Abstract [en]:

The aggressive demand for tolerance is less and less a procedural rule on how to deal with disagreements with each other, rather than a commandment, which one has to tolerate / accept by giving their own positions. “Tolerance” has become a fighting notion of the “progressive” versus the “conservative” forces that are impressed by it so as not to appear intolerant, but so tolerance becomes the opposite of what appears colorful, diverse and cosmopolitan and suppresses diversity of opinion in terms of egalitarianism and nihilism, with countless examples describing this mechanism, as well as the methods, effects and possible responses to such a modern misunderstanding of tolerance.

Abstract [de]:

Die kämpferisch erhobene Forderung nach Toleranz ist immer weniger eine Verfahrensregel, wie man bei Meinungsverschiedenheiten miteinander umgehen soll, als vielmehr ein Gebot, was man unter Preisgabe eigener Positionen zu tolerieren/akzeptieren habe. „Toleranz” ist zu einem Kampfbegriff der „fortschrittlichen” gegenüber den „konservativen” Kräften geworden, die sich davon beeindruckt zeigen, um nicht als intolerant zu erscheinen. Aber so wird aus Toleranz das Gegenteil: Was als bunt, vielfältig und weltoffen daherkommt, begrenzt und unterdrückt Meinungsvielfalt im Zeichen der Gleichmacherei und des Nihilismus. An zahllosen Beispielen wird dieser Mechanismus beschrieben, ebenso wie die Methoden, die Wirkungen und die möglichen Antworten auf ein solch modernes Fehlverständnis von Toleranz.

April 2018

Repression im Zeichen der „Toleranz“

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Wie ist es um die Freiheit des Einzelnen und der Gesellschaft in einem Land bestellt, wenn „Toleranz“ zu einer zwanghaften Veranstaltung wird?

  • Wenn einer großen britischen Tageszeitung, der konservativen „Daily Mail“, ein wichtiger Anzeigenkunde Annoncen entzieht, weil das Blatt sich politisch „nicht korrekt“ zu Ausländerfragen äußerte?
  • Wenn die Beauftragte der Bundesregierung für Integration eine Fibel fördert („Journalistenhandbuch zum Thema Islam“), die Journalisten Empfehlungen gibt, wie sie mit dem Thema „Islam“ umgehen sollten, die Regierung also sagt, wie Journalisten im Interesse der „Toleranz“ schreiben sollten?
  • Wenn in Österreich der Bundespräsident den Tag kommen sieht, „wo wir alle Frauen bitten müssen, alle, ein Kopftuch zu tragen aus Solidarität gegenüber jenen, die dies aus religiösen Gründen tun.“ (Nach heftiger Kritik bezeichnete Van der Bellen seine Aussage später als Fehler.)
  • Wenn im Zeichen von Nichtdiskriminierung und Willkommenskultur bei einem der quantitativ größten Kriminalitätsereignisse mit mehreren hundert Tätern und mehreren hundert Opfern – nämlich die Silvesternacht in Köln 2015/2016 – die Wahr-heit unterdrückt werden sollte und Opfer erst nach und nach Anzeige zu erstatten wagten?
  • Wenn in den Frankfurter Kindertagesstätten Schweinefleisch generell verboten wird, um es muslimischen Kindern zu ersparen?
  • Wenn Demonstrationen und eine wissenschaftliche Tagung von Befürwortern klassischer Familien (Vater, Mutter, Kinder) nur unter Polizeischutz stattfinden können, weil andere, die sich für die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ einsetzen, die herkömmliche und meistverbreitete Variante des Zusammenlebens potentiell gewalttätig ablehnen?
  • Wenn genderbeflissene Personen, z.B. in Hochschulen und Behörden, Sprachvorschriften erlassen wollen, die in Verwechslung von biologischem und sprachlichem Geschlecht angebliche Diskriminierung beseitigen wollen?
  • Wenn der Staat im Zeichen der sprachlichen Nicht-Diskriminierung (die Muttersprache als diskriminierendes Herrschaftsinstrument!) amtliche Dokumente (z.B. die Wahlbenachrichtigung in Schleswig-Holstein) in einer sogenannten „Leichten Sprache“ verfasst und damit die allermeisten Menschen in ihrem Sprechempfinden stört und geistig unterfordert.
  • Wenn staatliche Ganztagesbetreuung der Kinder verlangt wird, um den separierenden Einfluss unterschiedlicher Elternhäuser zu eliminieren und zu kompensieren?
  • Wenn in Frankreich durch das oberste Verwaltungsgericht die Ausstrahlung eines Filmes verboten wird, der glückliche Familien zeigt, in denen ein Kind mit Down-Syndrom lebt, und zwar mit der Begründung, dass dies Frauen, die ein solches Kind abgetrieben haben oder abtreiben wollen, seelisch belasten könne?
  • Wenn die EKD-Synode den Rat der EKD auffordert, die politischen Ansichten in Kirchengemeinden überprüfen zu lassen (was immer das auch praktisch bedeuten mag), um so Antisemitismus, Homophobie und Islamfeindlichkeit auf die Spur zu kommen?
  • Wenn die zwei führenden Repräsentanten der christlichen Kirchen in Deutschland aus Toleranzgründen sich beim Besuch des Tempelbergs und der Klagemauer in Jerusalem ihrer Bischofskreuze entledigen und Kritik daran als Ausdruck rechter Gesinnung zu unterbinden suchen?
  • Oder wenn der deutsche Innenminister in einem Zeitungsartikel zur „deutschen Leitkultur“ ohne jegliche Fremdenfeindlichkeit einige Selbstverständlichkeiten in argumentativer und differenzierter Weise zusammenträgt, indem er identitätsstif-tende Merkmale unseres Landes (was uns ausmacht und wie wir sein wollen) schildert und dafür von der linksliberalen Deutungselite in Parteien, Medien und Intellektuellenkreisen pauschal als intolerant kritisiert wird (bei der Mehrheit der Bevölkerung aber zugleich Unterstützung findet)?

