Abstract [en]: The effects of digital communication on culture is a challenge of its own. As in many other cases, it is highly ambivalent: It creates better access and enlarges potential audiences for high-end culture such as paintings, music and others. On the other hand, digital experience is definitely different from traditional settings. The digital world, as an example, may lead to “digital voyeurism” with an evident lack of respect for privacy, with open doors for cyber mobbing, fake news and other forms of cybercrime. Artists may be encouraged to present their total life in the internet, even at the expense of their artistic quality. So, digital technology is not neutral, and the arts may have an enormous role in fostering the debate about the right balance between digital freedom and digital State control as e.g. in the Chinese social credit point system. Arts will favor the freedom of expression but it also needs a political framework for protecting the best of human and humanistic culture.

Abstract [de]: Die Auswirkungen der digitalen Kommunikation auf Kultur stellen eine Herausforderung eigener Art dar. Sie sind ambivalent, denn einerseits geht es um verbesserten Zugang zu Kunst und um die Einbeziehung weiterer Kreise der Bevölkerung etwa mit Blick auf Musik und Malerei. Andererseits ist eine digitale Erfahrung von traditionellen Formen des Kunstzugangs deutlich unterschieden. So kann die digitale Welt beispielsweise zu einem digitalen Voyeurismus führen, der die Türen öffnet für einen evidenten Mangel an Privatheit, ja sogar für Cybermobbing, Fake News und andere Formen von Cybercrime. Künstler und Künstlerinnen können dazu geführt werden, ihr gesamtes Leben digital auszubreiten, auch auf Kosten ihrer künstlerischen Entwicklung und Qualität. Digitale Technik ist daher nicht einfach neutral. Die Kunst sollte daher einen wesentlichen Beitrag in die Debatte rund um die richtige Balance aus digitaler Freiheit und digitaler Staatskontrolle einbringen. Der Kunst wird es dabei um die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks gehen, aber sie braucht auch einen politischen Rahmen, um das beste einer humanistischen und am Ende zutiefst menschlichen Kultur zu schützen.


November 2019

Kultur und Freiheit in einer digitalen Welt

Der Beginn des 21.Jahrhunderts ist nicht zuletzt vom Aufkommen digitaler Erlebnisräume geprägt. Noch vor 20 Jahren war das „lineare Fernsehen“, das damals noch nicht so hieß, die häufigste Freizeitbeschäftigung, für die Menschen 3-4 Stunden täglich investierten. Längst ist ein großer Teil dieser Zeit ins Internet gewandert, von Whatsapp bis Netflix, von Instagram zu Youtube. Die Frage nach Kultur und Freiheit ist daher auch digital neu zu stellen.

Dies gilt erst recht, nachdem die große Hoffnung auf das Internet als Medium der Freiheit zerstoben sind, nicht erst nach dem Scheitern der Freiheitsbewegungen in arabischen Ländern, die u.a. digital organisiert waren. Denn Staaten haben digital aufgerüstet und üben bisweilen eine unverhohlene digitale Zensur aus. Prominentestes Beispiel ist China. Bis heute ist in Europa noch nicht angekommen, wie unabdingbar es ist, zum Thema der staatlichen Digitalkontrolle eine eigenständige Meinung zu entwickeln.

Vor über zehn Jahren staunte ich beim Lesen einer Studie, die von amerikanischen Verbrauchern berichtete. Im Vergleich mit dem Geschmack einer frischen Ananas zogen sie den ihnen besser bekannten Geschmack gezuckerter Dosen-Ananas eindeutig vor.

Dies lässt sich durchaus nachvollziehen, denn das Bekannte ziehen wir dem Unbekannten häufig vor. Was aber heißt das für die Kunst? Ist nicht die digital abgebildete Mona Lisa dem Original deutlich überlegen, etwa weil ich Einzelheiten per Zoom besser betrachten kann? Brauchen wir überhaupt noch Museen als Orte physischer Gegenwart und Inszenierung? Reicht nicht deren digitaler Besuch (immerhin Ausdruck hohen Kunstinteresses) aus?

Es lohnt sich, auch in diesem Fall die Frage aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Denn nahe liegt hier eine gewisse Abwertung digitaler Erlebnisräume, da sie dem Original nur bedingt entsprechen, da sie Inszenierungen der Mittelbarkeit sind und da sie sich vom physischen Originalerlebnis in verschiedener Hinsicht unterscheiden. 

