprozesses bei der Entscheidung von Einzelfällen ist möglich, weil die Sprache kraft ihrer gemeinsamen Benutzung Verständigung über die Wirklichkeit erlaubt. Mit dem Wort „Tisch“ werden abstrakt Erscheinungen in der Wirklichkeit bezeichnet, die wir sofort zuordnen können. „Küchentisch“ oder „Schreibtisch“ sind engere Abstraktionen, die jeweils nur Teilbereiche erfassen. Der Sprache wohnt eine vereinigende Kraft inne, die wesentliche Voraussetzung für die umgangssprachliche Kommunikation und für die Intersubjektivität der Wirklichkeitserfahrung ist.[11]

Die semantische Leistung der im Gesetz verwendeten Begriffe ist besonders groß, wenn es sich um neue Gesetze handelt, die möglichst präzise formuliert sind oder – wie heute in vielen Verwaltungsgesetzen üblich – Begriffsdefinitionen enthalten.[12] Handelt es sich um ältere oder weniger präzise formulierte Gesetze, so ist die Wirklichkeitsreferenz der Begriffe in der Regel auf Grund eines allgemeinen Vorverständnisses herstellbar. D. h. außer den verwendeten Worten spielen eine Rolle exemplarische Fälle in Präjudizien, gemeinsame soziale Erfahrungen, der Traditionszusammenhang und die Juristenausbildung. Es geht bei der Anwendung des Gesetzes stets um ein soziales, d.h. den meisten gemeinsamen Verständnis, das prägend auf das einzelne Subjekt wirkt. Soweit also den Begriffen ein Bedeutungskonsens zu Grunde liegt, ist die Verwaltung in der Lage, auf der Grundlage des Gesetzes in dem unendlich konkreten Geschehensablauf bestimmt Erscheinungen zu erkennen als Wiederholungen von Erscheinungen, die den Gesetzgeber zur gesetzlichen Regelung veranlasst haben.

Dazu ein Beispiel aus der Schönen Literatur. Friedrich Hölderlin schreibt:[13] „Wir waren zusammen aufs Feld gegangen, saßen vertraulich umschlungen im Dunkel des immergrünen Lorbeers …“. Jeder, der deutsch versteht, kann den sprachlichen Text in Vorstellungen von der Wirklichkeit „übersetzen“. Diese Auslöserfunktion von Sprache gehört zu wesentlichen Wirkungen der Schönen Literatur. Das Gemeinsame aller verschiedenen durch diesen Text ausgelösten Vorstellungen von Wirklichkeit ist im Text und in den verschiedenen Kontexten des Werkes auf den Begriff gebracht. Entsprechend verhält es sich beim Verstehen gesetzlicher Tatbestände.

V. Auslegungsregeln

Die bekannten juristischen Auslegungsregeln sind für den Brückenschlag zwischen Gesetzessprache und Wirklichkeit unentbehrlich, wenngleich sie nicht automatisch ein richtiges Ergebnis verbürgen. Sie helfen über ein vordergründiges Verständnis hinaus, den Inhalt der Gesetze zu klären und mögliche Sinnvarianten in dem vom Wortlaut abgesteckten Spielraum zu präzisieren.[14]

Die Auslegung eines Rechtstextes setzt stets voraus, dass man Wortbedeutung einschließlich Grammatik und Systematik sowie historische Regelungsabsicht berücksichtigt.[15] Auf die verfassungskonforme Auslegung wird noch einzugehen sein. Die teleologische Auslegung geht über Wortlaut, Grammatik, System und erkennbare subjektive Absicht des Normgebers hinaus; sie ist unverzichtbar, wenn eine Fallkonstellation zur Entscheidung steht, die vom Gesetz erkennbar nicht erfasst ist und aus den anderen Auslegungsregeln keine zuverlässigen Schlüsse gezogen werden können. Im Verwaltungsrecht gilt als Grenze der Teleologie, dass bei  Eingriffen in die Bürgersphäre unter derGeltung des Gesetzesvorbehalts mit Hilfe der Teleologie gegen Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte keine Eingriffsgrundlage geschaffen werden darf. 