All diesen und vielen weiteren Beispielen liegt ein Verständnis von „Toleranz“ zugrunde, das herkömmliche Auffassungen im Interesse anderer Meinungen zurückdrängen will – im Zeichen der Gleichheit, der Beliebigkeit, der Austauschbarkeit und der Umdeutung von Meinungen. Es ist nicht nur ein grundlegendes Missverständnis von Toleranz, unter Berufung auf sie Meinungen zu eliminieren oder zu uniformieren. Dieses Fehlverständnis wird mittlerweile mit solchem Eifer vertreten, dass aus dem Toleranzgebot ein Repressionsmechanismus wurde, der abgelehnte Inhalte als „intolerant“ unterdrücken will. Im Zeichen der Toleranz soll uns vorgeschrieben werden, wie wir unsere Religion verstehen und ausüben, was wir denken, wie wir schreiben, was wir essen, wie wir uns kleiden und wie wir unsere Kinder erziehen sollen. Was sich Toleranz nennt, ist in Wirklichkeit der Zwang zur Gleichmacherei und eine grandiose Bevormundungsstrategie.

Die beliebig ausgewählten aktuellen Beispiele deuten an, auf wie vielen Gebieten Über-kommenes gegenüber „Fortschrittlichem“ ausgetauscht werden soll:

  • In Fragen der nationalen, historischen, geistig-kulturellen und politischen Identität, also wenn es um den Streit einer multikulturellen oder an einer Leitkultur orientierten Identität geht. Dabei müsste, da Integration ein allseits anerkanntes Ziel ist, über den Minimalkonsens der Verfassungstreue hinaus, klar sein, in was integriert werden soll und was gerade uns als Flucht- und Emigrationsziel so attraktiv macht.
  • In Fragen rund um die generellen Beziehungen von Männern und Frauen, die Rolle und Varianten der Sexualität, das Familienbild, die Dauerhaftigkeit von Lebensgemeinschaften, die Rolle von Kindern und die Rolle von Eltern bei deren Erziehung. Dazu macht das Grundgesetz eigentlich deutliche normative Aussagen. Der Wert von Ehe und Familie und ihre noch immer verbreitete Akzeptanz sind im Übrigen faktisch relevante Grundlagen.
  • In Fragen der Religion, in denen bei den christlichen Kirchen zunehmend der Gedanke Platz greift, dass Toleranz gegenüber anderen Religionen nur über den Rückzug in der eigenen Religionsausübung und die Suche nach dem Gemeinsamen aller Religionen zu erreichen sei, übrigens eine Haltung, die viele Muslime von den Christen gar nicht erwartet haben, weil das ihrem eigenen Religionsverständnis nicht entspricht. Zugleich wirft die in Deutschland am meisten verbreitete nicht-christliche Religion, der Islam, in vielen ihrer Varianten aufgrund ihres Selbstverständnisses (Gottesstaat, Scharia, Absolutismusanspruch) und der politischen Praxis in den islamischen Ländern besonders bedrängend Fragen nach ihrer eigenen Toleranz, der Vereinbarkeit mit unserer Werte- und Verfassungsordnung, der Integrationsbereitschaft hierzulande und den inhaltlichen Unterschieden zum Christentum auf. Christoph Morgner hat dazu jüngst unter dem Titel „Passt der Islam zu Deutschland?“ einen „Zwischenruf“ verfasst.
  • In Fragen unserer gesellschaftlichen Ideen, Werte, Normen und Konventionen, wenn z.B. Sprache umgestaltet werden soll oder wenn Leistung und Erfolg des Einen als Benachteiligung eines anderen kritisch gedeutet wird. Wenn so z.B. schulische Leistung und Leistungsanforderung als „Stigmatisierung“ schlechterer Schüler interpretiert wird mit der Folge, die Anforderungen zu senken und eine Einheitsschule einzuführen. Oder wenn die Ideologie der „Leichten Sprache“ Vorgaben für eine radikal simplifizierte Kommunikation im öffentlichen Bereich durchsetzen will, weil sie von der „ausgrenzenden“ Wirkung unseres herkömmlichen Sprachniveaus bei einer Minderheit ausgeht und so die Mehrheit zu einem massiven Niveauverfall der Sprache im Zeichen der Nichtdiskriminierung zwingt.
  • Oder in Fragen der Lebensführung und des Lebensstils, wenn Menschen – oft ökologisch inspiriert – bevormundet, reguliert oder diskreditiert werden.
  • Übrigens: Die relativ von den meisten Betroffenen empfundene Diskriminierung, nämlich die Altersdiskriminierung, spielt in der öffentlichen Debatte eine erstaunlich untergeordnete Rolle.

