Abstract [en]

Christian theology has a voice of its own beyond the rich contributions coming from psychology, sociology, behavioural sciences and others. This also refers to sacred times and places which include the city, seen as “Babel” (Gen 11) and place of moral destruction as well as “heavenly Jerusalem” (Apocalpyse 22) or place of divine promise. Until these days, big cities are a place of social innovation, of utopia and dystopia, of hope and despair, of violence and dreams of a good future. From a Christian perspective, religious literacy and a culture of dignity may go hand in hand respecting the alterity of the other, his or her difference with regard to our own identity. Alterity then reminds of an urban “Negative Theology” which could be a future task for modern theology.

All this may lead to the human success of urban civil society, especially including an attitude of listening and of perceiving different life styles in the sense of being a mirror of  “the image of God” in human beings. Human beings as “image of God” can be characterized by their ability to use reason and by their ability to love. Talking and living up to such a theology also helps transforming the city into a place which can be called “God’s dream” and dream, not the nightmare of all of us as human beings.

Abstract [de]

Über die Bereicherung aus Psychologie, Soziologie und anderen Wissenschaften hinaus hat die Theologie eine eigene Stimme, die sich speziell auch auf Orte und Zeiten bezieht.  Dazu gehört die Stadt. Sie ist biblisch Ort des Verderbens („Babel“ Gen 11) und der Verheißung („himmlisches Jerusalem“ Offb 21), zugleich Utopie und Dystopie. Städte sind Labore sozialer Innovation, Orte der Gewalt und Verzweiflung, aber auch von Hoffnung und Sehnsucht. Religiöse Sprachfähigkeit und eine Kultur der Würde können hier Hand in Hand gehen, auch und gerade in der Achtung vor der Andersheit des Anderen, vor dem, der „ganz anders ist“ und der an eine urbane Theologia Negativa erinnern kann. Gerade das Christentum kann einen zivilisatorischen Beitrag zu gelingender Zivilgesellschaft in der Stadt leisten, wenn es fähig wird, zuzuhören und in der Differenz eben auch Gottebenbildlichkeit im Sinn von Liebes- und Vernunftfähigkeit zu würdigen und neu zur Sprache zu bringen. Dann kann die Stadt „Traum Gottes“ und nicht Albtraum, sondern „Traum der Menschen“ werden.

November 2016

Traum Gottes, Albtraum der Menschen? – Theologie der Stadt

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

es ist wunderbar, dass die Theologie in den letzten 50 Jahren so viel von der Soziologie, der Psychologie und anderen Wissenschaften gelernt hat. Dieses Lernen sollte freilich das Ziel haben, der Theologie als reflektierter Wissenschaft religiöser Theorie und Praxis zu helfen, ihre eigene Sprache zu finden und ihre eigene Erkenntnis zu fördern. In diesem Sinne sollen die folgenden Überlegungen theologischen Charakter haben, damit aber auch das Wagnis eingehen, anstößig zu sein. Ich werde dabei in vier Schritten vorgehen:

  1. Fakten und Gefühle
  2. Glauben leben und Evangelium in der Stadt
  3. Ziele und Utopien gelingenden Zusammenlebens
  4. Bausteine für eine Theologie der Stadt.

Diese Gedanken setzen die Hintergrundfolie diakonischer Erfahrung voraus,  thematisieren diese aber nicht in allen Facetten. Diakonische Theologie darf nämlich nicht nur Spiegel urbaner Faktizität sein, sondern sie muss und soll auch über den Tag hinaus wirken dürfen. Schließlich sind Städte niemals fertig, sondern Baustellen des Lebens in jedem Augenblick ihrer Existenz. In diesem Sinn ist auch die eingangs gewählte Metapher zu verstehen. Denn Städte sind aufgespannt zwischen der sorgenvoll betrachteten Hybris des biblischen Turmbaus von Babel (Genesis 11, 1-9) und der utopischen Verheißung des himmlischen Jerusalems als finalem Ort unserer menschlichen Bestimmung, als Träger göttlicher Verheißung und Symbol des Reiches Gottes (Gal 4,26; Offb 21,2-22). Städte sind, anders gesagt, von ihrem Ursprung her beides: Ort der Verheißung und Ort des Verderbens.

Wir können diese konstitutive Ambivalenz nicht überspringen und aus menschlicher Kraft auch nie ganz überwinden. Traum Gottes und Albtraum der Menschen, beides gilt. Auch wenn das letzte Wort aus Sicht eines gläubigen Menschen und eines Theologen Gott und nicht den Menschen gehört.

