Abstract [en]: What is digitalisation?
Digitalisation. It seems clear to everyone what that means. But is it really? Digitalisation is the process of capturing digital data, online transfer of information and automatic processing of big data using algorithms, but also judgement by artificial intelligence which economise and even legitimize the right of using resources.

That’s already insane. Moreover, it is often highlighted that digitalisation is making our world better. How that is meant to work, while artificial intelligence is casually destroying the principle of causality, is barely discussed.

Therefore, it is about no less than a new basic legitimation of social power: after physical violence and „by god‘s grace“ the principle of causality is vanishing and no one knows what is going to replace it.

Simultaneously, the concept of secrets is changing its characteristics completely. While it once was the requirement for legitimate privacy, it has now turned into a way that is used for a questionable and scary exclusion. Violence-reducing interests through fine-grained knowledge of social relations are more and more shifting the focus away from the static legal norm, towards a dynamic conflict reduction. Less emergency due to needs, more freedom for everyone with simultaneous shrinking consumption of conflict energy.

That is the way that digitalisation is transforming people’s lives, especially by changing the way social agreements work. That proves: digitalisation is rather a cultural technique, but a technology because it does not only replace the causal concept, but also opens up completely new perspectives for the future.

Abstract [de]: Was ist Digitalisierung?
Digitalisierung. Jedem scheint klar, was das meint. Aber ist das wirklich so klar? Digitalisierung bedeutet Erfassung von digitalen Daten, vernetzte Datentransfers und automatisierte Verarbeitung von big data mit Algorithmen, aber auch Urteile von künstlicher Intelligenz, die Wertschöpfungsketten und sogar die Rechte zur Nutzung von Ressourcen legitimieren.

Bereits das ist schon Allerhand. Außerdem wird immer wieder hervorgehoben, Digitalisierung mache unsere Welt besser. Wie das gelingen soll, wo doch Künstliche Intelligenz – nebenbei und fast unbemerkt – das Ende des Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs einläutet, darüber wird allerdings nur sehr seltenen (laut) nachgedacht. Dabei geht es um nicht mehr und nicht weniger als die grundlegende Neulegitimation sozialer Wirkmächtigkeit: nach körperlicher Gewalt und „von Gottes Gnaden“, büßt gerade das Kausalprinzip seine zentrale Bedeutung ein, ohne dass schon klar wäre, was an dessen Stelle treten könnte. Gleichzeitig verändert das Konzept des Geheimnisses seinen Charakter grundlegend. War es früher die Voraussetzung für legitime Privatheit, muss es heute als Weg zu einer fragwürdig-bedrohlichen Exklusion gesehen werden. In so gedachter Digitalisierung verlagern gewaltreduzierende Effekte von feingranularem Wissen aus sozialen Zusammenhängen, den Fokus weg von der statischen Rechtsposition hin zur dynamischen Konfliktreduktion.

Geringere Not durch Mangel, mehr Freiheit für den Einzelnen, bei gleichzeitig verringertem Verbrauch von Konfliktenergie. So transformiert Digitalisierung über den Wandel sozialer Übereinkünfte den Alltag der Menschen. Das belegt: Digitalisierung wirkt weniger als Technologie, sondern vor allem als Kulturtechnik, weil sie die Ursache-Wirkungs-Beziehung nicht nur ersetzt, sondern in der Folge völlig neue konzeptionelle Perspektiven für lokales und internationales Zusammenleben eröffnet.


März 2020

Was ist Digitalisierung?