Was aber wäre eigentlich unter „Toleranz“ in all diesen Fragen zu verstehen?

Im Kern setzt Toleranz unterschiedliche Positionen, Meinungen, Haltungen und Verhaltensweisen voraus – erst dann kann sie ihre notwendige und segensreiche Wirkung entfalten. In der Uniformität gibt es und braucht es keine Toleranz. Sie verlangt nicht, dass wir unsere Meinung verschweigen oder gar aufgeben oder eintauschen müssten. Nicht einmal Kompromisse gebietet sie (die aber aus anderen Gründen sinnvoll sein können). Toleranz braucht legitime Pluralität, weder Nihilismus noch Uniformität, noch Ängstlichkeit. Die innere Logik der Toleranz liegt darin, dass jeder Mensch das Recht hat, seine Überzeugungen zu leben, für sie einzustehen und zu werben. Erst ab da ist Toleranz möglich, dann aber auch nötig im Interesse lernfähiger, friedlicher und mitmenschlicher Beziehungen. Auf Indifferenz gegründete Neutralität ist moralisch belanglos. Erst der eigene Standpunkt, der im Widerspruch zu anderen Standpunkten steht, erhebt die Toleranz zu dem, was ihre Aura ausmacht: Einer ethisch wertvollen Haltung. Wenn wir eine abweichende Haltung tolerieren, so nehmen wir sie zwar als unzutreffend, aber als legitim hin. Wir ertragen, erdulden, erleiden sie vor dem Hintergrund unserer eigenen Meinung, aber wir wollen sie und vor allem ihre Anhänger nicht verbieten oder vernichten. 
Deshalb hat das Toleranzgebot grundsätzlich gar nichts mit Inhalten zu tun. Es verlangt keine inhaltlichen Korrekturen, es sei denn, es ginge um Inhalte, die per se intolerant sind. Toleranz und Freiheit sind die zwei Seiten einer Medaille, nicht Toleranz und Gleichheit. Was Toleranz wirklich gebietet, ist Maß zu halten, respekt- und stilvoll mit anderen umzugehen. Sie ist ein Verfahrensgebot, keine Walze, die inhaltlich platt machen will. Dieses Verfahrensprinzip des 
toleranten Umgangs miteinander soll unterschiedliche Positionen friedlich sich gegenüber treten lassen. Es ist legitim zu versuchen, den anderen von der eigenen Meinung überzeugen zu wollen und es ist nicht prinzipiell auszuschließen, sich auch über-zeugen zu lassen.
Der Rat der Stadt Ravensburg hat das im Jahr 1555 (!) so formuliert: „… dass keiner den anderen in Religionssachen verachten soll“. Jeder lebt seine Religion, ohne den anderen zu verachten – nicht mehr und nicht weniger, möchte man unseren bischöflichen Jerusalem- Besuchern zurufen. Oder, um das Toleranzprinzip einer bekannten Wendung folgend auszudrücken: „Achte jedermanns Vaterland, das Deinige aber liebe!“ Nur wer sein Vaterland liebt, kann verstehen und respektieren, dass auch andere ein solches haben. Das eigene darf ich aber mehr wertschätzen als das andere, ohne feindselig zu sein. Schweigen und Rückzug sind nicht Toleranz, sondern Zeichen von Unterwerfung, Mutlosigkeit oder Kapitulation. Um es mit Navid Kermani zu sagen: „Wer sich selbst nicht respektiert, kann keinen Respekt erwarten.“

