Abstract [en]On the Importance of Family in Civil Society All over the world, families continue to be driving forces for the development of each individual person. Families, however, cannot exist without a surrounding civil society which gains familiar influence by prohibiting familiar violence, by demanding school attendance and by offering nursing homes for elderly care. Such developments serve for the protection and emancipation of individual persons and specific groups such as e.g. in female education. On the other hand, a State also can misuse families for ideological interests as e.g. in the former Nazi State in Germany. For each person, the family is the most important space for the development of a personal life project formed by the interaction between our inner and outer self, as a balance between family and civil society. This is true also for migrants and their own idea of a family, including the task of finding a balance between family traditions and the protection of the individual freedom of each individual person. In global civil society, the family is the space for the interaction of diverging and specific familiar and cultural values. This means that the globalization of values and of norms will not be free of tensions and conflicts, all in an effort to find a new balance between family, individual person and civil society! 

Abstract [de]: Familie ist weltweit noch immer eine der stärksten und prägenden Kräfte für jede einzelne Person. In den Gestaltungsraum der Familie ragt aber auch die Zivilgesellschaft hinein, etwa durch die Umsetzung eines familiären Gewaltverbots, der Schulpflicht, aber auch durch das Angebot von stationärer Pflege für ältere Menschen. Solche Entwicklungen dienen einerseits dem Schutz des einzelnen und ermöglichen Emanzipation, etwa bei der Bildung von Mädchen und Frauen. Andererseits können sie auch der Durchsetzung ideologischer Interessen dienen, etwa im NS-Staat. Für jede einzelne Person ist Familie der Raum zur Bildung eines eigenen Lebensentwurfs, so dass wir unser inneres und äußeres Selbst in der Spannung zwischen Familie und Zivilgesellschaft formen. Dies gilt auch für die zugewanderten Flüchtlinge, mit deren Familienbild wir uns neu auseinanderzusetzen haben, ebenfalls in der Balance zwischen der Wahrung familiärer Traditionen und dem Schutz der persönlichen Freiheit einzelner! Denn in der globalen Zivilgesellschaft ist die Familie der Raum für das Aufeinandertreffen unterschiedlicher familiärer und kultureller Werte, so dass die Globalisierung von Werten und Normen auch notwendig spannungsreiche bis konfliktive Züge tragen wird.


November 2015

Die Bedeutung der Familie in der Zivilgesellschaft

Vortrag gehalten anlässlich des Christlich-Pädagogischen Symposiums 18. November 2015, Berlin

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

die Bedeutung der Familie wird nach wie vor unterschätzt, so als handle es sich bei jeder Familie nur um ein Faktum zum privaten Hintergrund. In seinem Essay „Minimum“ erzählt der früh verstorbene Publizist Frank Schirrmacher von einem Zug weißer Siedler 1846, vor fast 200 Jahren,  quer durch die Vereinigten Staaten. Es waren etwa 80 Menschen. In der Sierra Nevada bleiben sie in einem Schneesturm stecken. Unter extremen Bedingungen versuchen sie wochen- und monatelang zu überleben, aber viele starben. Erst im April 1847 wird das letzte Mitglied der Expedition gerettet. 

Der Anthropologe Donald Grayson hat über 100 Jahre später, 1993, die Frage untersucht, wer eigentlich am Ende überlebt hat. Waren es kräftige Männer, waren es Frauen? Und wie steht es um die Kinder und die Alten? 

Das Ergebnis war erstaunlich und klar: „Je größer die mitreisende Familie, desto größer die Überlebenswahrscheinlichkeit“. Auf der anderen Seite überlebten nur drei von 15 kräftigen, allein reisenden Männern im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Familie ist also eine Art von Lebensversicherung!

Wir können also schlussfolgern: Familie bildet ein sichtbares und ein unsichtbares Band um unser Leben. Viele unserer Handlungen verdanken sich solchen biographischen Linien mit ihren Verkettungen, aber auch Verstrickungen (vgl. S. Konrad 2013). Familie kann wunderbar, aber auch ganz schön kompliziert sein. Und sie ist bis heute trotz aller Verwandlungen eine der kräftigsten und stabilsten Institutionen der Sinnvermittlung, die es gibt.

Hier und heute geht es um das Verhältnis von Familie und Zivilgesellschaft, und gerne füge ich hinzu: von Familie und globaler Zivilgesellschaft. Denn wir leben in einer Welt, die zusammen wächst, aber zugleich vor enormen, auch in der Familie verhandelten Herausforderungen steckt. Den Begriff der Zivilgesellschaft grenze ich ab von allem, was Staat ist oder organisiertes Verbrechen. Diese, von meinem Institut für Sozialstrategie geprägte Definition umfasst also jedenfalls Familien in ihrer ganzen Vielfalt, manchmal auch mit Reisepässen unterschiedlicher Staaten in ein und derselben Familie.

Wenn man nun Familie und Zivilgesellschaft noch genauer in Beziehung setzt, wird deutlich, dass es zunächst einmal um ein Verhältnis von „innen“ und „außen“ geht: Die Familie ist Teil der Zivilgesellschaft, steht ihr aber auch mit eigenen Werten und Handlungen gegenüber. Gleiches gilt umgekehrt: Die Zivilgesellschaft ragt in das Handeln der Familie hinein, setzt ihr aber auch Grenzen und eröffnet Möglichkeiten. Es lohnt sich also sich ein genauerer Blick. 