Die Auslegungsregeln sind als Metaregeln zwar auch Sprache, aber eben Anleitungen oder Programme für den Brückenschlag. Eine allgemein verpflichtende Systematik der Auslegungsregeln gibt es nicht. Die Begründung einer problematischen Rechtsentscheidung, die auf die Auslegungsregeln nicht eingeht, würde als unzureichend, wenn nicht als willkürlich empfunden. Deshalb spielen die Auslegungsregeln und deren Einsatz eine große Rolle bei der Anwendung des Gesetzes durch die Verwaltung.

VI. Rechtsstaatliche Grundsätze für die Gesetzesanwendung durch die Verwaltung

Die bisher behandelten Grundfragen der Anwendung von Gesetzen durch die Verwaltung waren: das Gesetzmäßigkeitsprinzip, die Möglichkeit normativer Wirkung auf die Wirklichkeit und die Auslegungsregeln. Es geht um die rechtsstaatlichen Grundsätzen, die bei der Gesetzesanwendung zu beachten sind. Ziel der Ausführungen ist es, den Gesamtvorgang der Anwendung des Gesetzes deutlich zu machen. Das sind die aus der Sache sich ergebenden Grenzen der Bestimmtheit gesetzlicher Regelungen, die zu Ermessensermächtigungen und unbestimmten Gesetzesbegriffen führen (1). Das ist ferner der Einfluss der Grundrechte bei der Anwendung der Gesetze und das dabei unverzichtbare Verhältnismäßigkeitsprinzip (2). Am Schluss folgen einige Bemerkungen zum Vertrauensschutz, soweit ihn die Verwaltung bei der Anwendung der Gesetzes zu gewährleisten hat (3).

1. Verwaltungsermessen und unbestimmte Gesetzesbegriffe

Zu Anfang wurde die Unterwerfung der öffentlichen Verwaltung unter das Gesetz betont und auf den Gesetzesvorbehalt hingewiesen, der eine elementare Kompetenzbestimmung jeder rechtsstaatlichen Rechtsordnung darstellt. Das Verwaltungsermessen bedeutet eine besondere Kompetenz der Verwaltung bei der Gesetzesanwendung.[16] So räumt die Gesetzgebung der Verwaltung Ermessen ein, wenn der zu regelnde Gegenstand eine genauere abstrakt-generelle gesetzliche Vorausbestimmung der Rechtsfolge nicht zulässt. Danach kann die Behörde ermächtigt werden zu entscheiden, ob sie eine im Gesetz vorgesehene Rechtsfolge anordnet (Entschließungsermessen), oder die Ermächtigung kann darauf gerichtet sein, unter mehreren Rechtsfolgen eine auszuwählen (Auswahlermessen). 

Bei der Ermessensausübung geht es nicht um Freiheit der Verwaltung. Die Behörde darf nicht entscheiden, wie sie will. Bevor die Behörde handelt, muss sie im Rahmen der jeweils einschlägigen, mehr oder weniger weiten gesetzlichen Vorgaben die Sachlage – eventuell in einem besonderen gesetzlich geregelten Verfahren[17] – beurteilen. Wer Ermessen ausübt, würdigt Lebenssachverhalte im Rahmen gesetzlicher Zielvorgaben und entscheidet im Rahmen dieser Vorgaben. Im deutschen Verwaltungsverfahrensgesetz wird die Ausübung des Ermessens folgendermaßen geregelt: „Ist die Behörde ermächtigt, nach ihrem Ermessen zu handeln, so hat sie ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten“ (§ 40 VwVfG).[18]

Hinter dem Zuständigkeitsproblem steht der rechtsphilosophische Gehalt des Ermessensbegriffs, in dem ein unabweisbares rechtliches Urphänomen zum Ausdruck kommt. Wenn im Hinblick auf die notwendige Entscheidung des Einzelfalls nicht weiter generalisierbare konkrete Sachverhalte vorliegen, ist es nicht vermeidbar, der zur Entscheidung berufenen Stelle Ermessen einzuräumen. Ermessen bedeutet, etwas ausmessen, beobachtend beurteilen, überlegend entscheiden.[19] Der dafür im angelsächsischen und romanischen Sprachbereich verwendete Ausdruck „discretion“ leitet sich unmittelbar von dem Partizip Perfekt des lateinischen Verbs „discernere“ ab, das scheiden, unterscheiden, beurteilen, entscheiden bedeutet.