  1. Fakten und Gefühle

Seit etwa 2015 lebt mehr als die Hälfte der Menschheit- das sind heute etwa 7,4 Milliarden Personen- in Städten. Der Anteil der städtischen Bevölkerung wird bis 2050 auf rund 70% der Weltbevölkerung (dann 9,7 Mrd.) zunehmen.  Und von den ersten Städten im Nildelta oder im alten Israel bis zu den heutigen Megastädten mit mehr als 10 Mio. Einwohnern ist es ein weiter Weg. Wesentlicher Hintergrund der Bevölkerungszunahme ist die verbesserte medizinische Versorgung, so dass die Müttersterblichkeit zwischen 1990 und 2015 weltweit um 44% und die Kindersterblichkeit von Kindern unter 5 Jahren um 52% gesenkt wurde (Fischer Weltalmanach 2017, S.18).

Das sind nicht nur, aber doch sehr stark urbane Phänomene. Und vor allem die Megastädte mit über 10 Millionen Einwohnern nehmen stark zu.1950 hatte nur Tokio mehr als 10 Millionen Einwohner. Heute haben wir In Europa  Paris, London, Moskau und Istanbul als Mega-Cities; weltweit gibt es bereits über 20 solcher Riesenstädte, mit wachsender Tendenz. Die Zuwanderung zu den Städten hat verschiedene Ursachen: Bürgerkrieg wie in Kolumbien mit fast 7 Millionen  Binnenflüchtlingen, Landflucht wie in Indien, Industriepolitik wie in China, aber natürlich auch hohe Geburtenraten. Die Städte kommen dann mit ihrer Infrastruktur nicht nach. Es entstehen informelle Siedlungen, die wir manchmal Slums, Townships, Favelas, Barrios Emarginados oder No-Go-Areas nennen.

Schon die Sprache aber drückt einen emotionalen Blickwinkel aus. Mit dem 2009 von mir gegründeten Institut für Sozialstrategie (IfS) zur Erforschung der globalen Zivilgesellschaft  haben wir uns der Frage nach der Stadt angenommen, beispielsweise in einer Arbeit über „Das Quartier als Ressource“. Dort ging es um die Comunidade Vila Autódromo in Rio de Janeiro, die sich anlässlich der Olympischen Spiele 2016 dagegen wehrte, sozusagen nur als ästhetischer Schandfleck betrachtet zu werden und Wege des zivilgesellschaftlichen Widerstands ging. Die Menschen bestanden darauf, sich als „Comunidade“ und nicht als „Favela“, d.h. als „Gemeinschaft“ und nicht als „Elendsviertel“ zu bezeichnen (K.-M. Brandenburger 2016).

Die anerkannte Stadtforscherin Janice Perlman weist in der Tradition der Anerkennung des informellen Sektors durch Hernando de Soto darauf hin, dass urbane Transformation ohne Einbeziehung der oft sehr kreativen und willensstarken Menschen aus den informellen Siedlungen nicht gelingen wird (J.Perlman 2016, S.9): „Ohne soziale Gerechtigkeit und politische Teilhabe wird es weder die nachhaltige Stadt des 21.Jahrhunderts noch dauerhaft ökonomische Vitalität und ökologische Regenerierung geben können“.

Mit der Sprache kommen wir also zu den Gefühlen. Denn Sprache setzt vor allem respektvolles Zuhören voraus. Auch hier möchte ich zwei Erfahrungen voranstellen. So hatte eine Mitarbeiterin des IfS bei einem Aufenthalt in Kenia ermitteln wollen, welche Maßnahme sich Slum-Bewohner von Nairobi am dringendsten wünschen. Die Null-Hypothese war „Strom“, der tatsächliche Befund war anders: Sie wollten eine in der informellen Siedlung gut erreichbare Ladestation für ihre Mobiltelefone!

Eine zweite Erfahrung kommt wieder aus Lateinamerika, speziell aus Kolumbien. Dort hat der Bürgerkrieg viele Menschen zur Flucht in die Städte gezwungen. Einzelne informelle Siedlungen sind dort extrem gewaltgeneigt. Eine der schwierigsten Gebiete in Medellin ist beispielsweise die Siedlung Santo Domingo Savio, die aus dem besiedelten Tal die Berghänge hinauf in Anspruch genommen hat. Über Prozesse zivilgesellschaftlicher Mobilisierung gelang es zuerst, in Medellin die U-Bahn zum „Stolz der Stadt“ zu entwickeln („Cultura Metro“). Einige Jahre später wurde dann den Bergrücken hinauf eine Seilbahn als Mittel des öffentlichen Verkehrs gebaut. Nun können Frauen (natürlich auch Männer, aber oft sind es Frauen) in die Stadt hinunter fahren und einer Beschäftigung nachgehen. Ergebnis: Die Zahl der Mordopfer sank signifikant.

