Abstract [de]: Europa ist ein kleiner Kontinent. Durch die offene Landmasse nach Asien hin ist es aber nicht offensichtlich, wo Europa im Osten aufhört. Dazu kommt, dass Russland jenseits des Urals – also geographisch ganz eindeutig in Asien- eine ausgesprochen „europäisch-russische“ Kultur pflegt- im Grunde bis nach Wladiwostok an der chinesischen Grenze. Dabei mag es als Indiz der gegenwärtigen Entwicklung gelten, dass Russland als Land mit slawisch-indoeuropäischer Sprache und Jahrhunderte langer europäischer Kulturzugehörigkeit nicht in jedem Diskussionskontext heute noch als „eindeutig europäisch“ gilt!


April 2014

Die Ukraine und die Instrumentalisierung der globalen Zivilgesellschaft

Europa ist ein kleiner Kontinent. Durch die offene Landmasse nach Asien hin ist es aber nicht offensichtlich, wo Europa im Osten aufhört. Dazu kommt, dass Russland jenseits des Urals – also geographisch ganz eindeutig in Asien- eine ausgesprochen „europäisch-russische“ Kultur pflegt- im Grunde bis nach Wladiwostok an der chinesischen Grenze. Dabei mag es als Indiz der gegenwärtigen Entwicklung gelten, dass Russland als Land mit slawisch-indoeuropäischer Sprache und Jahrhunderte langer europäischer Kulturzugehörigkeit nicht in jedem Diskussionskontext heute noch als „eindeutig europäisch“ gilt!

Zur Zeit des eisernen Vorhangs begann „der Osten“ bereits an der innerdeutschen Grenze. Schon die Begriffe „Ostdeutschland“ und „Mitteldeutschland“ sind Indikatoren für Standpunkte, Lebensalter und Erfahrungen der letzten Generationen. Politisch reichlich unkorrekt ist es, die Stadt Königsberg- wo Kant lebte, lehrte und starb- als Teil des früheren Ostdeutschlands zu bezeichnen. Historisch ist dies freilich korrekt, auch wenn die Stadt heute Kaliningrad heißt und zu Russland gehört!

Die Ukraine hat das ewige Thema von Grenze und Identität schon in ihrem Namen: Es ist das „Gebiet am Rand“, und daher doppelt schwierig. Lemberg (heute Lviv) gehörte früher zu Österreich. Jalta auf der Halbinsel Krim war lange unter russischer Herrschaft- um nur zwei Städte und Regionen beim Namen zu nennen. Nicht zu vergessen sind die turksprachigen Krimtataren, die an das frühere osmanische Reich erinnern. Was nun also? Russland, Österreich oder die Türkei? – So könnte man fragen, und genau diese Fragen beschäftigen die Ukraine in vielen Facetten bis heute. 

Doch im Zeitalter sehr schnelllebiger sozialer Medien spielt die Geschichte zwar keine Rolle, wirkt aber dennoch nach. Wer aus Lviv kommt, fühlt sich selbstverständlich dem Westen zugehörig. Wer in Charkov lebt, wird die Bindungen an Russland, die russische Sprache und Kultur, betonen. 

Andererseits gibt es Länder wie die Schweiz, die in unterschiedliche Sprach- und Bevölkerungsgruppen zerfallen, als Land aber durch ihre spezifische politische Kultur geeint sind. Warum sollte ein spannungsreiches, aber auch lebendiges Miteinander nicht auch in der Ukraine gelingen?

Tatsächlich war die Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion eine Transformationsgesellschaft eigener Art. Während Polen und die baltischen Staaten rasch zur EU und zur NATO fanden, überließen die West- und Mitteleuropäer die Ukraine ihrem Schicksal. Und dieses führte nicht zur besten aller Welten: Denn Demokratie und Marktwirtschaft kamen in mancherlei Zerrformen an, die Oligarchen begünstigte und Politiker unter den gar nicht selten berechtigten Verdacht der Kleptokratie stellte. Wie aber soll das Leben lebenswert erscheinen, wenn auf der einen Seite eher die Zerrformen demokratischer Werte zum Ausdruck kommen, während auf der anderen die Sehnsucht nach autokratischer Sicherheit wächst?

