Dieser Beitrag ist Teil unserer Literaturecke: Dort veröffentlichen wir Kurzrezensionen und Literaturtipps unserer Mitarbeiter_innen und Verbundenen.

Oliver Bülchmann rezensiert die Monographie von Beate Rössler.


Über: Autonomie.

Ein Versuch über das gelungene Leben.

Rössler, Beate (2018). Autonomie. Ein Versuch über das gelungene Leben. (3. Aufl.). Berlin: Suhrkamp.

Kann ein Leben ohne Autonomie ein gelungenes Leben sein?
Eine Reise auf dem Weg zu uns selbst – Beate Rössler geht dieser spannenden Frage in einem Netz von Ansichten und Perspektiven nach

„Man schaut nicht einfach hin und wählt etwas, man steckt immer schon bis zum Hals in seinem Leben.“ Dieser Satz von Iris Murdoch stellt ein zentrales Grundmotiv im Buch „Autonomie – Ein Versuch über das gelungene Leben“ von Beate Rössler (3. Auflage 2018, Suhrkamp Verlag Berlin) dar.  Auf der Grundlage philosophischer Theorien zur Frage der Gestaltung eines autonomen Lebens als auch mit Hilfe der Betrachtung und Interpretation literarischer Texte in Form von Tagebuchaufzeichnungen und Romanen fragt  die Philosophin, wie ein autonomes Leben gelingen kann. Das Buch ist keine Gebrauchsware als Lebenshilfe für ein glückliches Lebens. Die Autorin macht deutlich, dass man auf eine Reise gehen muss, um dem Streben nach persönlicher Autonomie näher zu kommen. Auf dieser Reise müssen Etappen der Selbstreflexion, der Reflexion der sozialen und politischen Verhältnisse durchlaufen werden, um sich im Meer von Ansprüchen, Optionen und Wünschen persönlich als  der, der man selbst ist und sein will, zu finden. Für diese spannende Reise greift die Autorin in ihrem Koffer auf wissenschaftlich-philosophisches Handwerk zurück. Der Ausgangspunkt ist die Begriffsklärung und die Einordung in eine geschichtliche Perspektive des Begriffs Autonomie. Das Buch hat eine klare Struktur. Der Leser kann den Gedankengängen der Autorin folgen, ohne sich im Labyrinth der Theorieansätze und Anschauungen zu verlieren.  Diese wohltuende Art und Weise, ohne eine zu direkte Deutung, lässt den Leser seine eigenen Gedanken entwickeln. Die Geschichte des eigenen Lebens kann aus der Distanz befragt werden. Die Vieldeutigkeit und Undurchsichtigkeit unserer modernen Welt wird mit Abstand und ohne besserwissenden Ton hinterfragt. In einer Welt der Überinflation von Deutungen und Meinungen ist dieses Vorgehen wohltuend und hilft, die eigene Urteilsfähigkeit zu entwickeln bzw. zu stärken.

Den Begriff der Autonomie stellt die Autorin in die Linie der ideengeschichtlichen Entwicklung seit der Aufklärung. Der Wert der Autonomie erfasst danach das Individuum in seiner Fähigkeit, für sein eigenes Leben Entscheidungen zu fällen. Die Idee der Autonomie wird folgerichtig als konstitutiv für unsere liberalen, demokratischen Gesellschaften betrachtet. Es ist dankenswerter Weise nicht das Ansinnen der Autorin, sich ausschließlich in philosophischen Kategorien und damit quasi in einem abstrakten Gedankenraum zu bewegen. Die Erzählung der strukturierten begrifflichen Voraussetzungen und Zusammenhänge sind für den Erklärungsversuch jedoch sehr hilfreich.

Welche grundlegenden Zusammenhänge stellt die Autorin her, welche Begriffe werden hinterfragt? Die Frage, des Strebens und der Sehnsucht nach Autonomie wird mit der Frage nach dem Sinn des Lebens verknüpft. Die These der Autorin lautet: „ Man kann ein sinnvolles Leben leben, ohne glücklich zu sein; aber nicht, ohne selbstbestimmt zu sein.“.  Die Lektüre des Buches macht Defizite an Sinn und tragfähigen Visionen für eine humane Gesellschaft schmerzlich deutlich. Mit der Betrachtung und Interpretation  von Tagebuchaufzeichnungen berühmter Literaten ergänzt die Autorin ihre Argumente und erweitert mit sensiblen Zitaten. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie es um das Selbstverhältnis und die Zwiesprache dieser Tagebuchschreiber bestellt ist. Unter anderem wird ein Blick auf Musil, Woolf, Kafka, Herrndorf, und Frisch geworfen. In den Tagebüchern begibt sich die Autorin auf Spurensuche. In der Suche steckt die Frage: Gibt es einen Prozess, ein Vorgehen, einen Ablauf, wie die Suche nach Autonomie gelingen kann? Welche inneren und äußeren Spannungen muss und kann eine Person aushalten, um diesen Weg erfolgreich zu gehen? Die Autorin setzt auch Kontrapunkte, indem idealisierte Theorien und Gedankengebäude nicht als zielführend für eine umfassende und sinnerfüllende Lebensweise kritisch analysiert werden. Besondere Beachtung finden die diskursiven neueren Theorien der Moralpsychologie und der Handlungstheorie, die sich mit den Autonomiebedingungen beschäftigen. Hier ist besonders Harry Frankfurt zu nennen. Die Reflexion jüngerer Theorien zur Autonomie macht das Buch für den interessierten Leser, der über neuere Philosophen und Autoren kurze prägnante Aussagen und Zusammenfassungen sucht, ergiebig. Die Perspektiv- und Positionswechsel tragen zu einer spannenden Lektüre bei. Der Leser ist stets aufgefordert, sich auf die „Gedankenspiele“ einzulassen. Perspektiven werden gewechselt, Erkenntnisse aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Fächern und rein lebenspraktische Fragestellen gegeneinander abgewogen. Die Betrachtungen haben keinen Selbstzweck. Ziel ist es, eine Position einzunehmen und zu beantworten, was sinnvoll und wertvoll ist.