Zu den Gefühlen einer in Extremen lebenden Stadt gehören Angst und Bedrohung. In Medellin oder Bogotà gibt es folglich nicht nur informelle Siedlungen, sondern eben auch Gated Communities, also Wohngebäude oder Mini-Siedlungen mit Zugangskontrollen und „Sicherheit hinter hohen Mauern“. Schon Richard Wilkinson weist im Jahr 2000 mit seinem Büchlein „Mind the Gap“ auf den sozialen Stress hin, der durch ein Übermaß an Ungleichheit verursacht wird.

Zu den Gefühlen der Stadt gehören aber nicht nur Angst und Ungewissheit, sondern auch der ständige Wechsel der Gefühle. Dazu gehören Enge und Weite, Verloren-Sein und Zuhause –Sein,  Unbehagen und Geborgenheit, Hektik, sozialer Stress und Gedränge auf der einen, Anregungen und Begegnungen mit vielfältigen Formen der Teilhabe auf der anderen Seite. Verzweiflung, Hoffnung und Sehnsucht liegen nahe beieinander, nahe im räumlichen, im sozialen und im seelischen Bereich. Das Faszinosum der Stadt hat sich so bis heute den biblischen Doppelcharakter von Fluch und Segen erhalten.

  1. Glauben leben und Evangelium in der Stadt

Was bedeutet die Stadt dann für das Leben und Erleben des Glaubens, für das Leben mit und aus dem Evangelium?

Das Evangelium ist ja zuerst einmal eine Botschaft der Freiheit. Gerade weil Städte von jeher für eine Vielzahl von Lebensentwürfen offen sind, waren es eben auch Städte, die für die Ausbreitung des frühen Christentums wegweisend waren: Jerusalem, Korinth, Rom. Das Christentum hat jedenfalls als „Stadtreligion“ urbaner Minderheiten begonnen. Ländlich-religiöses Brauchtum kam erst später!

Die hier vorgelegten Überlegungen beziehen sich zwar auf die Stadt als Lebensraum, möchten aber keinen künstlichen Gegensatz zwischen Stadt und Land konstruieren. Schließlich gibt es fließende Grenzen an der Peripherie der Städte, aber auch eklatante Gemeinsamkeiten, einfach weil die Herausforderung etwa des Klimawandels ja nicht an irgendwelchen Stadtgrenzen aufhört. Die ganz besonderen Herausforderungen des Landes wie etwa die Gestaltung einer menschenwürdigen und ökologisch verträglichen Landwirtschaft, der Zugang zu Bildung, Wasser, Gesundheit und fairen Lebenschancen für Menschen in entlegenen ländlichen Regionen sind an dieser Stelle freilich nur zu erwähnen, nicht tiefer zu erörtern.

Kommen wir zurück zu den Städten. Weil Städte offen für ganz unterschiedliche Menschen und Lebensstile sind und sein müssen, sind sie auch Orte des politischen und des religiösen Wettbewerbs. Die Dominanz einer einzigen Religion ist nicht der Normalfall, nicht in Jerusalem, nicht einmal in Rom oder in Damaskus. Religiöse Pluralität und soziale Vitalität gehen Hand in Hand.

Konfliktfrei ist das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religion selten oder nie. Und selbst herausgehobene Orte des Glaubens sind immer auch Orte sozialer Repräsentation, gleich ob es um Synagogen, Tempel, Moscheen oder Kirchen geht. So steht auf der Fassade des Petersdoms in Rom  „Paulus V Borghese fecit“ (Errichtet von Papst Paul V aus der Familie Borghese), als stolze, vielleicht auch überhebliche Erinnerung an die dynastische Familie, die damals den Papst stellte.

Glauben leben hat auch in der Stadt unterschiedliche Orten und Zeiten, unterschiedliche Maße an Intensität. Aus der Konsumforschung kennt man den Begriff des „Heavy Users“, also des intensiv nutzenden Konsumenten. Menschen, für die der Glaube eine zentrale Rolle für ihr Leben spielt, wären in diesem Sinne „Heavy User“. Das Maß der Zugehörigkeit, des Engagements und der inneren Bedeutung in der persönlichen Wertelandschaft unterscheidet sich aber massiv. Es reicht von nicht feststellbarer bis zu punktueller Bedeutung von Religion und Glaube, etwa bei Anlässen wie Hochzeiten oder zu den Hochfesten. Theologisch problematisch schiene es mir, ein für alle gedeihliches „Mindestmaß“ an Religiosität oder gar an Glauben auch nur fordern zu wollen.