Russlands Aktion auf Jalta wird dadurch nicht gerechtfertigt. Denn sie wirft-  einer Büchse der Pandora gleich- weite, problematische Folgefragen auf. Ab wann soll denn das Selbstbestimmungsrecht der Völker tatsächlich gelten? Gilt dieses auch für Ostfriesen, Dänen und Sorben, um nur drei ältere ethnische Minderheiten in Deutschland zu nennen? Gilt es vielleicht auch für die Kurden, um auf einen viel brennenderen Konflikt der Selbstbestimmung hinzuweisen- leben doch weit über 25 Millionen Kurden in den drei Staaten Türkei, Iran und Irak unter nicht ganz so deutlicher Selbstbestimmung wie sie jetzt den Russen aus Jalta zugebilligt werden soll.

Die globale Zivilgesellschaft mit ihren Medien und sozialen Netzwerken wird aber nach wie vor von je eigenen Nachrichtensystemen und kollektiven Albträumen instrumentalisiert. An die schwierigen Zustände in Syrien und anderswo hat sich jeder gewöhnt. Neue Tote produzieren keinen Nachrichtenwert mehr.  Und so wird nun Jalta zum Gegenstand eines medialen Hypes, der je nach Aktionsdichte aller Beteiligten vielleicht 2 Wochen, vielleicht auch 2 Monate anhält. Anschließend geht man zur Tagesordnung über.

Ja, Russland wird wirtschaftliche Sanktionen auszuhalten haben. Ja, nur 11 Länder haben sich bei der Verurteilung der Annexion vor den Vereinten Nationen im März 2014  auf die Seite Russlands geschlagen. Und dennoch hätte Putin ohne die Unterstützung der einheimischen Bevölkerung sowie des Großteils der Bevölkerung auf Jalta seinen Coup nicht so leicht durchziehen können. Ihm ist es- mit anderen Worten- gut gelungen, die eigene Zivilgesellschaft zu instrumentalisieren.

Was heißt das für Europa? 

Drei Einsichten stehen hier im Vordergrund. Erstens: Auch Russland ist Teil Europas, aber nicht Teil der EU. Es handelt sich also um einen innereuropäischen Konflikt, gespeist auch aus der fahrlässigen Illusion, Europa könne auf Westeuropa und Randgebiete beschränkt werden. Im Gegenteil: Europa reicht bis an den Ural, auch wenn wir es noch so oft vergessen wollen. Zweitens: Es kann der beste nicht in Frieden leben, wenn der Nachbar es nicht will. Ob der Nachbar „böse“ ist, kann getrost offen bleiben. Richtig ist aber, dass auch in der Welt des 21.Jahrhunderts die Frage nach dem Umgang mit Gewalt eine hoch virulente Frage der Politik ist und bleibt. Drittens: Zivilgesellschaften können noch so offen sein- sie sind in ihrer Meinungsbildung für Instrumentalisierungen offen. Die Beeinflussung der Zivilgesellschaft wird nicht nur durch Abhöraktionen wie im Fall der NSA, sondern auch durch moderne Formen der sozialen Propaganda auf der einen wie auf der anderen Seite gefördert. Ob das Netz folglich eine liberale oder eine eher repressive Öffentlichkeit bietet, bleibt dabei offen- und ist unter anderem eine Frage des Standpunkts.

Zu wünschen bleibt hier allen Europäern nur die Kraft der Aufklärung, das Wissen um die Geschichte und die Klarheit ihrer zivilisatorischen Ziele- ohne in die Abhängigkeit von fulminanten Medien-Hypes oder auch Oligarchen jedweder Couleur zu fallen.


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Posted by Ulrich Hemel

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