Es gibt einige Indizien für potentiell tolerantes bzw. intolerantes Denken: Wer sich in erster Linie für eine Idee oder Sache einsetzt, statt gegen etwas anderes, z.B. deren Gegenteil, ist eher tolerant. Wer eine gemäßigte, normale Sprech- und Verhaltensweise an den Tag legt, ebenso. Wer hingegen alle Lebensbereiche, auch diejenigen, die mit einer Idee an sich nicht zu assoziieren sind, auf die Verträglichkeit mit der Idee hin bewertet oder umzugestalten versucht, ist potentiell intolerant, ideologisch, sektiererisch. Und wer in unangemessener oder aggressiver Weise für sein Anliegen wirbt, missioniert, agitiert, auch der ist möglicherweise strukturell intolerant.

Wenn Toleranz sich auch in der Mäßigung, sowie dem Respekt vor anderen Menschen und anderen Meinungen ausdrückt, letzteres je eher, desto wichtiger meinem Gegenüber seine Überzeugung ist, dann kann man sich schon fragen, ob ausgerechnet die Verunglimpfung einer (anderen) Religion – siehe Charlie Hebdo – oder eines (kritikwürdigen) Staatspräsidenten – siehe Böhmermann – nun als besondere Leuchttürme aufgeklärter Liberalität gefeiert werden müssen, denen mit bedingungsloser Toleranz zu begegnen wäre. Auf Toleranz kann sich der Angreifer, aber auch der Angegriffene berufen. Ob ein Toleranzverständnis des beliebigen Tabubruchs uns gut bekommt und ob es wirklich als Exportartikel für andere Kulturkreise taugt oder nicht deren Intoleranz damit legitimiert? Diese Art von Freiheit wollen sie vielleicht gerade nicht, in der islamischen Welt und anderswo.

Toleranz lebt im Übrigen von der Reziprozität, der wechselseitigen und gleichgewichtigen Wertschätzung als gemeinsamer stabiler Grundlage friedlicher Koexistenz bei unter-schiedlichen Positionen. Daran sollten die Kirchen angesichts der Christenverfolgung den-ken; mit demselben moralischen Recht und der Pflicht, wie wir Menschenrechte einfor-dern, müssen wir Religionsfreiheit einfordern – auch für unsere Mitchristen.

Wenn und weil der Respekt vor dem Anliegen anderer keine Selbstaufopferung verlangt, sondern nur Rücksichtnahme, darf der Minimalkonsens der Toleranz von jedermann verlangt werden. Der einseitige Verzicht fördert die Toleranz nicht. Oder um es einfach zu sagen: Wo bleibt die Toleranz derer, die Schweinefleisch ablehnen gegenüber denen, die es gerne essen würden – ganz abgesehen davon, dass es in vielen praktischen Fragen auch praktische Lösungen geben kann, ohne Grundsatzkonflikte auszutragen. Der Speiseplan eines Kindergartens gehört dazu. Unsere „Willkommenskultur“ macht uns manchmal lächerlich.

Unter Toleranz ist nicht nur ein meinungsfreudiges Mäßigungsgebot zu verstehen, sondern in gewissem Umfang auch eine besondere Rücksichtnahme auf sowie ein erhöhter Respekt vor Mehrheitsmeinungen. Schon verfassungsrechtlich ist es in der Demokratie legitim, Minderheiten nicht mit Mehrheiten gleichzusetzen, Neues an Vorhandenem zu messen. Und zugleich jedem, ob Mehrheit oder Minderheit, die Chance zu geben, in geordneten Verfahren für seine Belange zu werben. Das alles sollte im gesellschaftlichen Diskurs nicht anders sein. Das Wörtchen „normal“ bedeutet einerseits „normgerecht“ und andererseits „üblich“ bzw. „häufig“. Wenn ich etwas als „normal“ bezeichne, deute ich das Gegenteil nicht als abnorm, ich halte nur einen Tatbestand fest. Nicht jede Minderheit kann sich in jeder Frage mit jeder Mehrheit gleichsetzen oder über sie hinwegsetzen, so wie es umgekehrt auch Minderheitenschutz geben muss, aber eben auch nicht mehr als diesen. „When in Rome, do as the Romans do!“ – das haben wir anderswo zu erbringen und dürfen es zuhause erwarten.

Toleranz ermöglicht also ein veränderbares, labiles Gleichgewicht von Positionen, geht von prinzipieller Gleichwertigkeit von Meinungen aus, verlangt aber nicht Gleichartigkeit, Homogenität oder Gleichmacherei. Die stolz von links verkündete „kulturelle Hegemonie“ verträgt sich mit ihr ebenso wenig wie bürgerliche Faulheit und Feigheit.

Es ist nicht verwunderlich, wenn in der politischen Ideengeschichte sich jeweils diejenigen besonders für Toleranz eingesetzt haben, die sich der Gefahr ausgesetzt sahen, unter-drückt oder isoliert zu werden. Einmal mehr wird so die Rolle der Toleranzidee als ein Verfassungsprinzip zur Sicherung von Freiheit, Balance und innerem Frieden unterstri-chen. Das gilt für den Voltaire zugeschriebenem Satz „Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es sagen zu dürfen“, ebenso wie für Rosa Luxemburgs berühmten Ausspruch, demzufolge Freiheit immer die Freiheit des An-dersdenkenden sei. Zwei Eiferer der Aufklärung haben Liberalität und Toleranz eingefor-dert – ob sie diese selbst auch geübt haben, darf man bezweifeln. Denn die Balance zu halten zwischen der Motivationskraft eigener Überzeugungen und der bloßen Legitimität – dem Dulden – abweichender Überzeugungen, ist schwer. Aber auf Voltaire und Rosa Lu-xemburg darf man sich jederzeit berufen, heute freilich weniger die Linksintellektuellen ob ihrer kulturellen Hegemonie, als vielmehr diejenigen, die im Zeichen eines plattma-chenden Fehlverständnisses von Toleranz ihrer herkömmlichen Auffassungen beraubt wurden: Die bürgerliche Mitte unserer Gesellschaft ist es, die heute Toleranz einfordern muss.

Die Selbstpreisgabe aus Verunsicherung, fehlendem Mut oder der Angst, für „intolerant“ oder „rechts“ gehalten zu werden, bedeutet nicht nur, dass Toleranz mangels Standpunkten ins Leere läuft, sich also selbst abschafft, sondern auch, dass Identität und Kontinuität verloren gehen. Nihilismus und Relativierung zerstören Orientierungspunkte, Identifikation, Motivation und Vertrauen in Ideen, Konventionen, Konstitutionen und Personen. Vielleicht sollte man die mehr als ernüchternden Ergebnisse der Jugendstudie „Generation what“, die allen wesentlichen Institutionen einen erschreckenden Vertrauensverlust bescheinigt, auch vor dem Hintergrund einer grundlegenden Verunsicherung im Zeichen der Toleranz interpretieren.

Vielleicht auch sollten die offiziellen Kirchenrepräsentanten sich Gedanken über den Zu-sammenhang von religiös entleerten Aussagen und zurückgenommener Glaubenspraxis mit leeren Kirchenbänken machen. Sie sollten nicht dem Irrtum unterliegen, dass nur noch politische Botschaften, „Glaube light“ und Zeitgeistiges statt Geistliches vermittel-bar wäre. Wer nur mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit. Und: Der Angst vor einer „Islamisierung“ unseres Landes können alle Christen und unsere Kirchen am ehesten dadurch begegnen, wenn sie wieder mehr zu einer „bekennenden Kirche“ werden. Die jüngere Vergangenheit lehrt: Entchristlichung ist nicht gut für den Zusammenhalt einer Gesellschaft.