Komplementär dazu wird argumentiert, dass gerade die digitale Übertragung neue Personengruppen erschließt und das Interesse für Kunst auch denen näher bringt, die aufgrund weiter Entfernung, körperlicher Einschränkung oder sonstiger Umstände den physischen Weg gar nicht auf sich nehmen könnten. Zusätzlich lässt sich anführen, dass ein digitales Anfangsinteresse im Einzelfall in „echte Kunstbegeisterung“ umschlagen kann, bis hin zum Besuch von Ausstellungen, Teilnahme am klassischen Kunstleben und dergleichen.

Eine dritte Sichtweise, die ich hier gerne einnehmen möchte, sieht die digitale Erlebnisweise als anders, aber nicht besser und schlechter an als die physische Unmittelbarkeit. 

Daraus folgt allerdings auch, dass deren Möglichkeiten und Grenzen kritisch betrachtet werden. Denn tatsächlich ist das sinnliche Erleben in der digitalen Welt nicht so ohne Weiteres mit dem nicht-digitalen Erleben gleichzusetzen. Wer in einem Arbeitszimmer in lässiger Kleidung unter der Hitze leidet oder gerade hungrig ist, erlebt einen anderen Kontext als derjenige, der sich auf einer Parisreise in den Louvre begibt. Doch nicht nur der äußere Kontext, sondern auch das Kunsterleben selbst unterscheidet sich- aufgrund der Lichtverhältnisse, aber auch aufgrund des räumlichen und dreidimensionalen Kontexts. 

Ein sprechendes Beispiel für die Neuheit des digitalen Erlebnisraums war die Zerstörung eines Bildes von Banksy unmittelbar bei einer Auktion, digital inszeniert. Wie immer jemand zu dieser Aktion stehen mag: Sie war auch ein Beispiel für künstlerische Autonomie, für den Luxus der Freiheit von Bedingungen wie Macht und kommerzieller Verwertung. 

Was für bildende Kunst gilt, lässt sich auch auf andere Bereiche der Kunst anwenden, so etwa die Musik. Zunächst führte die Möglichkeit des digitalen Zugangs zur Musik zur Zerstörung oder „Disruption“ der traditionellen Musikvermarktung etwa über verkaufte CDs. Gleichzeitig  zieht der erweiterte Zugangsraum zur Musik auch neue Möglichkeiten und Herausforderungen nach sich, so etwa die Anforderung digitaler Präsenz mit vielen Followern. Damit einher geht die implizite Versuchung, sein gesamtes Privatleben zur Schau zu stellen und es unbeteiligten Dritten zugänglich zu machen. Daraus folgt ein gewisser „digitaler Voyeurismus“, der dazu verführen kann, immer noch stärker auf den empfundenen Mainstream einzugehen, sich dabei aber womöglich selbst zu verlieren.

Eine weitere Facette im spannungsvollen Verhältnis zwischen künstlerischer Freiheit und digitaler Verwertung liegt in der Ambivalenz künstlerischen Erfolgs. Nehmen wir die Beispiele von „Lady Gaga“ und „Madonna“: liegt deren Erfolg als Sängerinnen an der Professionalität ihres digitalen Marketings oder an ihren Stimmen? Oder verschwimmen beide Facetten in einer „künstlerischen Gesamtleistung“, die dann jede einzelne Kunstform zu einer Art „Performance rund um das eigene Leben“ macht?

Auch bei kritischer Betrachtung ist die Antwort keineswegs eindeutig. Auch früher schon gab es Künstler, die sich und ihr Leben auffällig inszeniert haben. Andere wiederum liebten die Zurückgezogenheit- oder waren zu ihr sozusagen verdammt, weil niemand Notiz von ihnen nahm. Schließlich lässt sich paradoxerweise beobachten, dass die digitale Verfügbarkeit von Musik zu einer Renaissance des Live-Konzerts führte, auch aus ökonomischen Gründen: An Ticketpreisen lässt sich Geld verdienen, an digital und kostenlos heruntergeladener Musik nicht.

Krise und Transformation von Freiheit sind, so gesehen, auch im Bereich von Kunst und Kultur zwei Seiten einer Medaille. Denn wir Menschen selbst gehen bisweilen achtlos mit unserer Privatsphäre um oder verhalten uns als „digitale Voyeuristen“. Moralische Vorstellungen sind dabei unter den Risiken und Chancen digitaler Erlebniswelt neu auszuhandeln, sowohl mit Blick auf den Umgang mit Daten, auf digitale Privatheit, auf digitale Rechte und Pflichten. Hier stehen wir noch relativ am Anfang einer zukünftigen Entwicklung. 