Digitalisierung im engeren Sinne entspricht dem Übergang von der Schallplatte zur CD. Wie jeder weiß, hört sich das gleiche Musikstück von beiden Datenträgern ziemlich gleich an. Die Schallplattennadel nimmt ein analoges Signal aus der eingepressten Rille auf, das man sogar ohne elektrische Verstärkung hören kann, wenn man ganz nah mit dem Ohr drangeht. Elektrisch verstärkt erklingt das analoge Signal im Lautsprecher als Strom analoger Schallwellen, die unser Ohr direkt wahrnimmt. Liegt ein Staubkorn im Weg, dann erzeugt dessen Anprall am Tonabnehmer eben auch ein Signal und es knackt. Ist die Platte sehr zerkratzt oder liegt viel Staub darauf, spielt die Musik vor dem Knistern eines Lagerfeuers. Zur Digitalisierung der Musik wird im Studio der analoge Tonstrom aus dem Mikrophon in einem Analog-Digitalwandler in eine Kette aus Einsen und Nullen umgewandelt, dann auf CD gebrannt, verkauft. Beim Abspielen werden die Einsen und Nullen von einem Laserstrahl ausgelesen, in einem Digital-Analogwandler wieder in ein analoges Stromsignal zurückverwandelt und als Schallwellen im Lautsprecher hörbar.

Die CD knackt nicht, entweder sie kann gelesen werden, dann gibt es Musik oder der Laser kann die Datenpakete, trotzt Fehlerkorrektur nicht von der CD ablesen, dann bleibt es still.

Digitalisierung meint nur die Umwandlung von analogen Informationen in digitales Datenformat.

Ist heute von Digitalisierung die Rede, dann konnotiert dies immer ein 6-stufiges System. Es ist meistens viel mehr gemeint, als eine analog-digital-Wandlung.

  • Stufe 1 Digitalisierung von Daten
  • Stufe 2 Vernetzung von Daten 
  • Stufe 3 Verarbeitung von Daten in Algorithmen
  • Stufe 4 Wertschöpfung aus der Verarbeitung von Daten 
  • Stufe 5 Soziale Integration von alternativen Deutungsmodellen neben dem Kausalprinzip
  • Stufe 6 Positive Wirkung auf das Leben der Menschen 

Vernetzung

Digitalisierung beginnt, wenn mit einer Tastatur ein Text in einen isolierten Computer getippt wird. Digitale Daten auf der Festplatte bleiben prinzipiell so privat wie meine Gedanken. Ich sorge mich nicht darum, ob jemand meine geheimen Gedanken erfahren könnte, solange ich sie nicht freiwillig selbst preisgebe. Jedenfalls solange ich nicht gefoltert werde.

Dies gilt auch für Stand-alone-Rechner. Aber das war vor 20 Jahren. Durch Internet und Updates erscheint vernetztes digitales Arbeiten inzwischen als alternativlos. Vielen Jüngeren erschließt sich der Nutzen eines nicht vernetzten Computers gar nicht mehr: Ohne Cloud, Chat, Internetrecherche, Messenger, Streaming und Online-Kauf. Durch Vernetzung manifestiert sich technologisch das Problem der Bewahrung von Geheimnissen, welches vorher allenfalls theoretisch existierte. Einmal vernetzt wird es erforderlich, verschiedene Log-Ins und Passwörter an begrenzte Benutzerrechte zu koppeln, damit nicht jeder Nutzer auf alle Daten zugreifen kann. Gegen Datendiebe und Cyberkriminelle sollen Firewalls, Virusscanner, Verschlüsselung, Beobachtung der Systemaktivität, Zweifaktor-Authentifizierung und Daten-Back-Ups helfen. Vernetzung setzt digitalisierte Daten illegalen Angriffen über Kabel und Funknetz aus. Die Abwendung von kriminellen Datenzugriffen erfordert heute einen hohen Aufwand. Eine Verdopplung der Verschlüsselungssicherheit erfordert in der Folge einen siebenfach schnelleren Prozessor, damit weiter flüssig gearbeitet werden kann. Die Sicherstellung der digitalen Identität, des Datenschutzes, der Datensicherheit – trotz Vernetzung – zwischen verschiedenen Computern mündet in völlig neue Fragestellungen. Zieht man den Netzwerkstecker, verschwinden alle diese Probleme praktisch augenblicklich. Wie vor 20 Jahren, bedrohen nun lediglich ein Wohnungseinbruch oder ein Brand die Daten auf diesem jetzt wieder alleinstehenden Computer.