1. Innen und Außen: Über die Dynamik der Machtverhältnisse zwischen Familie und Gesellschaft oder – Familie ist nicht alles, Zivilgesellschaft aber auch nicht

Dass eine Familie aus mehr als einer Person besteht, ist offensichtlich. Jeder von uns hat Eltern, viele haben Geschwister, nicht wenige haben eigene Kinder. Auf die Frage, wer nun zur eigenen Familie gehört, ist die Antwort aber nicht so einfach zu geben, weil die Grenzen fließend sind.

Bei der Kernfamilie geht es um Eltern, Kinder und zumindest den eigenen Ehepartner. Gehören aber auch die Schwägerinnen und Schwäger als Partner der eigenen Geschwister zur Familie? Und was ist mit den Ex-Ehepartnern, also beispielsweise dem Ex-Schwager? Und jenseits der Patchwork-Anteile in den Familien: Gehören die Unsichtbaren, die schon Verstorbenen, die Abwesenden, die Totgeschwiegenen auch zur Familie? Wenn man von den Totgeschwiegenen überhaupt schmerz- und sanktionsfrei sprechen darf!

Familie ist ja kein Idyll, sondern eine Schicksalsgemeinschaft. Zur Familie gehören viele Geschichten: höchst individuelle, aber eben auch zeittypische, die eine Kohortenerfahrung auf den Punkt bringen. „Ach, noch einer mehr, der etwas essen möchte“, das war der Empfang, von dem mein 1927 geborener Vater bei seiner Kriegsheimkehr als 18-jähriger im Jahr 1945 berichtete. Das war nicht einfach emotionale Kälte, es war elementare Not in einer Familie mit sechs Kindern und einquartierten Flüchtlingen. Trotzdem oder auch gerade deshalb hat sich ein intensiver Familienzusammenhalt in den Jahrzehnten danach ausgebildet.

Dass jeder von uns mit Vor- und Familiennamen identifiziert wird, ist kein Zufall. Wir signalisieren damit Individualität und Zugehörigkeit. Der Name verweist auf uns als Person, aber eben auch als Mitglied dieser und nicht jener Familie. Im Fluss des Lebens bedeutet dies auch, dass wir uns verhalten können, verhalten müssen und auch tatsächlich verhalten gegenüber dem, was das eigene Familiensystem ausmacht: Eine besondere Musikalität, ein besonderer Zusammenhalt, aber auch ständiger Konflikt, die Macht von Erwartungen oder Enttäuschungen und die Angst vor Zurückweisung- also das, was wir die transgenerationale „emotionale Last“ oder – im positiven Sinne- das „emotionale Vermögen“ einer Familie nennen können.

Familie ist anthropologisch nicht beliebig gestaltbar. Sie ist der erste Ort unserer Welterkundung, unser erstes Fenster zur Welt. Familie ist daher der erste Referenz- und Bezugspunkt, auf den wir uns beziehen, und zwar ob wir wollen oder eben nicht. Weil jeder Mensch Beziehungsfähigkeit und Zugehörigkeit braucht, ist für den Menschen in seiner Gesellschaft das Familiensystem zunächst einmal Garant von Identität.

Anthropologisch gehört es zum Menschen, dass er beides will: Er will dazu gehörenund er will sich unterscheiden (vgl. U.Hemel 2015, 9-25). Geschwister rivalisieren miteinander, sie können aber auch unzertrennlich sein. 

„Sich unterscheiden“ wollen und können, das führt zum sozialen Motiv des Wettbewerbs, einem Pfeiler der Gesellschaft in Sport, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Das ist die eine Seite. Doch ohne jede Vorleistung dazu zu gehören, das ist die andere, und sie gehört zum sozialen Motiv der Kooperation, aber auch zum sozialen Kapital oder zum „symbolischen Vermögen“, welches eine Familie geben kann. Zugehörigkeit, Wärme, Identität, Geborgenheit und Heimat: Das sind identitätsstiftende, emotional hoch wirksame Markierungen, zu denen Familie einen ganz wesentlichen Beitrag leistet- oder eben nicht. Fehlt das Kooperationskapital oder das „symbolische Vermögen“  in der Familie, entstehen emotionale Bedürfnislagen, welche die betroffenen Menschen lebenslang begleiten und belasten.  

Kooperation und Wettbewerb sind schon in den Familien angelegt, befähigen zu Höchstleistungen oder führen zur Zerstörung. Menschen sind enorm verletzlich, aber auch schöpferisch. Sie müssen und können lernen, aber sie brauchen auch Rückzugsräume und Inseln des Aufatmens. Und wenn jemand als Säugling am Anfang und als Hochbetagter am Ende seines Lebens steht, dann braucht er Fürsorge. Denn die eigenen Kräfte reichen nicht aus. 

Über Jahrtausende hinweg haben Familie diese beiden anthropologischen Konstanten, Verletzlichkeit und Schöpferkraft, ausbalanciert. Heute sind frühere Familienleistungen teilweise Gegenstand staatlichen und gesellschaftlichen Handelns, so dass familiäre Gestaltungsspielräume sich verändern. Das greift unmittelbar in die Macht der Familie ein.

Innen und außen“ ist daher nicht nur eine Frage der individuellen Betrachtung, des persönlichen Blickwinkels einzelner. Vielmehr ändern sich im Lauf der Zeit Kernaufgaben, die von der Leistungsfähigkeit von Familien abhängen, diese aber auch fördern. Vor 500 Jahren, zur Zeit Luthers, waren 90% der Menschen in Deutschland des Lesens und Schreibens unkundig. Die öffentliche Pflichtschule lag beispielsweise noch in weiter Ferne. 