Die klassischen Verfehlungen wie Lüge und Betrug, Diebstahl, Ehrabschneidung und Diffamierung kommen dabei in der Kunst wie im Leben auch in digitalem Gewande vor: Als Fake News und Hackerangriff, als Shitstorm und Cybermobbing. Es fehlt jedoch noch an Formen nationalstaatlicher und internationaler Durchsetzung von ethischen Mindeststandards. Genau dadurch kommt es zu deren Unterlaufen bis hin zu einem Wettbewerb auf jeweils noch niedrigerem Niveau.

Die Frage nach Kultur und Freiheit in einer digitalen Welt ist daher erwartungsgemäß vielschichtig. Denn die rapide digitale Transformation der Alltagswelt überfordert die Geschwindigkeit sozialer Resonanzräume und politischer Gestaltung, zumindest im ersten Schritt. Als die ersten Mobiltelefone auf den Markt kamen, haben sehr viele Autofahrer ohne Freisprechanlage telefoniert und dabei manchmal abenteuerliche Lenkmanöver ausgeführt. Allmählich setzten sich Freisprechanlagen durch, aber es folgten auch die staatlichen Sanktionen für das Telefonieren am Steuer mit dem Smartphone in der Hand.

Daraus lässt sich die These ableiten, dass soziale und politische Veränderungen langwelliger zu betrachten sind als die manchmal rasante Entwicklung technischer Möglichkeiten. „Wildwest“ im Internet ist aus dieser Betrachtung eine soziale, politische und künstlerische Übergangsphase. Wohin der Übergang führt, muss allerdings von allen Beteiligten erörtert werden. So begann beispielsweise das Darknet als autonomer Freiheitsraum engagierter Netzaktivisten, die keine Nachverfolgbarkeit ihrer IP-Adresse durch staatliche Behörden wollten. In der Folge wurde das Darknet zum Tummelplatz für Waffenhandel, Pornographie und andere hochproblematische Aktivitäten. Erst im nächsten Schritt kam es zu einer öffentlichen Diskussion über die Grenzen digitaler Freiheit von Hassbotschaften bis Cybermobbing, von Kinderpornographie bis zur Vorbereitung von Terrorakten.

Technik ist nicht neutral, auch nicht digitale Technik. Sie eröffnet neue Möglichkeiten, aber auch neue Versuchungen und Gefahren. Digitale Souveränität in einem demokratischen Gemeinwesen muss daher neu ausverhandelt werden. Sie umfasst nicht die Freiheit zum Verbrechen, zum ungehemmten Eindringen in die Privatsphäre oder zum digitalen Pranger. Sie darf aber auch nicht so weit eingeschränkt werden, dass die digitale Welt zum Staatsagenten sozialer Konformität wird, etwa im Sinn des in China praktizierten „Social Scoring Modells“, bei dem die „soziale Bonität“ jedes Bürgers mit Punkten bemessen wird. Zum sensiblen Umgang mit den Chancen und Risiken der digitalen Welt gehört daher auch eine Reflexion über die Rolle des Staates. Wo wirkt er als Förderer, wo als Bremser, wo als Garant von Freiheiten, wo als zu engmaschiger Kontrolleur?

Kultur und Freiheit in der digitalen Welt mit ihren digitalen Erlebnisräumen benötigen einen humanistischen Impuls, aber sehr wohl auch einen politischen Rahmen.  Dabei wird es lebhafte Diskussionen geben müssen. Diese zu führen, auszuhalten und zu vertretbaren Ergebnissen zu verdichten, das ist Aufgabe eines demokratischen Gemeinwesens, auch wenn traditionelle Parteien das bisher kaum erkannt haben.  Denn es ist eine neue Aufgabe. Doch  wer die Freiheit und erst recht die Freiheit der Kunst liebt, der wird sich ihr stellen- und zwar im Rahmen demokratischer Prozesse. Denn ein besseres Verfahren für gute soziale und politische Innovation gibt es nicht.


Alle Rechte vorbehalten.

Abdruck oder vergleichbare Verwendung von Arbeiten des Instituts für Sozialstrategie ist auch in Auszügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung gestattet.

Publikationen des IfS unterliegen einem Begutachtungsverfahren durch Fachkolleginnen- und kollegen und durch die Institutsleitung. Sie geben ausschließlich die persönliche Auffassung der Autorinnen und Autoren wieder.

Posted by Prof. Dr. Dr. Ulrich Hemel

Leave a reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert