Dieser Beitrag ist Teil unserer Literaturecke: Dort veröffentlichen wir Kurzrezensionen und Literaturtipps unserer Mitarbeiter_innen und Verbundenen.

Julian Wilden rezensiert die Monographie von Paul Verhaeghe.


Über: Autorität und Verantwortung

Verhaeghe, Paul (2016): Autorität und Verantwortung. Unter Mitarbeit von Claudia van den Block. München: Verlag Antje Kunstmann.

In „Autorität und Verantwortung“ des gebürtigen belgischen Psychologen, Psychoanalytikers und Universitätsprofessors in Gent werden spannende Informationen und Argumentationslinien aus Politikwissenschaft, Soziologie, Anthropologie, Gender Studies und natürlich Psychologie zusammengetragen und auf interessante Weise  verknüpft. Der Autor schafft es, sowohl Akademiker (der jeweiligen Disziplin) als auch Nicht-Akademiker durch Aufmachung und Argumentationsweise anzusprechen. Für Akademiker erfreulich gibt es Literaturverweise und wissenschaftliche Begriffe und Erklärungen, welche aber auch dem fachfremden Publikum durch kurze, aber präzise und oftmals gut illustrierende Erklärungen dargestellt werden.

Das Kernthema für Verhaege ist das Schwinden traditioneller Autorität. Autorität, die für ihre Funktionalität laut Hannah Arendts Konzeption immer eine externe Legitimationsquelle benötigt, an die sowohl die autoritätsausübende als auch die empfangende Person glauben müssen, ist laut Verhaege im Falle der traditionellen, patriarchisch-hierarchischen Quelle aufgrund gesellschaftlicher Transformationen in einem Endstadium des Verfalls. Die hieraus abgeleitete Autorität wird zur Farce, und die ursprünglich autoritären Beziehungen werden mehr und mehr zu reinen Machtgefügen „degradiert“. Diese Entwicklung stellt er in den Kontext der verschiedenen konkreten Ursachen, damit auftretenden gesellschaftlichen und individuellen Probleme und der verschiedenen Lösungsansätze – auf die noch zu kommen sind. Das Interessante hierbei ist vor allem die dargestellte Breite, mit der die Auflösung der tradierten Autorität verbunden ist. So geht Verhaege nicht nur auf die auftauchenden Probleme von sogenannter Politikverdrossenheit und Skepsis gegenüber dem politischen Establishment ein, sondern auch auf andere Felder, in denen Autorität eine wichtige Rolle spielt und die immer wieder in den Fokus unserer Aufmerksamkeit gezogen werden: Erziehung und Familie (Vaterschaft und Mutterschaft), Sexualität, Schule, Wirtschaft usw. Vor allem aber ist sein eigener Lösungsansatz nicht (wie hin und wieder medial gefordert) die „einfache“ Rückkehr zur alten „guten“ Ordnung, sondern einer an moderne Zeiten (wie zum Beispiel die Informationsgesellschaft) angepasster Lösungsansatz: der Umformung der Gesellschaft in eine horizontal organisierte sowie die einhergehende Übertragung von der Autorität einzelner auf das Kollektiv.

Diese Umformung daher soll auf drei Ebenen anwendbar sein: Erziehung, Wirtschaft (Unternehmen) sowie Gesellschaft (Politik).

Als illustrierendes Beispiel für die Erziehung dient ein Vorschlag Verhaeges zum Umgang mit problematischen Schülern. Statt dass die Lehrer, Eltern, Schulpsychologen etc. einzeln mittels verbliebener Autorität versuchen, die Schüler wieder auf den „rechten“ Weg zu bringen (und daran oftmals scheitern) und damit auch zum Teil in miteinander konkurrierende Positionen gelangen, schlägt Verhaege eine Transformation in eine kollektive Autorität vor. Die Autorität soll von Mehreren gleichzeitig ausgeübt werden. Im Kontext der Schule heißt dies, dass sich etwa nicht der einzelne Lehrer mit dem Problem auseinandersetzen muss, sondern sich ihm Gleichrangige zur Ausübung der Autorität anschließen. Eine Weitergabe der Problematik an eine (einzelne) höhere Instanz wird vermieden. Das Stichwort hierbei ist soziale Kontrolle oder wie es Verhaege in Anlehnung an ein bekanntes Fernsehformat nennt: „Big Brother“

Auch für Unternehmen empfiehlt sich laut Verhaeghe eine horizontale Organisation. Statt „Statuskämpfe[n], Betrug, Verrat, Überregulierung, Demotivation, Magengeschwüre[n]“ sollen durch die direkte Einbindung der in Einheiten organisierten Mitarbeiter in Planung und Durchführung Effizienz und Betriebsklima verbessert sowie Attribute wie „Vertrauen, Transparenz, Selbstorganisation, Produktionszellen, Diskurs sowie Teilen und Wachsen“ einen festen Platz im Unternehmen erhalten. Abweichungen vom gewünschten Verhalten ließen sich auch hier durch ein funktionales Kollektivbewusstsein korrigieren bzw. sogar vermeiden. Während in normal organisierten Unternehmen vor allem die Autorität der übergeordneten Stellen bzw. eine extra eingerichtete Kontrollinstanz das Verhalten überwacht, fällt vor allem letztere in einem horizontalen gemeinschaftlich organisierten Unternehmen weg: Die Mitarbeiter übernehmen diese Rolle. Überregulierungen können somit abgebaut werden.

Die Zukunft der Politik sieht Verhaege in deliberativen Verfahren im Sinne von Fishkins Überlegungen sowie praktischen Durchführungen. In einer Situation eines allgemeinen Misstrauens gegenüber dem „politischen Establishment“, Einflussnahme durch finanzkräftige Lobbygruppen bzw. einer generellen Unterordnung der Politik unter das Primat der Wirtschaft(-lichkeit) und einer attestierten Dysfunktionalität der Parteienpolitik etwa aufgrund des Fraktionszwanges, freien Mandats und einem Unterangebot von Entscheidungsmöglichkeiten der Wähler sieht Verhaege hier drin eine Möglichkeit sowohl die Rationalität als auch die Partizipation zu erhöhen.

Die Fokussierung auf den Verfall der herkömmlichen Autorität und die daraus abgeleiteten Konsequenzen sind argumentativ gut nachvollziehbar, und auch die Lösungsansätze ergeben im Kontext der beschriebenen Probleme Sinn. Trotz dessen dürfen nicht die Schwächen bei Verhaeeges Ausführungen vernachlässigt werden. Neben kleinen Fehlern [1] , die allerdings keine tatsächlichen inhaltlichen Auswirkungen haben, sind es vor allem zwei Bereiche, die hierbei beleuchtet werden müssen.

Zum einen ist die implizit bereits erwähnte Vereinfachung natürlich nicht unproblematisch. Während ebendies Fachfremden nicht auffällt und hilft einen Überblick zu bewahren, sorgt diese bei Fachkundigen sicherlich eher für Skepsis. So werden Begriffe wie „Populismus“, „Demokratie“ und „Repräsentation“ in ihrer begrifflichen Reichweite stark verengt. „Demokratie“ etwa ist in der Politikwissenschaft nicht ohne Grund als „contested term“ [2]  bekannt, wird von Verhaege aber dahingehend benutzt, um derzeitige repräsentative Systeme beziehungsweise auch Wählen für Parlamente als undemokratisch zu betiteln – so einem nicht weiter ausgeführten ideellen Demokratiebegriffs Verhaeges folgend. Dass er sich allerdings auch aus diesem Problem wieder davon „befreien“ kann, spricht wiederum für Verhaege. Denn anstatt einfach nach einer Erneuerung der Demokratie zu rufen und unausgegorene Korrektive darzulegen, verweist er als Lösungsansatz auf den erwähnten, durchaus renommierten deliberativen Ansatz von Fishkin.

Zum anderen ist ein gewisser unkritischer Optimismus gegenüber zentralen Elementen seiner Überlegungen sowie gegenüber den von ihm vertretenen Lösungen erkennbar. Durch die klare Argumentationslinie fällt dies weniger stark ins Gewicht, aber zumindest eine Nennung von konträren Argumenten oder Autoren hätte die Seriosität weiter unterstützt, eine konstruktive Negierung derselben durch Argumente seine argumentative Position noch weiter gestärkt. [3] Auch die Eindimensionalität der Erklärung muss hierbei erwähnt werden. Auf alternative Erklärungen für die Phänomene wird nicht eingegangen. [4]

Schlussendlich ist „Autorität und Verantwortung“ eine gute Einführung, um sich der Probleme, die mit einem Autoritätsverlust einhergehen klar zu machen und sich die Relevanz von Autorität für das Funktionieren einer Gesellschaft – ob national oder global – vor Augen zu führen. Die Beleuchtung und Lösung mit Mitteln und Theorien der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen erscheint bis auf die wenigen fragwürdigeren Aspekte nachvollziehbar und positiv.

[1] So wird etwa die Intervallskalierung mit der Ordinalskalierung verwechselt.

[2] „Contested terms“ sind Begriffe zu deren Intension (und folglich Extension) es starke konkurrierende Ansätze gibt. Bei einem derart „wertaufgeladenen“ Begriff wie „Demokratie“ ist dies auch kein Wunder.

[3] So wäre ein Hinweis auf die ebenfalls existierende Literatur, die auf relevante Probleme des deliberativen Ansatzes, wie der Repräsentation und Legitimation, hinweist, wichtig gewesen.

[4] So findet sich bereits bei Platon eine Erwähnung einiger der von Verhaege beschrieben Phänomene, wobei Platon dies auf den dem demokratischen Menschen inhärenten Drang nach Freiheit zurückführt.


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Posted by Julian Wilden

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