Aufgaben für die Familien waren umfassender, aber in gesellschaftlicher Hinsicht weniger spezialisiert, von der Nahrungszubereitung bis zur Krankenpflege, von der praktischen Alltagsbildung bis zur ganzheitlichen Wertschöpfungskette, etwa in der Landwirtschaft mit ihrem jahreszeitlichen Rhythmus. Denn „ganzheitliche Wertschöpfung“ heißt eben auch Produktion für den Eigenbedarf, so dass nur die Überschussproduktion auf lokale Märkte oder gar in den Fernhandel gehen konnte (vgl. H. Pirenne 1976).

Wenn Wirtschaftshistoriker von der „Ökonomie des ganzen Hauses“ sprechen, so hat die umfassende Versorgungsleistung der Familie eben auch ihre Schattenseiten: Der Speisezettel war eintöniger, Elementargefahren aus der Natur wirkten unmittelbarer, das allgemeine Bildungsniveau war äußerst eingeschränkt, die Abhängigkeit der Familien von religiösen und weltlichen Autoritäten aus heutiger Sicht nicht nachahmens- oder erstrebenswert.

„Innen“ ist also nicht alles Gold, was glänzt. Und wir können die Geschichte der Neuzeit durchaus als zunehmende Differenzierung und Spezialisierung, aber auch als Geschichte der Durchsetzung staatlicher Gewalt in den Wirkraum der Familie hinein begreifen. 

Durch diese Entwicklungen wurden Grenzen gesetzt (z.B. bei der häuslichen Gewalt), aber auch Aufgaben aus der Familie herausgelöst und professionalisiert. Natürlich können wir bedauern, dass  die Leistungsfähigkeit von Familien auf Grenzen stößt und dass oft genug professionelle Hilfe gegen Bezahlung nötig ist. Schon beim Zahnweh bin ich allerdings überzeugt davon, dass keiner von uns  mit der Behandlung durch einen mittelalterlichen Bader, der Haare schnitt und Zähne zog, tauschen möchte: Professionalität hat also ihre Vorteile.

Unabhängig von der ferneren Geschichte haben sich auch in den letzten 50 Jahren, also zwischen 1965 und heute,  große Veränderungen im Verhältnis von „Innen“ und „Außen“ ergeben. In meiner Kindheit Anfang der 60er Jahre gingen bei weitem nicht alle Kinder in den Kindergarten. Alte Menschen erhielten häusliche Pflege, was zur damals wie heute viel beklagten Doppelbelastung vor allem von Frauen geführt hat. 

Die Befreiung von solcher Doppelbelastung verändert die Erwartungen an Familien. Wir dürfen aber nicht vergessen: Fürsorgeleistungen und Machtverhältnisse gehen Hand in Hand. Was der Staat gibt, das nimmt er auch, so beispielsweise eine besondere Gestaltungs- und Prägekraft von Familien für den Alltag. 

Gerade die Beispiele „frühkindliche Erziehung“ und „Pflege der Hochbetagten“ zeigt, wie facettenreich das Verhältnis von Familie und Zivilgesellschaft ist. Darauf gehe ich im nächsten Abschnitt noch genauer ein.

2. Familie und Zivilgesellschaft: Enge und Weite, Grenze und Raum der Emanzipation

Frühkindliche Erziehung und häusliche Pflege sind zwei besonders sprechende Beispiele, die ein Schlaglicht auf die Besonderheit der Grenze familiärer und gesellschaftlicher Leistungen werfen kann. Wir brauchen aber gar nicht so weit zu gehen, denn schon die Durchsetzung der Schulpflicht ist ein Lehrbeispiel aus der Geschichte im Verhältnis von Familie und Zivilgesellschaft. Diese war nämlich ein Akt der Durchsetzung von Staatlichkeit zum einen, eine Chance für die Emanzipation speziell von Mädchen auf der anderen Seite.

Wer Anfang des 19.Jahrhunderts als Kleinbauer lebte, brauchte Söhne auf dem Feld, nicht in der Schule. Die Durchsetzung der Schulpflicht ist hier ein interessantes Beispiel für eine Kollusion, das Zusammenspiel zwischen Staat und Kirche. Die Kinder wurden nämlich im katholischen Bayern erst dann zur sozial und religiös obligatorischen Erstkommunion zugelassen, wenn sie vom Schullehrer ein Attest über den Schulbesuch vorweisen konnten (vgl. U. Hemel 1988). Schule war dann trotz fachlicher und didaktischer Defizite ein Raum, der die Enge der Familie zwangsläufig sprengen musste. Dies gilt erst recht für die Mädchenbildung, denn es ist ein weiter Weg von der damaligen Bildungsbenachteiligung bis zu gleichen Bildungschancen für Jungen und Mädchen, wie sie heute weithin gegeben sind.

Das gesellschaftliche Hineinwirken in den familiären Binnenraum hat, so gesehen, sicherlich emanzipatorische Elemente. Es ist aber gleichwohl auch anfällig für Konformitätsdruck, für ideologische Schlagseiten und für die Durchsetzung staatspolitischer Bildungsziele, die nicht im Interesse aller sind. Nicht nur im Blick auf die Erfahrungen in der Diktatur des NS-Regimes lässt sich daher festhalten, dass erst die Diversität zwischen öffentlichen und privaten Schulträgern den Raum für zivilgesellschaftlich gelebte Meinungsvielfalt eröffnet! Schon aus diesem Grund ist es sinnvoll, auch heute noch eine Lanze für gute private Schulen und ihre Schulträger zu brechen!