Wenn schon Religion und Religiosität nicht für alle Menschen von gleicher Bedeutung ist, dann erst recht nicht die Zugehörigkeit zu Kirchen oder religiösen Gemeinschaften. Deutschland ist bekanntlich eines der Länder weltweit, die den höchsten Anteil konfessionsloser Menschen haben.

Konfessionslos heißt aber nicht religionslos; der Graustufen gibt es viele. Menschen ohne religiöses Bekenntnis haben- wie andere auch- existenzielle, zum Teil auch explizit religiöse Fragen haben. Denn von Krankheit, Leid und Tod sind sie ebenso betroffen wie andere.

Für Deutschland neu ist hingegen ein immer höheres Maß religiöser Sprachlosigkeit. Anders gesagt: Eine religiöse Frage, die nicht im Haus religiöser Sprache gestellt werden kann, wird womöglich als religiöse Frage gar nicht erkannt.

Religiöse Sprachfähigkeit hat mit eigener Erfahrung religiöser Praxis in Gottesdienst, Jugendarbeit und Diakonie zu tun, mit heiligen Zeiten und Orten, hierzulande vielleicht inklusive Weihnachtsmarkt, Tannenbaum und Weihnachtsliedern. Denn die eigene Glaubens- und Lebensgeschichte von Menschen, ihr eigener biographischer Faden, ist untrennbar mit der eigenen Familie verbunden, der Erfahrung mit „amtlichen“ Religionsvertretern, mit Schulen, Kirchen und anderen Protagonisten.

Religiös gedeutete Erfahrungen bleiben in Familien oft über Generationen lebendig. Dazu können auch kleine Rituale des Alltags gehören, etwa das gemeinsame Singen und Beten oder andere Formen sehr praktischer Alltagsbewältigung. – Religiös abschreckende Erlebnisse wirken aber ebenso lange nach, etwa herabsetzende Kränkungen im Blick auf den früheren Umgang mit konfessionsverschiedenen Ehen, mit Ehescheidung und anderen Anlässen religiös motivierter Diskriminierung.

Strukturen, eben auch religiöse und kirchliche Strukturen vermitteln Gefühle, so könnten wir erneut schlussfolgern. Religion ist aber mehr als Gefühl, Glaube erst recht. Aus der Lebenspraxis heraus dürfen wir aber nicht vergessen, dass wir Menschen aus Fleisch und Blut sind, eingebunden in Herkunft und Geschichte, Zukunft und Schicksal. Da spielen theologische Argumente gerade nicht die entscheidende Rolle- Begegnungen und Formen erlebten Wohlwollens aber schon. Diakonie lebt ja gerade aus dem Impuls eines Zusammenklangs des eigenen Glaubens mit sozialer Aktion und mitmenschlicher Begegnung in der Vielfalt ihrer Formen. Nicht nur im Blick auf das Lutherjahr 2017 scheint mir diese Einsicht zentral zu sein.

Denn Glaube ist nicht unvernünftig, aber Glaube ist mehr als Vernunft, auch in der Stadt. Religiöse und soziale Aktion, Glaube und Diakonie gehen gerade dort Hand in Hand, wo wir anderen Menschen ihre Andersheit lassen, diese respektieren und uns vor der Weisheit der vielen Namen und Gesichter Gottes innerlich verbeugen.

Das ist ein manchmal anstrengender und oft erklärungsbedürftiger Weg. Er unterscheidet sich von konfrontativen Formen der Missionierung, lässt aber auch den Verteilern des „Wachtturms“ der Zeugen Jehovas und den Musikanten der Heilsarmee ihren Platz. Ein solcher Weg stellt den Menschen an die erste Stelle. Im Geheimnis Gottes und des Menschen lässt er jedem einzelnen einen „guten Grund“ für die eigene Art zu handeln und zu leben.

In christlich-religiöser Sprache geht es hier tatsächlich um Achtung vor dem Geheimnis der Andersheit des Anderen und des Ganz Anderen, den wir Gott nennen. Die Stadt wird so zum Ort des biblischen Schon und Noch-Nicht. Sie ist eschatologischer Ort von Gottessehnsucht, aber auch von Gottesdienst und von Götzendienst. Sie zeigt uns Handlungen großer Gottes- und Menschenverachtung auf. Die Stadt ist tatsächlich je beides: Hoffnungsraum der Erlösung und Wartezimmer in der Kälte kosmischer Heimatlosigkeit.