Wem diese Beurteilung obliegt, der muss eine den Zielvorgaben des Gesetzes entsprechende Entscheidung treffen, die im Hinblick auf die je individuellen Verhältnisse angemessen, billig und gerecht ist. Wenn die Gleichheit durch das allgemeine Gesetz nicht verbürgt werden kann, weil die generalisierenden Begriffe des Gesetzes in unvorhergesehenen Fallkonstellationen Fehlerquellen oder Härten ergeben, oder wenn das Gesetz wegen der Besonderheit der Lebenssachverhalte nur allgemeine Zielbestimmungen festlegen kann, muss die Verwaltung im konkreten Fall die Gleichheitsfrage selbst entscheiden. Dafür hat die Verwaltung nach der Verallgemeinerungsfähigkeit ihrer Problemlösung nach Maßgabe der Wertungen des Gesetzgebers zu fragen.[20] Vergleichbare Fälle sind gleich zu entscheiden. Der Vergleichbarkeit unterzogene Fälle sind auf die Hervorbringung des Allgemeinen auszurichten. Sie sind nicht beliebigen Besonderheiten oder gar dem Interesse einer Partei dienstbar zu machen.

Ermessen kommt im Verwaltungsrecht z.B. vor zur Beurteilung von Risiken,[21] zur Gewährung von Dispensen,[22] zur Ermöglichung von Taktik,[23] als Freiraum zur Entfaltung besonderen Sachverstandes, auf Gebieten wie Kunst, Wissenschaft usf. und als Planungsermessen im Bau- und Straßenrecht.[24]

Außer dem Ermessen auf der Rechtsfolgeseite des Gesetzes gibt es auf seiner Tatbestandsseite sog. unbestimmte Gesetzesbegriffe. Beispiele sind: gute Sitten, Eignung, Verkehrssicherheit, unbillige Härte. Diese im Einzelfall ausfüllungsbedürftigen Begriffe verweisen auf normative Maßstäbe in Gestalt von akzeptierten, in der jeweiligen sozialen Wirklichkeit bestehenden Wertungen, mit deren Hilfe konkretes Verhalten beurteilt werden soll. Damit wird ein beobachtetes, als normal bewertetes Verhalten zum Maßstab für zukünftiges Verhalten.[25] Eine nähere begriffliche Beschreibung des geforderten Verhaltens findet nicht statt, weil die Verhaltensweisen so mannigfaltig sind, dass sie sich begrifflicher Präzision entziehen.[26] Bei der Anwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe ist zunächst der Verwaltungsbeamte, später eventuell der Richter in eine lebendige juristische und gesellschaftliche Tradition hineingestellt, die er vor seinen subjektiven Wertvorstellungen zur Geltung bringen kann und muss.[27]

2. Grundrechte und Verhältnismäßigkeitsprinzip

Der Gesetzgeber ist beim Erlass der Gesetze und die Verwaltung ist bei Anwendung der Gesetze an die Grundrechte gebunden (Art. 1 Abs. 3 GG). Wenn das anzuwendende Gesetz nach den dargelegten Auslegungsregeln verschieden ausgelegt werden kann, so dass es entweder verfassungswidrig oder verfassungsmäßig ist, ist die Verwaltung verpflichtet, es verfassungskonform auszulegen. In dieser Pflicht manifestiert sich die unmittelbare Bindung der Verwaltung an die Verfassung. Gesetze, die Richtlinien der Europäischen Union umsetzen (Art. 288 Abs. 3 AEUV), müssen so ausgelegt werden, dass die Ziele der Richtlinie verwirklicht werden. 