Algorithmen

Neben den eigentlichen Daten, die auf die Digitalisierung von Gedanken zurückgehen, entstehen bei einer vernetzten Datennutzung Metadaten. Welchen Websites habe ich in welcher Suchmaschine, von welchem Endgerät aus, aufgesucht; welche Websites habe ich wie lange angeschaut; welche Waren habe ich, zu welchem Preis, bei welchem Händler bestellt; habe ich sie wieder zurückgeschickt? Das Mobiltelefon sendet eine GPS-Spur an die Routenplaner-App, der Bewegungssensor zählt meine Schritte und die Pulsuhr zeichnet meine Herzfrequenz auf und schickt sie an die Gesundheits-App. Durch die enorme Rechnerleistung und automatisierte Algorithmen kann aus Daten und Metadaten ziemlich eindeutig und fast in Echtzeit das Leben eines Menschen rekonstruiert werden. Wenn ein auf einen männlichen Kundennamen registriertes Mobiltelefon, in Köln in der Hornstraße vom GPS geortet wird und kurze Zeit später die Pulsuhr einen ungewöhnlich starken Herzfrequenzanstieg detektiert, dann bedarf es nur wenig Fantasie, was der Handyträger da gerade gemacht hat. Wenn vorher um die Ecken, noch schnell die Bankkarte durch den Geldautomaten gezogen wurde, um 100 Euro Bargeld abzuheben, bleibt nur noch sehr wenig Spielraum, wer wann warum in der Hornstraße in Köln war. Dazu braucht es dann keine Kameras mit Gesichtserkennung mehr. Ich bin mir nicht sicher, ob der analoge Aushilfsvertrag auf Papier, über die Treppenhauseinigung, diesen Herrn vor der wahrscheinlichsten Interpretation des Algorithmus bewahrt.  

Wertschöpfung

Die EU-Kommission hat sich 2015 festgelegt: Datennutzung soll Treiber der Wirtschaft werden, ein europäischer Binnendatenmarkt soll entstehen und Digitalisierung soll der Stabilisierung der Wachstumsökonomie dienen. Deshalb wird aktuell ökonomiedominierte Digitalisierung als alternativloses Allheilmittel angesehen. Über die Regulation hat man sich keine Gedanken gemacht. Es ist ein bisschen wie Goldsuchen in Klondyk war. Der Politik ist klar, dass es vor Ort Konflikte geben wird, wichtiger ist aber die Wertschöpfung aus dem Nichts. Da machen die Verantwortlichen auch schon mal die Augen zu und sehen die Lokalbehörden in der Verantwortung, auch wenn bekannt ist, dass der Sheriff die Sache nicht im Griff hat.

Rechtsstaatlichkeit unter Diggern ist genauso theoretisch wie gegenwärtig das Datengeheimnis. Es kann allenfalls von einem relativen Datengeheimnis gesprochen werden. Jeder der seine Daten vernetzt, kann lediglich abhängig vom Aufwand die Wahrscheinlichkeit für ein ungewolltes Öffentlichwerden von Daten und Geheimnissen, verringern. Absoluten Schutz, wie beim Stand-Alone-Rechner, ist in unerreichbare Ferne gerückt. Daten- und Metadaten-Makler nehmen durch Wertschöpfungsketten direkt Einfluss auf das Leben der Menschen. Die zielgruppengerechte Werbung auf dem Mobiltelefon dürfte für unseren Besucher der Hornstraße noch das geringste Problem darstellen. Gelangen seine Daten irgendwie zu einem Versicherungsunternehmen, dann wird die Lebensversicherung, wie bei einem Kredit und schlechtem Schufa-Score, teurer. Natürlich könnte man formulieren, digitales Tracking begünstige durch die Vermeidung von unerwünschtem Verhalten, gesundheitsförderliches Verhalten. Aber das ändert nichts daran, dass bis hierher durch Digitalisierung, d.h. Digitalisierung von Daten, Vernetzung von Daten, algorithmische Verarbeitung von Daten und Metadaten, sowie der Wertschöpfung Freiheit im Leben der Menschen weniger wird.