Dabei ist es hilfreich, ganz bewusst auf die Schätze religiöser Sprache zurück zu greifen. Wie wir damit umgehen, das spiegelt unser eigenes Leben. Glauben in der Stadt darf durchaus heißen, dass wir vom Evangelium auch sprechen. Denn wer der religiösen Sprachlosigkeit die eigene Sprachlosigkeit entgegenhält, der wird niemals ins Gespräch kommen. Dialog heißt auch, die eigene Sprachfähigkeit auch in diakonischen Kontexten zum Ausdruck zu bringen, anders gesagt: Diakonie und religiöse Sprache kompetent  in performative Kontexte einzubringen. Wenn nach unserem Glauben an Jesus Christus die Stadt zumindest auch ein Begegnungsraum sein darf für das Antlitz Gottes, dann dürfen und sollen wir darüber auch sprechen. Ein Ansatzpunkt hierfür ist aus meiner Sicht die Redeweise vom Menschen als Ebenbild Gottes, gedeutet in der grundlegenden Vernunft- und Liebesfähigkeit, die uns allen zu eigen ist.

Die Forderung nach religiöser Sprachkompetenz meint  keine christliche Schwallrhetorik, wohl aber der Mut, zur eigenen Sache zu stehen, auch in Zweifeln, in Anfragen, im Aushalten von Ungewissheit.  Glauben leben in der Stadt hat viele Formen, viele Gesichter. Den Glauben zur Sprache zu bringen, kann gerade für suchende Menschen eine große und unterschätzte Hilfe sein: Auch das ist dann „Evangelium“ und „Frohe Botschaft“  in der Stadt.

  1. Ziele und Utopien gelingenden Zusammenlebens

Wenn die Stadt wie im Titel ausgesprochen  „Traum Gottes und Albtraum der Menschen“ sein kann, dann gilt dies erst recht angesichts der zahlreichen Unvollkommenheiten und Herausforderungen der urbanen Welt. 

Die Stadt ist schließlich kein Paradies. Sie ist immer auch Ort vielfältiger Ungerechtigkeit, von Verbrechen und Gewalt, von Unterdrückung, Manipulation und menschlichen Abgründen. Speziell die religiös motivierte  Gewalt ist in den letzten Jahren zum Menetekel unserer Zivilisation geworden. In seinem Buch „Der Dschihad und der Nihilismus des Westens“ beschreibt Jürgen Manemann die Hoffnungslosigkeit und Sinnleere mancher junger Menschen angesichts der Versprechungen des sogenannten Islamischen Staats.

Und wenn wir von Religion in der Stadt und letztlich von einer Theologie der Stadt sprechen, dann können wir die unfriedlichen Seiten religiöser Praxis von den europäischen Religionskriegen des 16.Jahrhunderts bis zu den aktuellen Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten im Mittleren Osten nicht übersehen.

Religiöse Gewalt ist ja nicht nur Zufall. Die gewaltsame Durchsetzung von Ansprüchen liegt dort nahe, wo Religionen einen Wahrheits- und Geltungsanspruch formulieren, der in die politische Sphäre hineinreicht. Religionen beanspruchen dann einen Status als Staatsreligion, so früher im katholischen Spanien, im lutherischen Schweden, noch heute in Saudi-Arabien und in anderen (aber nicht allen) islamischen Ländern. Die Trennung von Religion und Staat gilt uns als zivilisatorischer Fortschritt. Sie ist aber keine Selbstverständlichkeit.

Das zeigen nicht nur die Entwicklungen in Istanbul und in der Türkei. Vielmehr ist religiöse Toleranz eine zivilisatorische, aber auch eine urbane Errungenschaft allerersten Ranges. Sie verlangt nämlich vom gläubigen Menschen die Anerkennung des Anderen, obwohl dieser aus dessen Sicht einem Irrtum anhängt. Ob es ein Recht auf Irrtum oder umgekehrt ein Recht auf eine erzwungene Korrektur von Irrwegen gibt, ist aber in der Geschichte höchst fraglich gewesen. Mir ist keine Religion bekannt, die ohne den Irrweg des religiösen Zwangs und der religiösen Gewalt ausgekommen wäre.

Gelingendes Zusammenleben im 21.Jahrhundert muss freilich von einem umfassenden Recht auf Religionsfreiheit ausgehen. Dieses muss in der Lage sein, religiöse Praxis zu gestatten und Religionen dort an die Spielregeln von Staat und Gesellschaft zu binden, wo religiöse Praxis gegen Menschenrechte verstoßen würde. Religion in der Stadt des 21.Jahrhunderts muss also Grenzen akzeptieren. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele, vom Bluttransfusionsverbot bei den Zeugen Jehovas bis hin zur historischen Praxis der Menschenopfer etwa in der Maya-Religion.