In Deutschland hat die Denkform des subjektiven öffentlichen Rechts in den Grundrechten und in der diesen vorangestellten Menschenwürdegarantie ihre verfassungsrechtliche Grundlage. Das subjektive öffentliche Recht ist aber auch eine Konsequenz des Rechtsstaatsprinzips. Subjektives Recht bedeutet allgemein Rechtsmacht, von einem anderen ein Tun, Dulden oder Unterlassen fordern zu können, als subjektives öffentliches Recht vom Staat oder einem anderen Träger öffentlicher Gewalt.[28]

Bei der Anwendung von Gesetzen durch die Verwaltung geht es regelmäßig um einen im Gesetz vorgeformten Ausgleich zwischen Rechten Einzelner und Gemeinwohlbelangen, die zumeist durch Grundrechtseinschränkungen realisiert werden. Wenn das bloße Ziel, Rechtsgüter zu schützen, für Grundrechtseinschränkungen beliebiger Art genügte, wäre die Bindung an die Grundrechte in Frage gestellt. Das lässt sich sowohl auf Gesetzesebene als auch bei der hier interessierenden Ebene der Gesetzesanwendung dadurch vermeiden, dass die zum Schutz der verfassungsrechtlich fundierten Rechtsgüter eingesetzten Mittel bestimmten Grenzen unterworfen sind. Diese sind zumeist schon im Gesetz festgelegt. Bei der Anwendung offener Gesetzesbegriffe oder von Ermessensermächtigungen spielt das Verhältnismäßigkeitsprinzip eine große Rolle.

Bezeichnender Weise ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip schon im 19. Jahrhundert  im deutschen Polizeirecht aktualisiert worden,[29] um die Generalklausel als Grundlage polizeilichen Entscheidens rechtsstaatlich zu bändigen. Die auf einer Generalklausel beruhende Maßnahme der Verwaltung muss geeignet und erforderlich sein, um das gesetzlich vorgegebene Ziel zu erreichen. Außerdem ist abzuwägen, ob die Schwere des Eingriffs im angemessenen Verhältnis zum Nutzen für das Schutzgut steht. Je nach der Genauigkeit der Formulierung des Gesetzes hat die Verwaltung Spielräume, die unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs begrenzt werden.

3. Vertrauensschutz

Bei der Anwendung des Gesetzes gilt, wie dargelegt, das Gesetzmäßigkeitsprinzip. Deshalb kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch wenn er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden (§ 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG). Ist der Verwaltungsakt begünstigend, darf er jedoch nur unter Einschränkungen zurückgenommen werden, die in § 48 Abs. 2 – 4 VwVfG festgelegt sind und dem Vertrauensschutz dienen. In diesen Fällen weicht die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung dem Vertrauensschutz, d. h. der rechtswidrige Zustand wird zugunsten des Betroffenen aufrechterhalten. Zur Begründung des Vertrauensschutzes wird das Rechtsstaatsprinzip herangezogen. Die Formulierung der allgemeinen Regel in § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG, dass der rechtwidrige Verwaltungsakt ganz oder teilweise, für die Vergangenheit oder nur für die Zukunft zurückgenommen werden darf, ermöglicht der Verwaltung dem Gesetzmäßigkeitsprinzip den Umständen entsprechend[30] hinreichend Wirksamkeit zu verschaffen. Gleichwohl hat die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gewisse durchgehende Konturen entwickelt, so dass man, wie Hartmut Maurer[31] sagt, von einer in sich geschlossenen Rücknahmelehre des Bundesverwaltungsgerichts – also Richterrecht – sprechen kann.

VII. Zusammenfassung

1. Die rechtsstaatliche Verwaltung vollzieht sich auf der Grundlage, zumindest im Rahmen des Gesetzes. 

2. Die Anwendung des Gesetzes durch die Verwaltung verlangt eine der Norm entsprechende Bildung des Tatbestandes aus der Wirklichkeit unter Beachtung der Regeln der Gesetzesauslegung. 

3. Für die Gesetzesanwendung gelten rechtsstaatliche Grundsätze, die besonders hervorgehoben worden sind für die Ausführung von Ermessensermächtigungen und die Anwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe. 

4. Die Verwaltung ist – vermittelt durch das anzuwendende Gesetz und bei dessen Anwendung –  unmittelbar an die Grundrechte gebunden, wofür das Verhältnismäßigkeitsprinzip leitend ist. 

5. Bei der Gesetzesanwendung schützt die Verwaltung unter Zurückstellung der Gesetzmäßigkeitsprinzips das Vertrauen auf den Fortbestand begünstigender Verwaltungsakte.