Konkurrenz für das Kausalprinzip

Zwischen Eingabe- und Ausgabedaten besteht nach der Verarbeitung von Daten, durch einen Algorithmus, keine Ursache-Wirkungs-Beziehung mehr. Das ist zwar ein relativ hoher Preis für Digitalisierung, spricht aber nicht grundsätzlich gegen Digitalisierung. Die Evolution des menschlichen Gehirns erforderte ebenfalls einen enormen Aufwand. Andere Arten haben ihren Fortbestand und das Überleben des Individuums auch mit deutlich weniger Aufwand als der Mensch hinbekommen. In seiner Bedeutung dominierte das Kausalprinzip die analoge Lebenswirklichkeit der Nachkriegszeit bis zum Millennium alternativlos, so wie die Grundrechenarten und die Gesetze der formalen Logik. Das wird für die Wissenschaften und das Ingenieurswesen auch so bleiben. Die Digitalisierung zwingt bei Fragen der Verteilung und der Nutzung von Ressourcen allerdings unabweisbar zu der Einsicht, dass auch ohne das Kausalprinzip elementare Einsichten gewonnen werden können. Schon heute findet die wissenschaftliche Mathematisierung bio-psycho-sozialer Zusammenhänge über Wahrscheinlichkeiten statt. Ausgerechnet wird nicht ob, sondern wie wahrscheinlich in einem gegebenen, bio-psycho-sozialen Kontext eine Ursache eine bestimmte Wirkung hervorruft. Der Unterschied zwischen Wahrscheinlichkeit und Kausalität wurde in der Vergangenheit sagen wir mal – der Einfachheit halber – übersehen. Die bio-psycho-soziale Sphäre beschreibt konkret die alltägliche zivilgesellschaftliche Konfliktarena. Mit der Digitalisierung bildet sich der endgültige Abschied von der Ursache-Wirkungs-Beziehung konzeptionell für die gesellschaftlichen Fragen ab. Gerade für Konfliktbearbeitung, die auf Gewaltverzicht fokussiert, eröffnet dieser Weg allerdings sehr attraktive Perspektiven. Die beiden sehr relevanten Lebensbereiche, Religion und Politik, kamen auch bisher schon mehr oder weniger gut, ohne Kausalität aus. Weil meist ordnungsstiftend, reklamierte bisher niemand dieses Kuriosum. Nicht-kausale Politik allein, führt allerdings nicht zwangsläufig zu gewaltfreien Lösungen, wie die Strategie des nordamerikanischen Präsidenten deutlich zeigt. Zukunftsfähigkeit kennzeichnet Lösungen bei denen durch Verzicht auf Durchsetzungsmacht und fokussieren auf Kompromisse und Kooperation, der Konfliktaufwand verringert werden kann. Die traurige Endstrecke der gegenwärtigen Strategie des Kampfs um die Durchsetzung der eigener Rechtspositionen, stellen die nationalen Rüstungsbudgets da.

Der digitalisierungsbedingten Bedeutungsverlust der Ursache-Wirkungs-Beziehung betrifft vor allem die Disziplinen, deren Konzepte die Verteilung von Ressourcen und Nutzungsrechten regeln, also die Ökonomie und die Rechtsprechung. Einerseits präzisiert Digitalisierung durch granulare Daten die Kenntnis und unser Wissen in einer Weise, dass allein dadurch viele ökonomische Theorien falsifiziert werden. Quantitativ-kausale Konzepte wie Markt und Wachstum verlieren gleichzeitig an Bedeutung, weil digitalisierte Ökonomie auf Verteilungsgerechtigkeit und Konfliktaufwand fokussieren wird. Ohne Verteilungsgerechtigkeit und ohne Begrenzung des Konfliktaufwands, nehmen ökonomische Konzepte – wie heute! – den vorzeitig-vermeidbaren Tod von benachteiligten Menschen in Kauf. Warum sollen Systemteilnehmer, die darum wissen, auf Gewalt zur Verteidigung ihres Lebens verzichten? In einer digitalen Ökonomie, in der die Endlichkeit von Ressourcen nicht ignoriert werden kann, stellt der Energieaufwand für die Moderation von Konflikten zwischen redlichen, opportunistischen und unredlichen Teilnehmern, die wesentliche, ja die einzige, Stellgröße da. Nur über die Neufassung von sozialen Übereinkünften, die den digitalen Gegebenheiten Rechnung tragen, gelingt es rechtsfreie Räume, die gegenwärtig nur über juristische Hilfskonstruktionen unbefriedigend aufgelöst werden, konzeptionell zu eliminieren.