Vor genau 500 Jahren (1516) erschien die „Utopia“ von Thomas Morus (1478-1535), die u.a. die Forderung nach freiem Zugang zur Bildung für alle und nach religiöser Toleranz zum Inhalt hatte. Die Logik guten Zusammenlebens verlangt in diesem Zusammenhang von jeder Religion einen zivilisatorischen Beitrag in der Anerkennung Anderer. Diese Forderung ist bei weitem noch nicht universell anerkannt. Dies zeigt allein die immer wieder aufflammende Diskussion um die Geltung der islamischen Scharia und ihre Durchsetzung etwa in westlichen Demokratien.

Städte sind davon höchst aktuell betroffen. Sie sind und bleiben Laboratorien unterschiedlichster Lebensformen, auch im religiösen Bereich. Umgekehrt gehört zum umfassenden Verständnis von Religion auch ein umfassendes Verständnis vom ganzen Leben. Diakonische Impulse werden sich daher nicht auf die Forderung nach religiöser Toleranz beschränken, sondern Impulse zum Aufbau einer gelingenden Zivilgesellschaft geben.

Dazu gehört es, Stimme derer zu sein, die keine Stimme haben. Dazu gehört es, auf erfolgreiche Prozesse des Zusammenwirkens zu setzen, die auf eine gelingende Zivilgesellschaft einzahlen. Ganz praktisch geht es dabei um Zugang zu Wasser und zu Gesundheit, zu Ernährung und zu Bildung, zu menschenwürdigem Wohnen und zu öffentlicher Sicherheit. Nicht weniger wesentlich ist die „gefühlte Inklusion“ oder „Exklusion“. Lebenserfahrungen vermitteln schließlich jungen und weniger jungen Menschen das Gefühl, „dazu zu gehören“ und „dabei zu sein“ statt „nicht dazu zu gehören“ und „ausgeschlossen sein“. Was das im Extremfall bedeutet, wissen wir beispielsweise aus der Banlieue von Paris.

Gelingende Zivilgesellschaft lässt sich messen anhand der Gesamtzahl aller menschlichen Interaktionen, die weder vom Staat noch vom organisierten Verbrechen bestimmt sind. Denn repressive Staaten und kriminelle Banden lassen die Entwicklung einer offenen Zivilgesellschaft in Sport, Musik, Politik und  Kultur nicht zu. 

Indikatoren der Zerstörung einer urbanen Zivilgesellschaft sind daher alle Formen von Ausgrenzung, Polarisierung und Herabsetzung. Daraus folgt dann ein Klima der Angst, des Kontrollwahns, des Konformitätsdrucks und der  Repression.

Es geht aber auch anders: Wenn Menschen aktiv zuhören, sich engagieren, gemeinsam handeln im Großen und im Kleinen. Das kann das Fußballspielen oder das Musizieren sein. Wichtig für eine gelingende Zivilgesellschaft sind  der Aufbau von Vertrauen und sozialer Kohäsion. Übrigens auch und gerade in informellen Siedlungen und kulturellen Parallelwelten!

  1. Bausteine für eine Theologie der Stadt

Keine Stadt ist wie die andere, und doch gibt es urbane Besonderheiten, die verbinden. Die Stadt ist und bleibt zugleich Utopie und Dystopie, Ort der Hoffnung und Verheißung, aber auch Ort der Verzweiflung und scheinbaren Verdammnis, Ort der Schönheit, aber auch Symbol für physische Zerstörung und ästhetische Destruktion.

Eine Theologie der Stadt kann die Gottessehnsucht nicht ausklammern, die nicht als anthropologisches Fundamental unhistorisch postuliert, wohl aber immer wieder wahrgenommen und beobachtet werden kann. Wenn zu guter Theologie eine Kultur religiöser Sprache gehört, dann ist es auch legitim, eigene und fremde Beobachtungen theologisch zu deuten, mit Sinn zu beladen oder ihren Sinn zu entdecken- je nach Perspektive.

Die Stadt braucht eine Ästhetische Theologie, eine Theologie der Schönheit, vielleicht aber auch eine Theologie der Würde des Hässlichen, eine Art urbane Theologia Negativa.

Die Stadt braucht aber auch eine Theologie nach dem Maß des Menschen, eine Theologie der Zugehörigkeit und der Gemeinschaft, der diakonischen Solidarität und der liturgisch-symbolischen Solidität. Zum Menschen gehören  das Feiern und das Trauern, das Jubeln und das Klagen, die Hoffnung und die Stunde der Mattigkeit. Ein würdevolles Angebot christlicher Riten an den Wendepunkten des Lebens ist bleibende Aufgabe christlicher Theologie- und sogar Diakonie!

Nicht umsonst finden sich diese performativen Formen religiösen und nicht-religiösen Handelns in den Psalmen und in den christlichen Gebeten durch die Jahrhunderte. Nicht umsonst gibt es vielfältige, theologisch gut reflektierte Formen der Gemeinschaft,  aber auch Gegenentwürfe und Einwände. All dies reicht von der Kirchengemeinde bis zu Taizé, von christlichen Berufsverbänden bis zu Chören und speziellen diakonischen Impulsen, etwa in der Obdachlosenarbeit oder der Betreuung minderjähriger Flüchtlinge.

Eine Theologie der Stadt wird und muss eine Theologie der Differenz, der Alterität, der Vielstimmigkeit des Klangs, der visuellen Diversität und der körperlichen Widersprüche bei einzelnen Menschen, aber auch in urbanen Räumen sein müssen. Gott ist anders, als wir ihn uns vorstellen, jenseits unserer Begrifflichkeiten und Denkformen. – „Deus semper maior“, „Gott ist immer noch größer“, nannte dies Ignatius von Loyola, ein Zeitgenosse Martin Luthers, der auf seine Weise die Kirche erneuern wollte.

Diese respektvolle Form einer Theologia Negativa ist gerade für das Umfeld der Stadt von größter Bedeutung. Denn wir müssen Gott die Chance zur Überraschung lassen und das Wirken des Heiligen Geistes ernst nehmen.

Dabei muss die Differenz zwischen Mensch und Gott ebenso angesprochen werden wie die grundlegende Gottebenbildlichkeit des Menschen. Gerade die Stadt lädt dazu ein, sich auf die Vielfalt von Gottes- und Menschenbilder einzulassen, ohne von hegemonialen Geltungsansprüchen einzelner Vorstellungen vereinnahmt zu werden.

Den Menschen zu betrachten, das heißt immer auch, ihn in seiner Schwäche und in seiner Stärke zu sehen, in seiner grundlegenden Verletzlichkeit und in seiner erstaunlichen Schöpferkraft. Auf einer Fachtagung des Instituts für Sozialstrategie 2013 und in meinem Buch „Die Wirtschaft ist für den Menschen da“ (2013)  haben wir den Versuch gemacht, auf der Grundlage eines solchen Bilds vom Menschen eine Wirtschaftsanthropologie zu begründen, die über den puren Eigennutz des Homo oeconomicus hinaus geht und auch unsere andere Seite, den homo cooperativus, einbezieht, also den Menschen, der nach Sinn und sozialem Anschluss sucht.

Gerade weil wir verletzlich sind, brauchen wir Formen des sozialen Zusammenhalts, der institutionellen Verlässlichkeit, aber auch der Diakonie und der gelebten Solidarität, wie die Stadt sie durchaus bieten kann. Verletzlichkeit und soziale Kooperation sind zwei Seiten einer Medaille, und beide gehören zu uns.

Weil wir aber auch schöpferisch sind, ist die Herausbildung unserer Talente und Kompetenzen, die Förderung von Bildung, Kunst und Wissenschaft so entscheidend; genau das geht in der Stadt besser als anderswo. Und es ist kein Zufall, dass Schöpferkraft mit der Suche nach immer vollkommeneren und besseren Lösungen die positive Seite des Wettbewerbs, wie wir ihn aus Sport, Spiel und der Wirtschaftswelt kennen, zum Ausdruck bringt. Denn so wie die Verletzlichkeit unseren Wunsch nach sozialem Schutz und nach Zugehörigkeit zu einer verlässlichen Gruppe ausdrückt, so spiegelt sich unser tiefer Wunsch nach Einmaligkeit und Einzigartigkeit darin, dass wir uns von anderen unterscheiden möchten. In diesem Wunsch nach Einzigartigkeit und Unterscheidung sehe ich die Wurzel von Wettbewerb.

Weil wir jedoch durch unsere grundlegende Fähigkeit zu den Untiefen, aber auch Abgründen der Korruption gefährdet sind, brauchen wir Spielregeln, nach denen wir leben können. Eine Theologie der Stadt muss daher immer auch eine sozialethische Komponente haben, die ausgleicht zwischen dem Bedürfnis nach Kooperation und dem Wirken von Wettbewerb. Lässt sich soziale Gestaltung in übertriebener Weise von den Bedürfnissen der Stärkeren leiten, verliert die Stadt an Zusammenhalt.