Und vielleicht sollte man die Wahl- und Abstimmungsergebnisse in vielen Ländern der westlichen Welt auch so deuten, dass die Distanz zu den links-liberalen Deutungseliten in Medien, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik viele Menschen in ein Unverständnis und Misstrauen darüber getrieben hat, was ihnen einerseits vom Establishment normativ eingetrichtert wird und was sie andererseits selbst leben, erleben oder für richtig halten. Vieles, was da als rechtes Protestpotential daherkommt, ist eher ein Not- und Hilfe-schrei, denn eine wirklich rechte oder rechtsradikale Gesinnung, obwohl es natürlich auch diese gibt, einschließlich rechter Gewalttaten. Die Entfremdung des „Normalbürgers“ von den Eliten wird durch Populisten aller Schattierungen, auch von rechten und rechtsextre-men, ausgenützt. Die weltweite und mehrheitsverändernde Flucht in „postfaktische“ Wahrnehmungs- und Reaktionsmuster signalisiert derzeit vor allem eine tiefgreifende Entfremdung zwischen der veröffentlichten Meinung und den durch sie Bevormundeten, die sich im irrationalen Protest entlädt. Übrigens ist ein postfaktisches politisches Verhal-ten weniger neu, als es das aktuelle „Wort des Jahres“ suggeriert und erfahrungsgemäß inhaltlich auch unterschiedlich aufladbar.

Nicht nur an Wahl- und Abstimmungsergebnissen in vielen westlichen Ländern lassen sich die Folgen der Entfremdung von den Eliten und der Verfremdung traditioneller Überzeugung ablesen. Auch bei uns nehmen die gesellschaftlichen Spannungen zu: Ablesbar am Erstarken der AfD, der Zersplitterung der Parteienlandschaft, den immer unterschiedlicher werdenden Wahlergebnissen zwischen Stadt und Land, zwischen sozialen Gruppen (z.B. im Ruhrgebiet und Ostdeutschland) sowie zwischen jüngerer und älterer Generation. Ein neuartiger Klassenkampf zeichnet sich ab zwischen „modernen“ Wirtschaftsverbänden und „konservativen“ Normalbürgern, ebenso wie eine Neu-Etikettierung der politischen Lager in sogenannte „liberale“ (nicht zu verwechseln mit der FDP) und „rechte“ Positionen, zu denen alles gezählt wird, was sich dem Zeitgeist der nihilistisch – egalitären Toleranz widersetzt.

Aus der Bevormundung und Verunsicherung hat sich so etwas wie eine Revolte entwi-ckelt, die nicht nur Globalisierungsverlierer, sondern auch Modernisierungsverlierer bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein erfasst hat. Intellektuell ist dieser Aufschrei der Übersehenen und Unverstandenen oft sehr einfach gestrickt. Dies aber auch deswegen, weil bürgerliche Parteien sich solcher Menschen zu wenig annehmen und den Protest so nicht kultivieren. Über dessen Primitivität lässt es sich dann leicht entrüsten. Immerhin werden die Probleme des Diktats der „political correctness“, wozu wesentlich das Fehlverständnis von Toleranz gehört, zunehmend und sogar parteiübergreifend erkannt.

Welche Chance hätte eine normale bürgerliche, teilweise konservative Partei, wenn sie sich dem Mainstream der Kulturrevolution der letzten Jahre entziehen würde und die intellektuelle Kompetenz wie auch den Mut fände, das zu sagen, was sie eigentlich am liebsten sagen würde und was ihre (früheren) Wähler und Anhänger auch von ihr erwarten: Sprachrohr der Sprachlosen zu sein, dem Diktat der „political correctness“, der „öffentlichen Empörung“ und der „moralischen Überheblichkeit“ zu entkommen – übrigens alles bemerkenswert selbstkritische Formulierungen, geäußert auf dem Bundesparteitag der Grünen im Herbst 2016, unter anderem von Winfried Kretschmann. Ob die bürgerlichen Parteien, auf deren Kosten die Entwicklung verlief, eine vergleichbare Sensibilität entwickeln? Fehlender Mut und abhandengekommene Selbstgewissheit führen dazu, dass das Würgehalsband der „political correctness“ den bürgerlichen Parteien immer geringere Spielräume zubilligt.

Die 68er-Jahre waren eine Kulturrevolution und die vergangenen Jahre einer fehlgeleiteten Toleranzdebatte, die nicht Toleranz, sondern Umdeutung unserer Werte-, Gesellschafts- und politischen Ordnung zum Ziel hatte, sind eine erneute. Dazu tragen auch benennbare Mechanismen und Methoden bei, um die „kulturelle Hegemonie“ zu erlangen, derer man sich in linken Kreisen mittlerweile rühmt:
Ein solcher – inhaltlich blinder – Mechanismus ist zunächst das Internet, insbesondere die „sozialen“ Netze mit ihrer Tendenz der Selbstselektion, Selbstbestätigung, Isolation, Abkapselung, Primitivisierung, Emotionalisierung und Verrohung. Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen beschreibt die Folgen des „digitalen Kontrollverlustes“ und der „Nachrichten- und Weltbildmaschine neuen Typs“ für den Niedergang der politischen Kultur. Wo sich Toleranz bewähren müsste, im Austausch der Argumente und Informatio-nen, im Sich-konfrontieren-lassen mit anderen Meinungen, im Überprüfen lassen und Überprüft werden von Positionen, findet gar kein Austausch mehr statt. Jeder bewegt sich nur noch in seiner Welt und will seinesgleichen beeindrucken. Auch in politischen Wahl- und Abstimmungskämpfen kommt es zu dieser Fokussierung auf die eigenen Anhänger, die mit möglichst schrillen Tönen mobilisiert werden sollen.