Der Bedeutungsverlust des Kausalzusammenhangs mündet dabei nicht in eine völlig veränderte Wahrnehmung der Welt. Nicht das Bild der Welt, sondern nur das Erklärungsmodell verändert sich dramatisch. Natürlich kann eine Menge Empirie-Kitt entsorgt werden. Nach dem Übergang vom ptolemäischen zum kopernikanischen Weltbild, waren die vorher umständlichen Erklärungskonzepte für die Epizykel der Planetenbahnen nicht mehr erforderlich. Obwohl in der Folge anders erklärt, blieb der Lauf der Planeten einfach gleich. Auch für am Nachthimmel navigierende Seeleute änderte sich nichts. Lediglich die Experten erfreuten sich an der Bereinigung winziger Anomalien, für die es vorher keine Erklärung gegeben hatte. Im Alltag also keine große Sache, allerdings eröffnete sich nur durch diesen Wechsel des Bezugssystems, der Weg in die moderne Kosmologie. Eine in der geozentrischen Weltsicht verhaftende Wissenschaft, steckt in einer konzeptionellen Sackgasse. Entscheidend für die Menschen – heute, wie auch seinerzeit – ist bzw. war nicht der kosmologische oder digitale Erkenntnisgewinn, auch wenn dieser gerne bestaunt wird. Die treibende Kraft der Digitalisierung leitet sich aus der Transformation sozialer Übereinkünfte ab. Die konzeptionelle Verlagerung der Erde aus dem Zentrum des Universums an dessen Rand, beeinflusste vor allem die soziale Semantik über die Selbstwahrnehmung. Feudalwesen, absolutistische Monarchie und Sklaverei konnten plötzlich nicht mehr widerspruchsfrei gedachte werden. Neben dem vorher im feudalen Alltagsleben, alles erklärenden Fundament „von Gottes Gnaden“, drängte sich die Ursache-Wirkungs-Beziehung, als alternative soziale Übereinkunft, auf den Plan. Bis heute konkurrierten diese beiden Konzepte als konzeptionelle Basis menschlicher Kommunikation. Gegenwärtig beschränkte sich die theologische Deutungshoheit auf spirituelle Fragen, für die das Kausalprinzip keine Antworten parat hält. Überall sonst, bei der Erklärung von Naturphänomenen, aber auch bei solchen zur Verteilungsgerechtigkeit, verlor die theologische Legitimation von „Gottes Gnaden“ jede Bedeutung. Newton, der Hohepriester des Kausalprinzips, predigte und ersetzte den alten Glauben durch seine göttliche Mathematik. Heute stehen wir abermals an der Schwelle eines solchen Überganges. Das mathematische Kausalprinzip determiniert weiter die Physik und die Chemie der Ingenieure. Bei der Physik und der Chemie des ganz Kleinen und des ganz Großen, bei bio-psycho-sozialen Phänomenen und eben auch bei der Digitalisierung lockert sich der Kausalzusammenhang zur Wahrscheinlichkeit auf. Neben der spirituellen Nichtkausalität und der physisch-mathematischen Kausalprinzip, induziert die Digitalisierung ein neues, drittes Erklärungskonzept. Wie das Kausalprinzip das Konzept von „Gottes-Gnaden“, in fast allen Lebensbereichen ersetzte, so büßt gegenwärtig das Kausalprinzip seine Deutungshoheit für die meisten Alltagsaspekte ein. Heute – genau wie am Ende des Feudalsystems – sind die Auswirkungen der neuen Weltsicht auf die Legitimationen von sozialen Übereinkünften die entscheidende Größe. Dagegen nehmen sich die tatsächlichen technologischen Neuerungen – damals, wie heute – als hübsche Spielzeuge aus. 