Der Bezug zu Joel Anderson und Axel Honneth bietet besonders Erhellendes zu brennenden Fragen unserer Zeit. Die Autoren sehen das Verständnis von Autonomie in Relation zu diversen Formen von Anerkennung. In diesem Zusammenhang wird deutlich, welche gravierenden Auswirkungen der Anspruch und die Möglichkeit zur Realisierung von Autonomie für den Einzelnen im sozialen Kontext haben. Das Versprechen der individuellen Freiheit kann in unseren liberal-demokratischen Gesellschaften nur bedingt eingelöst werden, da Anerkennung gegenüber den einzelnen Schicksalen und Lebensläufen nicht politisch und sozial erfahrbar ist. In unserer spannungsgeladenen Gegenwart haben die Menschen ein Gespür dafür entwickelt, welche Lippenbekenntnisse und Worthülsen nicht dem Gemeinwesen dienlich sind. Zu oft werden wirkliche Anerkennung und Respekt vorenthalten. In diesem Zusammenhang liegen tieferliegende Ursachen für die gegenwärtigen, sogenannten populistischen und nationalstaatlichen Tendenzen begründet. Das Buch zeigt Erkenntniswege auf, wie mit analytischem Vorgehen gegenwärtige soziale Spannungen erfasst und gelöst werden können.  Das gleiche Recht auf Formen von Autonomie sollte in diesem Zusammenhang auf die Agenda der gegenwärtigen politischen Diskussionen gesetzt werden. Ziel sollte es sein, Menschen aus Abhängigkeiten zu lösen, die nicht unseren allgemein verbindlichen Wertvorstellungen entsprechen. Formen der Anerkennung stellen eine wesentliche Grundlage für den gesellschaftlichen Zusammenhalt dar.

Ein weiterer wesentlicher Spannungspunkt für die Ausgestaltung der Autonomie wird in der Wechselbeziehung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten gesehen. Im Verlust der Privatperson, dem Verschwinden von Verschwiegenheit und Geheimnis insgesamt, wird der Verlust des klassischen humanistischen Begriffs des Individuums und der Individualität thematisiert. Der Gedanke, dass es ohne einen privaten Raum keine Autonomie geben kann, ist von großer Bedeutung für einen kritischen Blick auf unsere Zeit. Deutlich sieht die Autorin die Gefahr, dass der Spielraum für ein privates Aushandeln des Wunsches nach Autonomie und die Umsetzung im realen Leben besonders durch neue Technologien weiter eingegrenzt wird. In diesem Kontext betrachtet die Autorin mit den rechtlichen Rahmenbedingungen (Recht auf informationelle Selbstbestimmung) eine weitere Dimension, die den Schutz von Autonomie und die Realisierung erst möglich macht. Jeder kann nur so autonom sein, wie die Gesellschaft ihn sein lässt. Die Beantwortung der sozialen Fragen nach dem materiellen und ideellen Ausgleich der Interessen sind keine bloßen Reflexionen eines abstrakten Ideologiebergriffs. Welche Ansätze die Politik für die praktische Ausgestaltung von legitimen Interessen sozialer Akteure im Rahmen von Autonomiebestrebungen stärken sollte, zu diesem Nachdenken fordert das Buch auf. Legitime Ansprüche müssen formuliert und in die demokratisch-diskursive Entscheidungsfindung eingebracht werden.