Aber es gibt auch Argumentationsmuster, mit deren Hilfe das Toleranzgebot gezielt als kulturrevolutionäre Waffe eingesetzt wird: So der Vorwurf, dass jede Kritik am Umdeuten von Nation, Religion, Familie, Gesellschaftsordnung, Lebensstil und Werten Ausdruck nicht nur von Zurückgebliebenheit sei, sondern auch rechtes Gedankengut propagiere, fördere oder hoffähig mache. Dies ist ein Totschlagargument, vor dem üblicherweise bürgerliche Parteien und Institutionen zurückschrecken. Der Vorwurf der Anbiederung, der geistigen Nähe zum „rechten Rand“, der politischen Inkorrektheit geht leicht über die Lippen. Er lässt die so Etikettierten hilf-, rat- und wortlos zurück und treibt Teile der bürgerlichen Wählerschichten in Isolation, Resignation und tatsächlich an den Rand.

Auch die Diskriminierungskeule ist eine solche Immunisierungsstrategie: Wer nicht das vorherrschende Verständnis teilt, dass im Zeichen der Toleranz eigene Positionen zum Schweigen zu bringen sind und Unterschiede in unserer Gesellschaft im Generalverdacht der Benachteiligung stehen, der diskriminiert angeblich andere. Er ist – je nach dem – rassistisch, ausländerfeindlich, sexistisch, homophob, islamophob, chauvinistisch, stigmatisierend oder ausgrenzend. Diese aggressive Sprache wirkt ihrerseits nicht gerade toleranzfördernd, sie will es gegenüber „rückschrittlichen“ Kräften auch gar nicht sein. Auseinandersetzungen werden immer auch um und mit Begriffen geführt: Der „Herdprämie“, dem „Heimchen am Herd“, dem „Ewiggestrigen“, der Sprachreinigung von angeblich diskriminierenden Wörtern. Der jakobinisch anmutende Purismus ereifert sich – im Zeichen der Toleranz“! – zudem in völlig humorloser Weise, wie z.B. kürzlich Günther Oettinger erfahren musste. Zur Toleranz würde eigentlich auch Gelassenheit gehören, aber die Sensoren der „political correctness“ sind viel zu scharf und einseitig gestellt, um wirklich tolerant zu sein.

Wer die Deutungshoheit über das, was Toleranz gebiete, für sich erst einmal erobert hat, der verweigert sich der Kommunikation, dem Konflikt, der Meinungsvielfalt, dem „Normalbürger“. Er zieht sich arrogant in eine alles überragende Wagenburg zurück, die er zwar mit „bunt, vielfältig und weltoffen“ beflaggt, aber mit Zitierkartellen, Aufbau von Strukturen (z.B. an Lehrstühlen) oder staatlichen Vorgaben (z.B. Lehrplänen) tabuisiert und praktisch uneinnehmbar macht.

Die gravierendste und intoleranteste Methode im Zeichen sogenannter Toleranz ist die Grundhaltung, dass es keine Neutralität gibt, sondern dass Bekenntnisse und Entrüstung erzwungen werden. Etwas zu ertragen, zu tolerieren, reicht nicht. Verlangt wird, die herkömmliche eigene Meinung zu verleugnen. Mehr noch: Akzeptanz, also das Annehmen einer anderen Meinung, wird verlangt, anerzogen und indoktriniert. Das konnte man exemplarisch an der „Erziehung zu Toleranz und Akzeptanz sexueller Vielfalt“ 2014 bis 2016 in Baden-Württemberg ebenso sehen, wie an den unsäglichen Unterrichtsmateria-lien anderer Bundesländer zu diesem Thema. Menschen sollen dem, was politisch nicht korrekt ist, abschwören, sie sollen die Gesslerhüte grüßen, eine bestimmte Sprache spre-chen, von abweichenden Positionen ferngehalten werden und ihre Kinder von den Aufgeklärten erziehen lassen – Repression im Zeichen der Toleranz.