Für alle Menschen

Von mehr Freiheit für die Menschen kann nur ausgegangen werden, wenn Digitalisierung individuelle Risiken vermindert, ohne auf inakzeptable Weise Freiheit zu beschränken oder gar vorzeitigen Tod in Kauf zu nehmen. Der Tod als ein Zustand „ohne Information“, lässt sich digital prinzipiell nicht abbilden. Kein Strom besitzt die Bedeutung Null! In einer digitalisierten Welt stellt der Tod keine Option da! Die einzige digitale Entsprechung von „Tod“ bestünde im definitiven Ziehen aller Stecker. Der letzte Schritt zur sozialen Implementierung von Digitalisierung setzt eine gegenwärtig noch ausstehende gesellschaftliche Entwicklung voraus. Nur wenn Wissen, welches Dritte über meine Person haben, meine Freiheit nicht vermindert, meine Chancen nicht verringert, mein Leben nicht verkürzt oder negativ beeinflusst, dann kann das Ziel erreicht werden, welches heute für Digitalisierung formuliert wird: Also die Digitalisierung von Daten, Vernetzung von Daten, algorithmische Verarbeitung von Daten und Metadaten, die Wertschöpfung aus dieser Datenverarbeitung und der Verlust der Kommunikationsbasis des Kausalprinzips, sollen das Leben der Menschen positiv verändern. Was das meint, wird ausgerechnet am Leben und vor allem dem Tod von Alan Turing deutlich. Das ungewollte Öffentlichwerden seiner sexuellen Orientierung kostete Alan Turing seinerzeit das Leben. Solange er seine Homosexualität im Geheimen lebte, stellt das für ihn und für die anderen kein Problem dar. Der Geheimdienst kam aber dahinter, und fortan galt er als behandlungsbedürftig krank. Die damalige Gesellschaft fürchtete Homosexualität, wie eine ansteckende Erkrankung, die die eigenen Kinder hätte befallen können. Sieht man Homosexualität als gemeingefährliche Krankheit, dann ist es folgerichtig, diese zum Schutz der Allgemeinheit mit allen Mitteln zu behandeln. Die sich aus dieser Logik ableitende Zwangstherapie mit Hormonen versetzte Alan Turing in eine schwere Depression. Ob er durch das Dazutun des Geheimdienstes oder durch seine eigene Hand starb, verliert hier bereits jede Bedeutung. Entscheidend ist, dass die Todesursache von Alan Turing allein in der öffentlich gewordenen Information, um seine sexuelle Orientierung zu sehen ist. In einer digitalisierten Welt gibt es prinzipiell keine sicheren Geheimnisse mehr. Bei wirklich wichtigen analogen Angelegenheiten gilt das Geheimnis als Schutzkonzept bereits seit Langem überholt. An die Stelle des Geheimnisses trat bei technologischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen das angemeldete Patente bzw. der veröffentlichte Fachaufsatz. Öffentlichkeit schützt die Urheberschaft und stellt gleichzeitig Erkenntnisgewinn allen Interessenten zur Verfügung. Natürlich spricht dieses Verfahren dem Erfinder bzw. dem Erstbeschreiber besondere Rechte zu und moderiert im Konfliktfall nach einem allgemein akzeptierten Verfahren. Deshalb erscheint es unmöglich und absurd, mit der Idee, es könne doch Geheimnisse geben, ein gelingendes Leben in einer digitalisierten Welt führen zu wollen. Dies gilt für jede Lebensäußerung, die sozial bewertet werden könnte. Folglich können Menschen vor negativen Effekten aus Digitalisierung, nicht über verstärkte Bemühungen zur Wahrung von Geheimnissen geschützt werden. Digitalisierung kann nur dann positive Effekte realisieren, wenn sich die soziale Übereinkunft über den Umgang mit bekanntgewordenen Persönlichkeitsdaten in einer Weise verändert, der uns beim Umgang mit der sexuellen Orientierung von Menschen bereits gelungen ist. Das Wissen um die sexuelle Orientierung einer Person verändert gegenwärtig deren Leben, im Kreise aufgeklärter Zeitgenossen nicht mehr. Das ist gut so. Das Geheimnis hat für die Homosexualität nie wirklich funktioniert. Damals wie heute, ist das Geheimnis ein perfides Instrument, um missliebige Menschen auszugrenzen und sie im Bedarfsfall jederzeit aburteilen zu lassen. Außerdem stellt das Geheimnis ein Einfallstor für Ängste und Neurosen da! Für Persönlichkeits- und Gesundheitsdaten erreicht unsere Gesellschaft gegenwärtig keine soziale Vertrauensbasis, wie die, die heute bei der sexuellen Orientierung als selbstverständlich gilt. Bereits der Versuch, sich über Ausgrenzung von LSBTTQ Vorteile zu verschaffen, diskreditiert den Intoleranten so sehr, dass er zukünftig als akzeptabler, sozialer Verhandlungspartner ausfällt. Betrachtet man Gesundheitsdaten und andere Persönlichkeitsdaten, als Teil der Persönlichkeit, so wie wir es heute zwanglos mit der sexuellen Orientierung tun, dann kann keine Rechtfertigung gesehen werden, warum Digitalisierung den Lebenslauf (beim Zugang zu Versicherungen, über Scoring, usw.) von Menschen negativ verändert. Die Anpassung an den Umgang mit dem Wissen um die sexuelle Orientierung erscheint als der einzige gangbare Weg, damit Digitalisierung Gesundheit befördert und das Leben der Menschen besser macht.

Wenn Sie also jemanden von den Segnungen der Digitalisierung im Zusammenhang mit Gesundheit, besserem Leben und Fortschritt sprechen hören, dann hinterfragen Sie bitte immer, ob alle diese Facetten von Digitalisierung mitgedacht wurden. In der Wissenschaft enden Überlegungen meist auf Stufe drei, in der Industrie auf Stufe vier! Digitalisierung, die einerseits das Kausalprinzip in der sozialen Konfliktarena für überholt erklärt und gleichzeitig daraus Legitimation für größere soziale Ungleichheit und geringere Verteilungsgerechtigkeit ableitet, predigt inquisitorische Hexenverbrennung und ewige Verdammnis über alle Ungläubigen. Unter diesen Umständen stellt Digitalisierung einen Rückfall in die Zeit vor der Aufklärung da. Freilich mit dem Unterschied, dass sich die mittelalterlichen Christen damit trösten konnten, dass Gott zwar alles sah, aber auch manches vergab. Eine vergleichbare Milde darf von einem System alttestamentarischer Digitalisierung nicht erwartet werden.

Für Menschen und Gesellschaften stellt Digitalisierung ein großes Wagnis da, welches als gelungen gelten kann, wenn die Bedeutung des Kausalprinzips erfolgreich transformiert werden konnte. Ich plädiere deshalb für eine aufgeklärte Alternative zum Datenfeudalismus Chinas und dem Datenkapitalismus der Vereinigten Staaten. Einen Wettkampf mit diesen Staaten halte ich für sinn- und aussichtslos. Geopolitisch geht natürlich nicht darum, was wir hier in Europa denken und wie wir hier lokal handeln. Es kommt darauf an, ob das digi-soziale Modell Europas eine Strahlkraft entwickelt, die auch in Afrika, dem übrigen Asien, Mittel- und Südamerika, Indien, Japan und Ozeanien wahrgenommen wird. Dann bleibt abzuwarten, ob der stete (Wett-)Kampf um Überleben und Vorherrschaft auf Dauer attraktiver bleibt, als die gewalt- und konfliktreduzierte Zivilgesellschaft, die die Schonung der Ressourcen an die Stelle des Strebens nach stetem Wachstum stellt. In einer ausgewogenen Balance zwischen spirituellen, mathematisch-kausalen und digi-sozialen Handlungsmotivationen kann es gelingen, den Tod Dritter als Preis zum Gelingen des eigenen Lebens, zu eliminieren. Der dazu erforderliche Verzicht an der extensiven Akkumulation von Ressourcen und Nutzungsrechten, wird ausgeglichen über das gegenseitige Versprechen der Gewährung des Menschenrechts.


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Posted by Stefan Streit

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