Für Beate Rössler ist evident,  dass wenn man rein formal alles wählen kann, aber keinerlei Möglichkeiten hat, diese Chancen auch zu ergreifen, die Freiheit bedeutungslos ist. Die Subjekte sind letztlich unfrei. Wie viel eines äußeren Rahmens für eine gelingende Autonomie wird benötigt, damit ein Mensch seine eigenen Prinzipien und Werte auch umsetzen kann? Die Beantwortung der Frage kann nicht ohne einen Blick auf die ökonomischen Verhältnisse gelingen. Die Arbeitsgesellschaft ist Dreh- und Angelpunkt für die Verwirklichung von Autonomie. Der Großteil der Menschen ist auf Erwerbsarbeit angewiesen und verfügt nicht über Ressourcen, auf deren Basis ambitionierte Lebensentwürfe gelingen können. Diese Tatsache stellt nach wie vor eine permanente Abhängigkeit dar und macht für nicht wenige Menschen Autonomie im öffentlichen als auch im privaten Leben weitestgehend unmöglich. Von dem einst utopischen sozialistischen Gedanken: „Jeder nach seinen Möglichkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen!“, scheinen wir uns mit Blick auf die Heerscharen von Dauerpendlern, Prekärbeschäftigten, durch die Arbeitswelt Unzufriedenen und Unterforderten immer weiter zu entfernen. Demgegenüber sehen wir in den digitalen und analogen Medien Menschen mit scheinbar automatisiertem Lächeln, die das Arbeiten als Dauer-Event postulieren. Wo ist er also, dieser Ort nirgends, um ein Wort von Christa Wolf zu gebrauchen, wo wahrhaftige Autonomie mit Lust gelebt werden kann? In der Gegenwart ist dieser fiktive Ort auf jeden Fall nur für Wenige erreich- und gestaltbar, wenn es ihn denn überhaupt geben sollte.

Ebenso ist richtig, dass Autonomie überhaupt nur möglich ist, wenn man das Leben nicht damit verbringen muss, sich um die eigene Ernährung und die Existenz der Familie zu kümmern. Elementare Bedürfnisse müssen vor dem Nachdenken und Streben nach Autonomie befriedigt sein. Die Autorin knüpft den Sinn des Lebens an die Autonomie. Folglich kommt sie zu dem Schluss, dass unter gesellschaftlichen Bedingungen in denen sich die Menschen um nichts anderes kümmern müssen, als um die Befriedigung ihrer fundamentalen Bedürfnisse, ein sinnvolles Leben nicht möglich ist. Die Konsequenz ist überzeugend. Auf Basis dieser Erkenntnis ist die Schlussfolgerung, dass nur gesellschaftliche Theorien von erhellender Kraft und Deutungsmacht sein können,„… die von faktischen, nichtidealen, sozialen, kulturellen und politischen Strukturen einer Gesellschaft ausgehen,… an konkreten Erscheinungsformen gesellschaftlicher Unfreiheit interessiert, an realen Strukturen von Macht und Ausbeutung….“, sind, einleuchtend. Aus Sicht der Autorin gilt dieser Anspruch etwa für die Theorien von Theodor W. Adorno und Michel Foucault. Der beschriebene Gedanke wird im Buch nicht weiter vertieft. Der Weg,  wie eine weitere kritische Gesellschaftsanalyse aussehen kann, die Wege aus der Unfreiheit des Einzelnen in einem Netz von gesellschaftlichen Abhängigkeiten aufzeigt, wird jedoch mit den Autorenhinweisen skizziert. Über das Buch hinausgehend steht jedoch die Frage im Raum, ob diese links-liberalen und sozialkritischen Gesellschafttheorien nicht auch eine Legitimationskrise angesichts des Zustandes unserer globalen gesellschaftlich-politischen Systeme durchlaufen?

Ein lesenswertes Buch. Ein Buch welches man in seinem Leben immer wieder einmal in die Hand nehmen sollte. Auf diese Art kann man sich bewusst werden, wie weit man sich von der eigenen Autonomie entfernt hat oder wie nah man ihr gekommen ist. Die Verantwortung für das eigene Leben ist nicht übertragbar. Für das eigene Leben „Sinn“ zu produzieren, ist ein großes Ziel. Der Satz von Brecht: „Aber wie leben?“ steht wie ein kolossaler Anspruch in Raum und Zeit. Eigene Entscheidungen in gegebenen Kontexten zu hinterfragen, reflexiv und nicht affektgetrieben, mit Vorurteilen durch das Leben zu rasen, dazu fordert dieses Buch auf. Mit diesen subtilen Aufforderungen zu beständigen Verhaltensänderungen durch „Hinterfragen“ hat die Autorin viel erreicht. Gleichzeitig hat sie in Form des Buches einen wohltuenden Ruhepunkt mit entsprechendem Tiefgang geschaffen. Bei der Beantwortung wie man dazu in die Lage versetzt wird, autonom zu leben, bleibt natürlich Einiges im Dunkeln. Neben allem materiell, sozial Erklärbaren ist es auch ein Geheimnis, warum manche Menschen innerlich freier sind als andere. Dazu meint Beate Rössler„… Autonom – frei – sein heißt, selbständig Gründe – und zwar die eigenen Gründe – gegenseitig abwägen und für das Resultat dieser Abwägung selbst einstehen zu können….“. Sieht man es so, dann ist es gleich in welchen Umständen oder in welchem sozialen System man lebt. Es gibt also eine Chance auf Autonomie, überall.


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Posted by Oliver Bülchmann

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