Was ist zu tun? Von zentraler Bedeutung ist der öffentliche Diskurs darüber, was Toleranz heißt und vor allem, was nicht. Dass Toleranz keine Waffe ist, sondern ein Heilmittel. Dass der Zweck die Mittel nicht heiligt – weder für die „Fortschrittlichen“, noch für die „Rückschrittlichen“. Dass natürlich Hass-Mails verboten gehören, wie überhaupt das Internet kein rechtsfreier Raum ist und die politische Auseinandersetzung moderater und rationaler werden sollte. Wir brauchen eine selbstkritische Debatte in unserem Land, in den Medien, den Kirchen, den Stiftungen, der Rechtsprechung, der Erwachsenenbildung, bei den Kulturschaffenden und der Politik, um eine Antwort auf die Vertrauensverluste und die verbreitete Ablehnung zu finden, der sich die bevormundenden „Eliten“ ausgesetzt sehen. Diese Eliten wollen ja eigentlich – bürgerlich formuliert – „bürgernah“, – links formuliert – „basisdemokratisch“ sein, sie erreichen aber viele Menschen nicht mehr.

Wer für den öffentlichen Diskurs verantwortlich ist – in Parteien, Medien, Verbänden, Kirchen und der Wissenschaft – der sollte selbstkritisch in sich gehen, bevor er sich selbst z.B. als „liberal“ und andere z.B. als „Populisten“ bezeichnet. Populismus ist eine zweifellos primitive und potenziell gefährliche Antwort auf die kulturelle Hegemonie der linksliberalen Tugendwächter und auf die Repression im Zeichen der Toleranz. Populismus (ebenso wie fake-news und postfaktisches Argumentieren) ist inhaltlich neutral und gab es schon immer. Zurzeit ist er ein Ventil gegen die moderne Bevormundung. Zu dieser selbstkritischen Analyse kann ein aktuelles Buch von David Goodhart beitragen: „The road to somewhere. The populist revolt and the future of politics“ im C. Horst & Co. Ver-lag. Der Verfasser ist Leiter der Abteilung Demographie, Immigration und Integration des britischen Think-Tanks „Policy Exchange“. Goodhart warnt davor, dass die (Ein-) Gebildeten und (relativ) Wohlhabenden die Mehrheit der Bevölkerung mit ihrer militanten Liberalität deren kultureller Identität berauben und in den dumpfen Protest drängen. Oder wie es der französische Geograph und Publizist Christophe Guilly beschrieb: „Im Gegensatz zu den einfachen Klassen haben die höheren Klassen die Möglichkeit, unsichtbare Grenzen zu errichten (sie können ihren Wohnort wählen oder die Schule, zu der sie ihre Kinder schicken.) Sie können sich somit für eine offene Gesellschaft aussprechen, indem sie sich vor ihr schützen“.

Toleranz muss im Übrigen zu einem zentralen Bildungsziel in den Schulen werden. Zu vermitteln sind Selbstbewusstsein, informierte und begründete eigene Meinungsbildung, Mut, geistige Unabhängigkeit, Verträglichkeit, Rücksichtnahme und vor allem Bereitschaft und Fähigkeit zum Dialog. Eine Erziehung, die zum Ziel hat, für etwas eintreten zu können, zu wollen, zu sollen, ohne andere zu bekämpfen und zu verletzen. Eine Erziehung zu den Werten und Traditionen unserer Gesellschaft, um damit zu Vertrauen, Identifikation, Motivation für unsere Ordnung beizutragen. Wir brauchen eine Erziehung, die mit den Möglichkeiten, aber auch mit den Tücken des Internets umzugehen weiß und die Suche nur nach special interests oder nur nach bestätigenden Informationen kritisch kommentiert und stattdessen Bildung, Bindung und die Förderung von Tugenden und Charakter vermittelt.

Dazu gehört schließlich, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene ideell, kulturell und sozial nicht verunsichert werden, sich nicht als Globalisierungs- und Modernisierungsopfer empfinden und an nichts mehr orientieren können. Auch als Land gilt: Gerade in der Begegnung mit anderen Kulturen und weltweiten Problemen müssen wir stark sein, um unserer Verantwortung erfolgreich, partnerschaftlich und tolerant gerecht zu werden. Das eigene Land darf uns nicht fremd werden, wie Wolfgang Thierse sagt. Unser Identitätsverlust würde nicht nur uns schaden.

 

 

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Posted by Ulrich Müller

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