Auch für die Stärkeren wäre die einseitige Betonung von Schöpferkraft nicht zuträglich, denn für jeden Menschen kann sehr schnell eine Zeit der Schwäche, der Krankheit und der Abhängigkeit kommen. In gleicher Weise wäre es übertrieben, ausschließlich den Ausgleich von Verletzlichkeit auf Kosten der freien Entfaltung Anderer zu suchen, denn das Beschneiden der Flügel und das Bremsen kreativer Innovation mindern die für den allgemeinen Wohlstand der Stadt nötigen Mittel. Zu suchen ist folglich eine Balance, im Ringen um die richtige Lösung, aber auch in einer zivilen Form der Konfliktaustragung ohne physische und psychische Gewalt.

Der sozialethische Traum der Stadt ist kein Patentrezept für die Politik, auch wenn wir die Phase eines Konsenses über ökologisch, sozial und finanziell nachhaltiges Handeln bereits erreicht haben (vgl. M.Stier/L.Berger 1016). Denn Konsens ist noch nicht Handeln, aber solches gezielte Handeln ist dann Sache aller Beteiligten.

Städte werden mehr und mehr zu impulsgebenden Akteuren des 21.Jahrhunderts. Eine Theologie der Stadt ist daher dringend geboten. Eine neue Theologie der Stadt darf aber nicht nur diakonisch, nicht nur ästhetisch, nicht nur sozialethisch formuliert werden. Sie muss den Mut haben, wirklich ganzheitlich und umfassend Theologie zu sein, Gott-Rede. Zu solchem Mut gehört auch, dass Gott der ganz Andere ist und bleibt, dass er uns in den merkwürdigsten Situationen und in völlig fremden Personen begegnet, selbst dann wenn wir deren Aussehen, Lebensstil, Einstellungen und Verhalten wir aus guten Gründen nicht teilen wollen.

Worum geht es also? Um eine offene Zivilgesellschaft, die nach der Balance von Verletzlichkeit und Schöpferkraft sucht, die die Lebendigkeit einer weiten Spanne von Gefühlen als Teil der Offenbarung aufnehmen kann, die aber auch den Wert vernünftiger Argumentation und theologischer Reflexion nicht schmälert. Anders gesagt: es geht um eine offene Zivilgesellschaft, die in jedem Menschen die Würde des Anderen aufnehmen und zum Ausdruck bringen kann, die Inklusion lebt und nicht nur behauptet. Das ist der Traum einer Stadt, die dann tatsächlich- utopisch, nicht dystopisch wäre und die beides sein könnte: Traum Gottes und Traum, nicht mehr Albtraum  der Menschen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

 

 

 

 

 

 

LITERATUR

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Klara-Marie Brandenburger, Das Quartier als Ressource, Am Beispiel des Widerstands der Comunidade Vila Autódromo gegen die Stadtplanungspolitik Rio de Janeiros, Institut für Sozialstrategie, www.institut-fuer-sozialstrategie.de 2016

Claus Dierksmeier, Ulrich Hemel, Jürgen Manemann (Hrsg.), Wirtschaftsanthropologie, Baden Baden 2015

Ehlers, Das Anthropozän, Darmstadt 2008

Ulrich Hemel, Die Wirtschaft ist für den Menschen da, Sinn und Logik des Kapitals, Ostfildern 2013

Christian Hermes, Interview, Christen können Stadt, in: Herder Korrespondenz 69, 2015, H. 6, 290-293

Hofmeister, Die Stadtstruktur, Darmstadt² 1991

Jürgen Manemann, Der Dschihad und der Nihilismus des Westens, Bielefeld 2015

Karl Heinz Metz, Geschichte der Gewalt, Darmstadt 2010

Harald A. Mieg, Christoph Heyl (Hrsg.), Stadt, Stuttgart 2013

Janice Perlman, Urbanisierung, Megastädte und informelle Siedlungen, in: Universitas 71, 2016, Heft Nr. 838 , S. 5-15

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Ingo Randers, Der neue Bericht an den Club of Rome, München 2012

Hernando de Soto, El otro sendero, La revolución informal, Bogotà 1987

Matthias Stier, Lars Berger (Hrsg.), Die nachhaltige Stadt, Berlin 2016

Theißen, Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen³ 1989

WBGU  (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen), Der Umzug der Menschheit- Die transformative Kraft der Städte, Berlin 2016 www.wbgu.de/hauptgutachten/hg-2016-urbanisierung/

Richard Wilkinson, Mind the Gap, Hierarchies, Health and Human Evolution, London 2000

Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt, Eine Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, Frankfurt/M. 2008

 

 

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Posted by Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel

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