[1] Christian Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, S. 162 f.

[2] Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG 

[3] Art. 19 Abs. 1 GG

[4] Art. 19 Abs. 4 GG,  §§ 40 ff VwGO

[5] Ich folge hier meinen Ausführungen in Christian Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, 1995, S. 71 f.

[6] Karl Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl., 1963, S. 15.

[7] Emilio Betti, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, 1967, S. 620 ff.

[8] Georg Simmel, Das individuelle Gesetz (1913), Ausgabe 1968, hrsg. v. Michael Landmann, S. 175: „Der Inhalt des Allgemeinbegriffs, der ein konkretes Ding bezeichnet, schließt nur gewisse Teile, Aspekte, Bestimmtheiten des Dinges ein, sehr viele andere aber die ganze individuelle Konfiguration … lässt der Begriff gänzlich außerhalb seines Inhalts“.

[9] G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807) Werke Bd. III, Suhrkamp 1970, S. 91 f.

[10] Helmut Schelsky, Nutzen und Gefahren der sozialwissenschaftlichen Ausbildung von Juristen, in: JZ 1974, S. 410, 412 mit Hinweis auf die Notwendigkeit, Sachverhaltsfeststellungen in der juristischen Ausbildung zu lernen!

[11] Jürgen Habermas, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, 1973, S. 140.

[12] So enthält § 2 des Nieders. Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung 29 Definitionen. Z. B. „Eine konkrete Gefahr ist eine Sachlage, bei der im einzelnen Fall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung eintritt.“ Definitionen finden sich auch für „erhebliche Gefahr“, „gegenwärtige Gefahr“ und „abstrakte Gefahr“.

[13] Werke und Briefe, hrsg. von Beißner und Schmidt, 1969, Bd. I, S. 315.

[14] Friedrich Müller, Juristische Methodik, 4. Aufl. 1990, S. 199 ff, 213 f.

[15] BVerfGE 60, 319, 325; 67, 100, 128 ff.

[16] Christian Starck,Das Verwaltungsermessen und dessen gerichtliche Kontrolle, in: Festschrift für Horst Sendler, 1991, S. 167 ff = Starck,Praxis der Verfassungsauslegung, 1994, S. 223 ff.

[17] Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, S. 178, 184; Jens-Peter Schneider, Strukturen und Typen von Verwaltungsverfahren, in: Hoffman-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2008, S. 523, 546 ff.

[18] Dem entspricht die Kontrollnorm des § 114 Verwaltungsgerichtsordnung.

[19] Moritz Heyne, Deutsches Wörterbuch, Bd. I, 2. Aufl. 1904, Sp. 806.

[20] Hans-Ulrich Evers, Das allgemeine Gesetz und seine Anwendung, in: Starck (Hrsg.), Die Allgemeinheit des Gesetzes, 1987, S. 96, 129 auch zum Folgenden.

[21] § 7 Abs. 2 Atomgesetz: Genehmigung darf nur erteilt werden, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen, muss aber nicht erteilt werden.

[22] § 31 Abs. 2 Baugesetzbuch: von den Festsetzungen des Bebauungsplans kann befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und 3 weitere Voraussetzungen erfüllt sind.

[23] § 5 Nieders. Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung.

[24] Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 7 Rn. 63.

[25] Vgl. Josef Esser, Grundsatz und Norm, 2. Aufl. 1964, S. 150.

[26] Christian Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, S. 265.

[27] Karl-Heinz Strache, Das Denken in Standards, 1967, S. 17 f.

[28] Ottmar Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung, 1914, S. 224; ders., Altes und Neues über Begriff und Bedeutung der subjektiven öffentlichen Rechte, in: Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, 1955, S. 269, 274.

[29] Preuß.OVG 13, 424, 426; Sächs.OVG, Jahrbuch 1907, S. 328, 331; Bad.VGH, Zeitschrift für Bad.Verw. 1923, S. 133.

[30] Beispielhaft BVerfGE 59, 128, 169 f.

[31] Maurer (Anm. 26), Rn. 23 f. mit Angaben aus der Rechtsprechung; Kyrill-A. Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 321 ff.


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Posted by Christian Stark

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