Ähnliches gilt für den Bereich der Altenpflege. Auf dem weiten Weg der gesellschaftlichen Spezialisierung handelt es sich hier bis heute ein Bereich, der die Grenzlinien zwischen Familie und Gesellschaft besonders deutlich offen legt. Während bei Kleinkindern die gesellschaftliche Erwartung frühzeitigen Kita- und Kindergartenbesuche als Handlungsdruck klar zum Ausdruck bringt,  ist die Situation im Bereich der Pflege gegenläufig. 

Einerseits ist es erklärter politischer Wille, dass Menschen zuhause (also idealerweise „in ihrer Familie“) gepflegt werden. Andererseits werden nach wie vor zahlreiche neue stationäre Pflegeheime gebaut und auch gebraucht. Die Pflege der eigenen Mutter und des eigenen Vaters wird zugleich in vielen Familien als ureigene Aufgabe angesehen. Sie erzeugt aber auch ein chronisch schlechtes Gewissen: Was man tut, ist nie genug. Und häufig genug ist es wirklich oder angeblich falsch, angreifbar, ungenügend.

„Pflege“  zeigt also eine Reihe von spezifischen Verwerfungen in der Betrachtung von „Innen“ und „Außen“ zwischen Familie und Zivilgesellschaft auf. Mit fortschreitender gesellschaftlicher Spezialisierung einerseits, mit dem Aufkommen der kräftemäßig von Haus aus eingeschränkten Kleinfamilie andererseits wird das „Besondere“ der Familie nämlich auf wenige zentrale Punkte reduziert: auf die Vergewisserung von Identität durch Zugehörigkeit, auf gelegentliche gemeinsame Feiern im Jahres- und im Lebenslauf, aber auch auf die Herstellung emotionaler Intimität. Von keiner anderen Institution wird so klar und deutlich erwartet, stabile emotionale Bindung zum Ausdruck zu bringen wie von der Familie. 

Familie ist, so gesehen, ein Sehnsuchts-Ort für Jung und Alt. Wenn junge Menschen eine Partnerschaft eingehen, die stabiler wird, wenn sie gemeinsame Wege des Glücks suchen, dann kommt nach wie vor die Familie ins Spiel. Aus der Partnerschaft wird, auch heute noch, die Utopie einer anderen, heilen Welt. Der gemeinsame Traum eines Paares erfüllt sich bis heute nicht nur in Hochzeitsmessen, sondern auch im Kinderwunsch. Das Lächeln eines Säuglings, der atemberaubende Lernweg eines Kleinkinds, das Vertrauen in den Augen eines Kindes: Das ist ein Stück Paradies auf Erden. Und es ist wahr, dass es dieses Paradies immer noch gibt, vielleicht nur zeitweise, vielleicht nur in Ansätzen, aber wirklich und wahrhaftig auch in unseren eigenen Erfahrungen. 

Dieses helle Licht führt mitunter zu großen Erwartungen. Und schnell erkennen wir, dass wir nicht im Paradies leben. Vielmehr tauchen Konflikt auf- etwa dann, wenn emotionale Bindungen nicht stabil sind und wenn die Väter, die Mütter, die Großeltern und die Geschwister ihre eigenen Lebensplanungen aktiv verfolgen, sich damit aber in Widerspruch zu einer gegebenen Beziehungs- und Familiendynamik bringen können. Dann ist das Ringen um eine emotionale Balance zwischen familiärem Rückhalt und eigenen Wegen an der Tagesordnung. Wärme und Nähe sind das eine, Enge und Eingrenzung die andere Seite. Und so komm es vor, dass Familien an solchen emotionalen Lasten scheitern.

Ich komme noch einmal zurück auf den Bereich der Altenpflege. Denn in unserer Gesellschaft ist er der Brennpunkt für  das Thema „emotionale Intimität“ und Umgang mit familiären Erwartungen. Wenn ein Leben zu Ende geht, dann sind die Lebensthemen des alten Menschen oder seiner Kinder nicht immer bewältigt. Im Gegenteil: Alte Konflikte und Lebensthemen bleiben sogar sehr oft unbewältigt. Belastende Ereignisse können die barrierefreie Kommunikation zwischen den Generationen erschweren. 

Man muss nicht gleich das Thema der „emotionalen Lasten“ bemühen, um festzustellen: Die altenpflegerische Versorgungsleistung mit Körperhygiene, Medikamentengabe und Ernährung ist die eine Seite, die familiäre Verstrickung die andere. Ein Pflegeheim kann 24h lang Bereitschaftsdienst vorhalten, aber nicht unbedingt emotionale Intimität. In der Familie ist es umgekehrt, aber auch hier gilt: nichts ist ohne Preis. Das zeigt beispielhaft folgender Dialog:

„Wenn man nur nie so wird wie Du“, sagt eine pflegende Tochter ihrer an Altersdiabetes schwer erkrankten Mutter. „Dann lasse mich doch sterben“, antwortet die Mutter und wirft ihre leere Schnabeltasse mit schwacher Hand gegen die Tochter.

Emotionale Intimität ist hier das eine, Aufarbeiten von und Abarbeiten an seelischen Verletzungen das andere. Familie ist kein Idyll. Sie ist eben Möglichkeitsraum, Utopie  und Grenze, Himmel und Hölle  zugleich. Die Übernahme von früheren Familienaufgaben durch die Zivilgesellschaft hat etwas Emanzipatorisches, aber es ist eine kalte Emanzipation, die zwar Verletzung vermeidet, emotionale Wärme in der Regel aber nicht herstellen kann und wohl auch nicht will.

Und noch mehr: Der Rückzug der Familie auf „emotionale Intimität“ überfrachtet sie mit Erwartungen, die in vielen Fällen hoch problematisch sind. In vielen Familien gilt: Manche Dinge sind schon tausendmal gesagt, aber noch immer nicht bewältigt. Hier ist – um die Sprache der Wundbehandlung zu wählen- Narbenpflege besser als das Streuen von Salz in die offene Wunde. Natürlich ist es großartig, wenn Gräben überbrückt werden, indes: es gelingt eben nicht immer!

Auch hier aber gilt es, beide Seiten der Medaille im Blick zu behalten. Ich sehe hier meine Nachbarin vor mir: Eine 91-jährige Frau, die im Haus ihrer Tochter lebt. Sie ist im Alltag weitgehend selbständig und weiß sich als Mittelpunkt ihrer Kinder und Enkelkinder. Sie ist nicht nur physisch, sondern auch emotional gut versorgt. 

Diese helle Seite der Familie bildet sich auch in gesellschaftlichen Entwicklungen ab. Es ist daher hoch interessant, dass familiäre Strukturen in anderer Weise neu entstehen: Bei Familienwohngruppen in der Jugendhilfe, beim Mehrgenerationenhaus und der Quartiersentwicklung in der Seniorenpflege. Es handelt sich dann um echte „Wahlverwandtschaften“, um den Versuch, das Beste aus allen Welten miteinander zu verbinden. 

Gefragt ist dann- typisch für die europäischen Gegenwartsgesellschaften- das mündige Individuum in der freien Ausgestaltung seiner Wahlfreiheit. Nicht nur in der Familie, sondern auch in den Individuen, die aus Familien hervorgehen, treffen sich folglich Erwartungen von beiden Seiten, die einen näheren Blick auf die einzelne, handelnde Person in ihren verschiedenen Bezügen lohnen.

3. Öffentliches und privates Selbst in der Spannung zwischen Familie und Zivilgesellschaft

Familie und Zivilgesellschaft sind das eine, aber beide sind nichts ohne das Entscheidende: die aus ihr hervorgehenden und auf sie einwirkenden Personen. Gerade in einer Gesellschaft, die so großen Wert auf Individualisierung und Individuation legt, verstanden als Personwerdung in unverwechselbarer Eigenart, gerade in einer solchen Gesellschaft ist das Zueinander von Familie und Zivilgesellschaft ohne den Spiegel in den konkreten, hier und heute handelnden Personen nicht komplett erfassbar.

Dabei spannt sich das Leben jeder Person auf zwischen Geburt und Tod. Innerhalb einer Familie aber geht es um noch mehr: Auf jeden Menschen wirken Hoffnungen und Erwartungen schon vor seiner Geburt ein. Und in jeder Familie gibt es Verstorbene, die noch in lebendiger Erinnerung sind und die schon dadurch nachwirken. Der biographische Faden, der jeden von uns hält, spannt sich daher über die Generationen hinweg auf (vgl. S. Konrad 2013). 

Manche von uns werden geboren als Stammhalter, andere als Nachzügler, einige sind die Prinzessinnen ihres Vaters, andere fühlen, wie es eine Frau Anfang 50 ausdrückt: „Dem Papa wäre es viel lieber gewesen, wenn ich ein Junge geworden wäre.“

Wieder andere kämpfen zeitlebens um existenzielle Anerkennung. „Ich kam eigentlich nur aus Versehen auf die Welt, und mein Vater hat sich nie für mich interessiert. Ich habe ihn auch nur zweimal im Leben gesehen“, so berichtet ein 30-jähriger junger Mann. 

Und natürlich gibt es auch diejenigen unter uns, die ihre behütete Kindheit wie einen Schatz durchs Leben tragen und die versuchen, ein Stück von diesem familiären Paradies in ihrem Leben weiter zu geben.

Die Familie ist also im wahren Sinn das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, der Raum unserer eigenen, ursprünglichen Verortung in der Zivilgesellschaft. Sie antwortet, freundlich oder brutal, hilfreich oder verletzend, auf die Frage: „Wer bin ich?“ Familie stellt sich folglich als ein existenzieller, emotionaler Willkommens- oder Abstoßungsraum dar, der uns zuteil wird.

Familie bestimmt aber auch unseren primären Herkunftsort in der Gesellschaft. Wer aus München kommt, weiß genau, dass „Hasenbergl“ anders klingt als „Pullach, Isar-Hochufer“. Für einen Berliner hört sich Grundwald anders an als Neukölln.  Schon der Wohnort signalisiert: Du kommst aus einem sozialen Brennpunkt, Du aber aus einer betuchten, behüteten Wohngegend. 

Mehr noch: Wert und Geltung in der Gesellschaft graben sich tief in das kollektive Gedächtnis eines Familienverbands ein. Auch verarmter Adel fühlt sich stolz an. Und auch extrem erfolgreiche Personen aus gesellschaftlich weniger angesehenen Verhältnissen wie der frühere Bundeskanzler Schröder zeigen kompensatorische Verhaltensweisen, die weniger individuell sind, als sie scheinen: Sie zeugen vielmehr vom Wunsch nach Geltung und Anerkennung gerade im Gegensatz zu empfundener sozialer Geringschätzung in eigenen, jungen Jahren.

Nun bilden wir unsere Person immer auf der Hintergrundfolie der eigenen familiären Biographie. Systematisch lässt sich hier die Aufgabe formulieren, einen eigenen Lebensentwurf zu finden, der zu den eigenen Fähigkeiten und Strebungen passt. Damit ist nicht nur die Aufgabe gemeint, einen Beruf und einen Lebenspartner zu finden. Viel mehr geht es darum, nach welchem inneren und äußeren Lebensmodell jemand leben möchte, welchem Motiv er folgen will: Geht es um Geld und Anerkennung wie im Wirtschaftsleben? Um Weitergabe von Bildung und Lebensfreude wie- in den besten Fällen- im Bildungsbereich? Geht es um Heilen und Helfen- dem Leitmotiv im Gesundheits- und Sozialwesen? Um Macht und Teilhabe an der Gestaltung des sozialen Ganzen wie in Politik und Verwaltung? Oder geht es um Familie und Kinder im Sinn des Weitergebens eigener biographischer und familialer Traditionen? 

Letztlich geht es um die Frage: Als welche Person will ich in Erinnerung bleiben, wenn ich morgen sterben muss?

Die Frage nach dem Lebensentwurf im Zusammenspiel familiärer und gesellschaftlicherKräfte ist nicht trivial. Sie ist auch nicht allein durch explizite Versprachlichung zu lösen. In den meisten Fällen ist es eher so, dass solche Lebensentwürfe einen impliziten Charakter haben, also sozusagen konkludent aus dem Verhalten einer Person decodiert werden können. 

Inneres und äußeres Selbst stimmen dann im Idealfall überein. Dabei gehe ich davon aus, dass unser Personkern sich in einem „inneren Selbst“ repräsentiert- gewissermaßen dem Inbegriff unserer besten Fähigkeiten und Eigenschaften, vielleicht analog erfahrbar im Flow-Erlebnis, wie es der ungarische Psychologe M.Csikszentmihaly beschrieben hat. Inneres Selbst und Persönlichkeitsentwicklung gehen dabei Hand in Hand.

Das innere Selbst ist in meinen Augen geradezu der Motor unserer Persönlichkeitsentwicklung an. Diese zeigt sich anhand der Entfaltung spezifischer Kompetenzen, häufig in enger Verbindung mit familiären Traditionen. Der Einfluss von Familie und Zivilgesellschaft auf die Dynamik unserer Kompetenzentfaltung ist aber nur die eine Seite. Die andere besteht in der Kraft zur Selbststeuerung, die jedem Menschen gegeben ist.  Familie und Zivilgesellschaft können und beeinflussen, hemmen oder fördern. Am Ende aber entwickeln wir schon auch aus eigenem Antrieb spezifische kognitive, kommunikative, affektiv-emotionale und pragmatische Kompetenzen. Diese wiederum wirken sich auf unsere Partner und Berufswahl, ja auf das ganze erwachsene Leben aus- etwa weil wir Buchhalter werden oder Pädagoge, Opernsänger oder Großhandelskaufmann.

Das begriffliche Konstrukt des „inneren Selbst“ ist insofern von Bedeutung, als es den steuernden Part im komplexen Zusammenspiel von genetischen Faktoren und Umwelt, von Familie und Zivilgesellschaft übernimmt. Wir sind eben niemals nur Opfer, sondern auch Täter und Akteur der eigenen Biographie.

In anderer Sprache: Das innere Selbst, unsere eigene Person, sorgt für die Navigation unseres Lebensschiffs- niemand sonst. Wäre es anders, hätten weder der Begriff der Verantwortung noch der der Selbstverantwortung einen Sinn. Öffentliches und privates Selbst sind daher zwar zwei Seiten der gleichen Medaille, sind  aber doch von spezifischen, eingrenzenden und ermöglichenden Bedingungen geprägt. Wenn es in der Familie gelingt, Zugehörigkeit, Identität und Selbstvertrauen zu stärken, dann fällt es uns als handelnden Personen leichter, unseren Ort im Leben zu finden. 

Daraus leitet sich auch ein spezifisches Sinnerleben ab, welches sich durch vier Leitfragen gut erschließen lässt, wie neuere Forschungen zum Thema Sinn zeigen (vgl. T. Schnell 2009). Dabei sind vier Erschließungsfragen von entscheidender Bedeutung:

  • Für wen bist Du wichtig? (Die Frage der Bedeutsamkeit)
  • Zu welcher Gruppe gehörst Du? (Die Frage der Zugehörigkeit)
  • Was ist wichtig für Dich? (Die Frage der Orientierung)
  • Ist Dein Leben für Dich stimmig? (Die Frage der Kohärenz)

Natürlich spielt bei solchem Sinnerleben der eigene Selbstwert, das erfahrene Selbstvertrauen, der Glaube an die eigene Wirkmacht, eine wichtige Rolle. Dabei gibt es eine Reihe interner Feedback-Schleifen, die in den meisten Fällen innerhalb der Familie angelegt werden und die massiv in die Selbstdefinition eingreifen. 

Im Idealfall läuft der Prozess der Individuation und Selbstwerdung problemlos ab. Häufig aber gibt es ungelöste Lebensaufgaben über mehrere Generationen. So kannte ich eine junge Frau, die extrem misstrauisch war. Auf meine Frage nach der Ursache antwortete sie: „Meine Eltern haben mir gesagt, dass alle Menschen mich ausnutzen wollen. Und hüten sollte ich mich besonders vor denen, die mich gut behandeln: sie führen etwas im Schilde. Auch wenn ich das nicht mehr wörtlich glaube, bin ich doch dadurch sehr vorsichtig und misstrauisch geworden im Leben!“

Wir gelangen hier in den Bereich von Persönlichkeitsstrukturen und familiären Verstrickungen. Der darf auch trotz vieler guter Erfahrungen nicht ausgeblendet werden- zu massiv sind die Verletzungen, Herabsetzungen, Mißachtungs- und sogar Missbrauchserfahrungen, die es immer wieder zu berichten gilt. 

Familie und Zivilgesellschaft, das bedeutet im Spiegel der einzelnen Person auch die Kompetenz zum Umgang mit Konflikten, mit erlittenem, vielleicht auch mit begangenem Unrecht. Das bedeutet, dass eine Gesellschaft gut daran tut, gemeinsam mit den Familien Frustrations- und Ambiguitätstoleranz einzuüben- nicht weil das Leben nur aus Frustration bestünde, sondern damit friedliches Zusammenleben auch auf der Ebene emotionaler Regulation funktionieren kann. 

Weil aber nun in jeder Familie schwierige, unter Christen könnte man auch sagen: unerlöste Anteile in der Familiengeschichte vorhanden sein werden, gehört es zur Lernaufgabe guter Personwerdung, sich auf die Herausforderung des versöhnten Blicks zurück einzulassen. Und ich sage dies, wohl wissend, dass der Blick zurück schwer auszuhalten ist. Denn „Zurückblicken“ kann den Sturm der Wut, die Lähmung durch Trauer, aber schließlich auch die Kraft zum Aushalten und Nach-Vorne-Gehen bewirken. Leicht ist das nicht, und in aller Regel ist es auch eine Lebensaufgabe in der zweiten Lebenshälfte.

Mit der Zivilgesellschaft haben solche persönlichen und privaten Geschichten durchaus zu tun. Schließlich sind familiäre Lasten und Verstrickungen nicht unabhängig von bestimmten gemeinsamen Erfahrungen einer Alterskohorte, von Krieg und Vertreibung bis zur Abkehr von autoritären Erziehungsstilen und dann zur Einsicht, dass Laissez-Faire in der Erziehung eben auch nicht ausreicht.  

Im nächsten Schritt möchte ich daher das Verhältnis von Familie nicht nur zum Kontext eines Landes, sondern zur globalen Zivilgesellschaft beleuchten.

4. Familie und globale Zivilgesellschaft: Auch Flüchtlinge haben Familie.

Vieles spricht dafür, dass der Anfang der Menschheitsgeschichte von Clans und Sippen geprägt war. Erst mit dem Übergang von der Gesellschaft der Jäger und Sammler, die nur kleine Gruppen umfassen konnte, zu einer bäuerlich-sesshaften Lebensweise wie etwa im alten Ägypten entsteht so etwas wie Staatlichkeit. Aber schon der „Exodus“ jüdischer Gruppen aus diesem Land spricht für Wanderungsbewegungen, wie sie weltweit immer stattgefunden haben. Heute arbeiten schätzungsweise 150 Mio. Menschen in einem Land, in dem sie nicht geboren wurden. Fast die gleiche Zahl von Menschen ist auf der Flucht, innerhalb des eigenen Landes oder in anderen Ländern.

Von der Zivilgesellschaft eines Landes zu sprechen, reicht daher nicht mehr aus. Die moderne Globalisierung von Waren und Dienstleistungen ist das eine. Die Globalisierung von Information und Kommunikation durch die Möglichkeiten des Internet und der digitalen Technologien ist das andere. Schließlich gibt es auch gemeinsame Herausforderungen der heute auf dieser Erde lebenden Menschen wie der Klimawandel, der religiöse Extremismus, aber auch Krieg und Unruhen sowie extreme soziale Ungleichheit.

Der Begriff der Zivilgesellschaft war vor 30 Jahren durch Oppositionsbewegungen gegen autoritäre Staaten, speziell in Osteuropa geprägt. Legendär ist beispielsweise die Solidarnosc-Gewerkschaftsbewegung in Polen. Später wurde der Begriff auf politisch aktive Nicht-Regierungsorganisationen wie Amnesty International oder Transparency International übertragen. 

Mit dem von mir 2009 gegründeten Institut für Sozialstrategie sehe ich die Zivilgesellschaft allerdings noch weiter: Sie umfasst- wie weiter oben ausgeführt- alles, was weder Staat ist noch organisiertes Verbrechen. Dabei gibt es manchmal fließende Grenzen, doch der Vorteil eines solchen inklusiven Begriffs der Zivilgesellschaft ist es, dass auch große gesellschaftliche Bereiche wie Religionen, Wirtschaftsunternehmen, aber auch Sport und Wissenschaft, als Teil der Zivilgesellschaft begriffen werden können.

Und dies gilt eben auch für Familien. – Mütter und Väter, Söhne und Töchter gibt es in jeder Kultur, aber die Ausprägung der innerfamiliären Verhältnisse unterscheidet sich deutlich. Vor 50 Jahren war auch in Deutschland physische Gewalt in der Familie noch sozial akzeptiert. Heute reicht das Gewaltmonopol des Staates bis in die Gestaltung des Familienlebens hinein, oft eben auch zum Schutz individueller Freiheit

Die Familie ist ja die primäre Bezugsgruppe jedes männlichen und weiblichen Jugendlichen. Und je nach Referenzkultur ist die Beachtung rigider Kleidungsvorschriften, Blutrache, die Verteidigung der Familienehre mit Gewalt, die Zwangsverheiratung von jungen Frauen, im Extremfall die Klitorisbeschneidung und der Ehrenmord Teil familiärer Tradition.

Ich übertreibe hier nicht. Denn solche Fragen der Familienkultur greifen tief in die Identität von Menschen ein; sie geben Verhaltensmaßstäbe vor und bestimmen teilweise bis ins Detail, was „normal“ und „nicht normal“ ist. Wir müssen dabei nicht unbedingt nach Syrien, Afghanistan oder zur Türkei hin schauen, denn auch Europa bietet hier noch hinreichend Anschauung – von Albanien bis nach Sizilien, von Oberbayern bis nach Sachsen. 

Fakt ist jedenfalls, dass familiäre Bindungen gerade für Menschen mit Migrationshintergrund eine sehr große Bedeutung haben und auch aus der Ferne behalten. Mit jedem jungen Mann, der hier einwandert, wohnt bei uns eine komplexe und manchmal verzweigte Familiengeschichte, mit Erwartungen, Verantwortungen, aber auch Sanktionen und mehr oder weniger bedrohlichen eigenen Wegen!

Die globale Zivilgesellschaft, die sich in großen Lebensbereichen wie Sport und Unterhaltung, Wirtschaft und Wissenschaft realisiert, ist also das eine. Die Bewältigung unterschiedlicher Modelle in der eher konfliktbeladenen Globalisierung von Werten und Normen ist die andere Seite. Familien spiegeln beides: Hoffnung auf Aufbruch, Befreiung von überkommenen Strukturen, aber auch Enge und Repression, Druck und psychische oder  physische Gewalt für unerwünschte Abweichungen.

Einen Königsweg bietet die Betrachtung der globalen Zivilgesellschaft hier nicht, wohl aber die Aufforderung, Maßstäbe zu setzen und durchzusetzen. Entgegen kulturrelativistischen Stimmen ist es eben nicht gleichgültig, ob jemand das Recht und die Freiheit erhält, einen eigenen Ausbildungs-, Berufs- und Lebensweg zu wählen oder nicht. – Wer in einer freiheitlichen Demokratie leben will, wird also gut daran tun, Modelle familiären Lebens zu unterstützen, die eine solche personale und persönliche Freiheit leben und auch durchsetzen.

Abschließend möchte ich das Thema Familie kurz theologisch beleuchten.

5. Schluss: Theologische Überlegungen- Gott und die Familie

Aus der Bibel kennen wir die Heilige Familie, die in mancherlei Hinsicht untypisch war: Eine Ein-Kind-Familie mit dem Pflegevater Joseph. Jesus selbst, der als Wanderprediger wirkte, ist bisweilen ausgesprochen familienkritisch: „Und jeder, der Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Frau oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen verlassen hat, der wird es vielfältig empfangen und das ewige Leben ererben“ (Mt 19,29). Und: „Folge mir nach und lass die Toten ihre Toten begraben!“ (Mt 8,22).

Ein zu eng familienzentrisches Modell, wie es vor rund 50 Jahren  in Deutschland mit dem Ideal der Hausfrauen-Ehe und der Trias aus „Kinder, Küche, Kirche“ gelebt wurde, führt ebenso in die Irre wie die Seligpreisungen eines extremen Individualismus, der bei gut gefüllten Konten in Beziehungsarmut und soziale Kälte führen kann. Nicht umsonst gehört die Frage „Für wen bist Du wichtig“ zu den wesentlichen Fragen für das subjektive Empfinden von Lebenssinn!

Gute Erziehung will und wird Wurzel und Flügel fördern: Wurzeln, damit Menschen wissen, wo sie herkommen, und Flügel, damit sie ihre Träume verwirklichen können. Das wird im sozialen Zusammenleben nicht ohne Konflikt und öffentliche Diskussion gehen, auch nicht ohne Kontroversen zur Durchsetzung von Freiheitsstandards gegenüber kulturellen  Familientraditionen- natürlich nicht nur bei Flüchtlingen. 

Wichtig ist dabei die BalanceFamilie ist nicht alles, das Individuum aber auch nicht. Gerade der christliche Glaube kann hier die Kraft zur kritischen Erinnerung entfalten und eine Erfahrung vermitteln, die in ihrer Vielgestaltigkeit auf eines zielt: Die unbedingte Annahme jeder einzelnen Person, jedes jungen und jedes alten Menschen. Familie erinnert an das Paradies; sie kann aber auch zur Hölle werden. Dabei ist es im christlichen Sinn von zentraler Bedeutung, dass belastende Erfahrungen nicht das letzte Wort haben, sondern dass uns Heil und Erlösung zugesagt sind- also eben doch das Paradies!

Ja: Familie bildet, prägt, bindet, verstrickt, hält, fordert, überfordert, stützt, lässt fallen, bleibt, ändert sich… und bleibt trotz aller Grenzen immer auch ein Sehnsuchts-Ort für unsere Träume von einem guten Leben. Und weil dies so ist, möchte ich zum Schluss noch einen Handlungsimpuls an Sie alle, die Sie Verantwortung tragen für Ihre Familien, aber auch für junge Menschen. Erstens: Nutzen Sie die Chance des Lernens zwischen den Generationen, des Gesprächs zwischen Großeltern- und Enkel-Generation, auch in einem institutionellen Rahmen. Es ist eine der besten Möglichkeiten, die guten und gesunden Kräfte aus heutigen Familien zu aktivieren und positiv zu nutzen! Zweitens: Setzen wir uns doch gemeinsam dafür ein, dass es in absehbarer Zeit ein CJD-Familienwerk gibt, mit dem Ziel der Begleitung und Unterstützung von Familien dort, wo sie es brauchen- und gerne auch mit anderen Partnern!

Was die Kraft der Familie für Deutschland und Europa bedeutet, das ist auch eine Frage an die Zukunft unserer Gesellschaft. 

Es ist zugleich aber die wirkliche Zukunftsfrage unserer Gesellschaft- auch des CJD!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

LITERATUR

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Posted by Urich Hemel

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